Elfriede Riemenschneider pflegt ihren Ehemann zu Hause. Eine Aufgabe, die sie immer wieder an ihre Grenzen bringt

Wann kann man im Alter von einem zufriedenen, erfüllten Eheleben sprechen? Elfriede Riemenschneider muss einen Moment überlegen, bis sie diese Frage beantwortet: „So jedenfalls habe ich mir das Alter nicht vorgestellt“, sagt die 83-Jährige bestimmt. Sie ist schlank, geistig und körperlich fit, malt wunderschöne Bilder und liebt es, in die Natur zu gehen. Sie ist eigentlich ein abenteuerlustiger Mensch, mit 65 ist sie noch Fallschirm gesprungen und sie würde es noch heute, wenn Hans, ihr Mann, fitter wäre.

Der 86-Jährige ist das Gegenteil von ihr: Er kann kaum noch laufen, ist dement und hasst es, sich aus der 60-Quadratmeter-Wohnung in Eidelstedt hinauszubewegen. Und noch mehr hasst er es, wenn Elfriede nicht in seiner unmittelbaren Nähe ist. „Dann schreit er so lange, bis ich zu ihm komme, auch wenn ich nur im Zimmer nebenan bin“, sagt sie und schaut zu ihrem Mann, der im Sessel hinter ihr sitzt. Der Blick, den sie tauschen, ist liebevoll. Er sagt: „Sie ist die beste Ehefrau, die man sich vorstellen kann. Sie hat immer gut für mich gesorgt.“

Elfriede Riemenschneider bei einem Fallschirm Tandemsprung
Elfriede Riemenschneider bei einem Fallschirm Tandemsprung © Andreas Laible | Andreas Laible

Es sind diese klaren Momente , die Elfriede zwischendurch aufatmen lassen, doch dann kommen wieder Phasen, in denen ihr Mann ihr nachts keine Ruhe lässt. Besonders schlimm war es in den vergangenen zwei Jahren, als Hans nach einem Krankenhausaufenthalt völlig verwirrt nach Hause kam. Elfriede hat in diesen beiden Jahren ihre Verzweiflung und Ängste in einem Tagebuch festgehalten. „Das kann ich nur jedem Angehörigen eines Demenzerkrankten raten. Es ist sehr befreiend, nur so habe ich die schrecklichen Tage überhaupt ausgehalten, indem ich mir heulend und lachend die Sorgen von der Seele geschrieben habe“, sagt sie.

Wie konnte ich nur so müde sein? Ja, der Tag war lang und die Nacht noch länger. Ich hatte wie immer meinen Mann versorgt, er kann ja selber nichts mehr machen. Immer wieder die nasse Hose wechseln, das Essen, den Einkauf, die Wohnung reinigen. Dazu die vielen Arztbesuche, auf den Pflegedienst warten. Das alles Tag für Tag, kein Wunder, dass sich jetzt die Erschöpfung breitmacht. Da muss ich durch, wer soll es sonst machen?

aus Elfriedes Tagebuch, 2015

Hans und Elfriede lernen sich 1955 bei einem Ostpreußen-Treffen an der Elbchaussee kennen. Sie ist 21 Jahre alt, stammt aus Masuren, die Familie besaß dort einen Bauernhof – ihr Erbe, hätte sie nicht 1945 über das Haff fliehen müssen. Mit ihrem 14 Jahre alten Bruder, den sie seit dem frühen Tod der Mutter versorgt, wohnt sie in einer Behelfshütte in Osdorf.

Hans ist damals 24 Jahre alt, ein Handwerkersohn aus Harburg, der Kfz-Schlosser gelernt hat. „Es war Liebe auf den ersten Blick. Er sah gut aus und sprach mich an, das fand ich toll“, erinnert sich Elfriede. Sie hat keinen Beruf gelernt, doch sie ist patent und verkauft zunächst Schuhe, später arbeitet sie in einer Brillenfabrik. Nach der Hochzeit 1956 zieht er zu ihr, kurz darauf kommt Tochter Karin zur Welt und sie erhalten eine Zweieinhalbzimmerwohnung in Lurup. Elfriede ist zufrieden.

Eigentlich komme ich gut mit meinem Alter zurecht. Die Falten im Gesicht – was soll’s? Die Gesundheit, alles paletti! Nur meine Nerven liegen immer blank und die Nächte mit der Grübelei sind nicht schön ... Hans schläft die meiste Zeit im Sessel. Ich fühle mich so allein ... Was ganz schlimm ist: Man muss sich nach und nach von geliebten Sachen trennen. Wir mussten in eine behindertengerechte Wohnung nach Eidelstedt ziehen, die keine Südlage hat. Auf dem Balkon gehen meine Blumen ein, hierher verirrt sich keine Biene. Es ist so, als hätte das Leben aufgehört.
aus dem Tagebuch, 2015

Die Familie hat bald ein kleines Auto, mit dem sie in den Urlaub zunächst nach Bayern, dann nach Griechenland fährt. „Reisen war unsere ganz große Leidenschaft“, schwärmt die alte Dame. Sie ist die Unternehmungslustige, die später sogar Urlaube auf die Malediven und bis nach Australien organisiert. „Alles Sonderangebote, wir haben ganz primitiv gewohnt, aber es war herrlich.“ Hans ist ein zurückhaltender Mensch. Sie liebt die Sicherheit, die er bietet, seine Verlässlichkeit und Ehrlichkeit. „Ich hatte zuvor so viele Jahre hinter mir, in denen ich völlig auf mich gestellt war, da war es schön, jemanden zum Anlehnen zu haben“, sagt sie.

Gestern steigerte es sich andauernd. Hans forderte mich tagsüber jede Stunde auf, ihm mit seinem Rollator zur Toilette zu helfen. Dann abends. Wir waren beide eingeschlafen. Hans rief nach mir. Gerade eine Stunde Schlaf hatte ich. Ich sagte, er solle in die Windelhose pinkeln. Er hat so einen schweren Körper. Nein, er wollte zur Toilette. Noch einmal die Prozedur, dann nahm ich mein Bettzeug und ging ins Wohnzimmer. Er heulte wie ein Hund und rief nach mir. Ich zitterte am ganzen Körper, heulte und schluchzte. Ich wollte nur noch schlafen. Er rief nach mir. Es ging nicht mehr. Es war wie ein Weltuntergang, ich war reif für die Klapsmühle.

aus dem Tagebuch, 2015

Die beiden pachten einen Schrebergarten im Rispenweg – 24 Jahre lang ist das ihr Paradies. Nachbarn kommen vorbei, das Paar ist gesellig. „Vor drei oder vier Jahren fing es an, dass Hans keine fremden Menschen um sich herum mehr ertragen konnte. Nur mich. Er schrie unsere Freunde an, war aggressiv. Sie kamen noch ein-, zweimal zu Besuch, dann blieben sie weg“, sagt Elfriede und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

Jemand hat mal gesagt, das Alter ist nichts für Feiglinge. Das stimmt, ich merke es an Hans und mir. Es kommt mir so vor wie langsames Sterben. Immer sehe ich nur den kranken Mann, der körperlich und seelisch verfällt. Niemand besucht uns mehr. Dann die pflegerische Arbeit, die mir wenig Zeit lässt, mein Hobby, das Malen, zu pflegen. So hatte ich mir das Alter nie vorgestellt. Ob es anderen alten Ehepaaren genauso geht wie uns?

aus dem Tagebuch, 2016

Mit 51 Jahren wird Hans frühverrentet. Seine Hüfte ist kaputt, er wird an beiden Seiten operiert, ist seither gehbehindert. Elfriede arbeitet, bis sie 60 ist, bei einem Juwelier, reiht Perlenketten auf. „Als Hans tüdelig wurde, musste ich ihm versprechen, dass ich ihn niemals in ein Heim geben werde, sondern zu Hause pflege“, sagt sie. Einmal gibt sie ihn für einen Monat in eine Kurzzeitpflege – Erholung für sie, die Hölle für ihn.

Immer wenn ich ihn besuche, sind seine Augen rot verweint, er will nach Hause. Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen. Er beschimpft mich, ich sei heimtückisch, ihn einfach ins Gefängnis zu bringen. Ich bin das erste Mal in meinem Leben so lange von ihm getrennt. Ich empfinde keine Einsamkeit, im Gegenteil, es ist eine Ruhe, die mir guttut. Ich bin frei, nach langen Jahren habe ich keine Verantwortung für einen kranken Menschen zu tragen. Ich mache Spaziergänge und lass die Seele baumeln. Ich merke erst jetzt, wie es ist, ein normales Leben zu führen.

aus dem Tagebuch, 2016


Ein Neurologe hat Hans neue Medikamente verordnet. Auch tagsüber ist er ruhiger. Dennoch kann Elfriede ihn nie länger als 45 Minuten alleine lassen. Sie will Hans so lange pflegen, bis „er mich nicht mehr erkennt, dann werde ich unser gemeinsames Leben verändern“. Vorher nicht.