Beim Weltgesundheitstag ging es um das Thema Depression im Alter. Geschätzt leidet jeder Vierte über 70 daran - oft unerkannt

Es war nur ein leichter Schlaganfall. Den hatte Ruth Schmidt (Name geändert) bald überwunden. Körperlich ging es der 79-Jährigen nach der Behandlung in der Geriatrischen Klinik des Albertinen-Hauses wieder gut. Doch zurück blieb eine unbestimmte Angst. Ruth Schmidt machte sich zudem Sorgen, dass sie anderen zur Last fallen würde. Oberarzt Dr. Reinhard Lindner, Spezialist für Alterspsychotherapie, diagnostizierte bei der Patientin eine leichte Depression. Er begann mit der Seniorin deren Lebensgeschichte bis hin zur Kindheit in Ostpreußen und der Flucht bei Kriegsende aufzuarbeiten.

„Wie häufig bei hochbetagten Patienten war auch hier der Körper die ,Eintrittskarte‘, um ihren psychischen Problemen auf die Spur zu kommen“, sagt Lindner. „Wir erleben derzeit eine besonders verletzliche Generation alter Menschen, die traumatische Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg durch Schutzräume wie eine gute Partnerschaft oder beruflichen Erfolg zu kompensieren verstand.“ Wenn dieser Schutz durch den Tod des Partners jedoch wegbreche und sich zudem negative Begleiterscheinungen des Alters wie der Verlust der Mobilität und die damit einhergehende Einsamkeit bemerkbar machten, könne das zu großem persönlichen Leiden führen.

Die angepasste Kriegsgeneration der heute über 75-Jährigen hat ihre privaten Probleme zeitlebens mit sich allein ausgemacht. Der „Gang zum Psychiater“, so Lindner, sei für sie häufig mit Scham besetzt. Zudem würden die Depressionen oftmals von einer oder sogar mehreren chronischen Krankheiten überlagert. Oder sie versteckten sich bei alten Menschen hinter einer Vielzahl unspezifischer körperlicher Beschwerden wie Kopf- oder Rückenschmerzen, Magen-Darm-Problemen, Schwindel, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen. „Viele dieser Probleme werden genauso wie eine melancholische Grundstimmung oder Rückzugstendenzen mit dem Alter erklärt. Aber spätestens wenn ein alter Mensch nicht mehr aus dem Haus geht, den Sinn seines Lebens infrage stellt oder sagt, dass er am liebsten tot wäre, sollten Angehörige hellhörig werden“, sagt Lindner, der früher das UKE-Therapiezentrum für Suizidgefährdete geleitet hat. Zur Fachtagung anlässlich des Weltgesundheitstages am 7. April unter dem Motto „Depressionen – sprechen wir’s an“ in Berlin steuerte der Mediziner den Vortrag „Altersspezifische Aspekte der Suizidalität“ bei. „Suizidalität trägt die Handschrift des Alters“, erläutert er. „Jede zweite Frau, die sich in Deutschland umbringt, ist über 60 Jahre alt. Und die höchste Suizidrate ist laut Statistik in der Gruppe der alten, allein lebenden Männer mit Alkoholproblemen zu finden.“

Angehörige sollten Betroffene zum Arzt begleiten

Angehörige sollten mit Betroffenen das Gespräch suchen und sie gegebenenfalls zum Hausarzt begleiten, der eine Empfehlung für einen Psychotherapeuten, Psychiater oder Nervenarzt geben kann, rät Lindner. Für die Diagnostik wurde speziell für ältere Menschen der Fragebogen „Geriatrische Depressionsskala“ entwickelt. Manche depressiven Störungen weisen durch Symptome wie Sprech- oder Denkblockaden auch Ähnlichkeiten zur Demenz auf. Andererseits reagieren viele demenziell Erkrankten im Anfangsstadium mit depressivem Empfinden auf den absehbaren Verlust ihrer Fähigkeiten. Bei älteren Patienten treten laut Statistik häufiger leichte bis mittelschwere Depressionen auf, für die eine ambulante psychotherapeutische Begleitung mit wöchentlichen Terminen ausreichend sein kann. Bei manchen mittelschweren bis hin zu schweren Erkrankungen hat sich auch bei Senioren die Gabe von Antidepressiva in Verbindung mit einer Psychotherapie bewährt. Neben einem stationären Aufenthalt bieten einige Krankenhäuser mittlerweile auch eine teilstationäre Behandlung in Tageskliniken speziell für Ältere an.

Die eigene Biografie ist oft Thema bei der Therapie

„Bei 80 Prozent der Patienten unserer Tagesklinik spielen Depressionen eine Rolle“, erklärt Professor Dr. Hinnerk Becker, Chefarzt im Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie im Albertinen-Krankenhaus, das seit drei Jahren eine „Psychiatrische Tagesklinik für Ältere“ im Albertinen-Haus betreibt. In kleinen Gruppen bis zu elf Personen finden Patienten hier ein vielfältiges und abgestimmtes therapeutisches Angebot, das ihnen eine Tagesstruktur gibt. „In den vertrauten Gruppen- und in Einzelgesprächen wird anhand aktueller Konflikte gemeinsam reflektiert, wie ein besserer Umgang damit im Hier und Jetzt gefunden werden kann. Biografische Aspekte haben in den Gesprächen ihren Platz und sind oft auch für das Verständnis der Hintergründe der Depression für die Betroffenen hilfreich. Aber niemand muss befürchten, dass er hier zu einem Seelenstriptease vor anderen genötigt wird“, sagt Becker.

Die Patienten im Alter ab 55 Jahren müssen ausreichend mobil und kognitiv in der Lage sein, am Gruppengeschehen teilzunehmen. Über sechs bis acht Wochen wird eine individuelle Strategie entwickelt. „Im Mittelpunkt steht dabei stets, die Akzeptanz, Eigeninitiative und Selbsthilfekräfte der Betroffenen zu stärken, um ihnen mehr Lebenszufriedenheit zu ermöglichen“, erläutert Professor Becker.

Dr. Lindner hat in seinen Begleitungen von Hochbetagten der Kriegsgeneration oft erlebt, dass sie Kraft aus der Anerkennung ihres schweren Schicksals ziehen können. Auch für seine Schlaganfall-Patientin Ruth Schmidt führte die Würdigung ihrer Lebensleistung zu einer Entwicklung. Insgesamt 80 Therapiestunden hat sie mitgemacht. „Zwischen uns kamen ihre Ängste während der Flucht genauso wie ihre ohnmächtige Wut über den Verlust des Vaters, der in russischer Gefangenschaft verhungert ist, erstmals zur Sprache“, erzählt er. „Sie hat diese Emotionen durchlebt und gelernt, sie einzuordnen. Zu erfahren, dass sie auch für schlechte Gefühle nicht verurteilt wird, hat Schuldgefühle von ihr nehmen können.“

Hier gibt es Hilfe

Psychiatrische Tagesklinik für Ältere, Albertinen-Haus, Sellhopsweg 18–22, T. 55 81 18 17, www.albertinen-haus.de

UKE/ Spezialambulanz für
Depression , Martinistr. 52,
T. 741 05 32 10, www.uke.de

Asklepios Klinik, Tagesklinik Harburg – Schwerpunkt Altersmedizin, Eißendorfer Pferde­-
weg 52, T. 18 18 86 45 55,
www.asklepios.com

Schön Klinik Hamburg Eilbek – Spezialstation für ältere Patienten mit Depressionen,
Dehnhaide 120, T. 20 92 33 11

Tagesklinik für Ältere, Weidestraße 122b, T. 69 64 60 22 00, www.schoen-kliniken.de