Essstörungen gelten als typisch weibliche Krankheit. Aber auch Männer sind betroffen. Die Organisation Smutje will ihnen nun verstärkt helfen

An diesem Morgen ist Christian Maier (Name geändert) 28 Kilometer gelaufen. Gefrühstückt hat er fettarmen Joghurt mit acht Löffeln Haferflocken. Acht Löffel. Nicht sieben, nicht neun. Acht. Für Christian Maier ist das sehr wichtig. Er isst fast nur Brot, Eier, Milchprodukte und Haferflocken, alles exakt austariert, nur an Wochenenden gibt es 200 Gramm Nudeln mit etwas Öl. Der 43-Jährige hat eine Essstörung, was eigentlich als typisch weibliche Krankheit gilt.

Dabei leiden auch Männer an Krankheiten wie Magersucht, Bulimie oder unkontrollierten Essattacken, ihre Zahl wird in Deutschland auf 100.000 geschätzt. Die Dunkelziffer ist hoch, viele Männer schämen sich, ihr Problem zuzugeben.

Bei Christian Maier begann die Krankheit vor elf Jahren, als er wegen einer Verletzung seine Squash-Karriere beenden musste. Maier stieg aufs Laufen um, der Marathon wurde zur Sucht, in der Spitze lief er die 42,195 Kilometer 30-mal im Jahr. Einmal hatte er während eines Laufs Durchfall, ins Ziel quälte er sich dennoch.

Mehr und mehr wurden für den damals 80 Kilo schweren Maier die ausgezehrten kenianischen Weltklasse-Läufer ein Schönheitsideal, mit aller Macht wollte er jedes Gramm Fett an seinem Körper abtrainieren. Manisch blickte er jeden Morgen auf seine Waage, kaufte sich sogar ein baugleiches Modell. Die neue Waage zeigte ein paar Gramm weniger an, nur die behielt er. Und war glücklich, als diese irgendwann 63,4 Kilo anzeigte.

Maiers Weg in die Essstörung ist typisch für Männer. Frauen erkranken viel früher, mitunter hungern sich schon Zehnjährige auf die Traumfigur von Stars aus YouTube-Kanälen oder TV-Model-Wettbewerben herunter. Bei Männern ist es eher im Alter von 20 bis 30 Jahren der Wunsch nach einem extrem drahtigen, durchtrainierten Körper. Ihr Problem: Es gibt kaum eigene Therapieangebote für Männer – und in gemischten Gruppen kommen sie sich vor wie Exoten.

Auch Maier suchte zunächst vergebens nach Hilfsangeboten im Netz, wurde schließlich bei Smutje („Starthilfe für mutige Jugendliche mit Essstörungen“) fündig, obwohl er für diese Einrichtung eigentlich viel zu alt ist. Seit 1986 berät Smutje unter dem Dach der Brücke e. V. Jugendliche mit Essstörungen. Es war Maiers Glück, dass Smutje das eiserne Prinzip hat: Wir schicken keinen weg, der unsere Hilfe braucht. Smutje verwies ihn nach einer Beratung an einen spezialisierten Psychotherapeuten. Maier bekommt keine Medikamente, doch die Gespräche in Abstand von zumeist zehn Tagen helfen ihm sehr, sagt er. Rein äußerlich merkt man Maier die Krankheit nicht an. Er ist ein sportlicher, gut aussehender Typ. Maier gehört zu den Männern mit einer gemischten Essstörung. Er isst nur ganz wenige Produkte, schaut extrem auf die Kalorienwerte und fühlt sich immer als viel zu dick. Zwischendurch ereilen ihn Essattacken, bei denen er unkontrolliert vor allem Süßigkeiten in sich hineinstopft – gerade dann, wenn es in seinem Job im Einzelhandel stressig wird. Vor ein paar Tagen erst, sagt er, habe er binnen weniger Minuten zwei 300-Gramm-Tüten Weingummi regelrecht verschlungen. Maier ekelt dies an, schon der Kauf von Naschzeug ist ihm jedes Mal peinlich, verschämt legt er die Ware beim Discounter aufs Band.

Essstörungen machen einsam. Wer nur ganz wenige Produkte isst, kann das Essen in Geselligkeit nicht genießen. Auch Maier speist lieber allein. Große Büffetts, mächtige Portionen sind für ihn Symptome einer Überflussgesellschaft. „Ich bin ohnehin nicht der gesellige Typ“, sagt er über sich selbst. Auch sein Sport hat mit Gemeinschaftsgefühl nichts zu tun. Im Gegenteil: „Die Läuferinnen und Läufer, mit denen ich unterwegs bin, sind meist auch einsame Seelen wie ich. Viele leben wie ich allein nach einer gescheiterten Beziehung.“ Sein Vater habe immer gesagt, dass das Laufen für ihn eine Art Flucht sei: „Ich habe das immer abgestritten, aber vielleicht hat er doch recht.“

Einen ersten Sieg über seine Krankheit hat er gefeiert: Die Waage steht nur noch im Keller, er kennt nicht mal sein aktuelles Gewicht, aber er hat definitiv zugelegt. Allerdings quälen ihn nach wie vor Schlafstörungen und Essanfälle. Maier weiß, dass der Weg zu einem Leben mit gesundem Essverhalten weiter ist als jede Laufstrecke: „Das ist wie bei einem Alkoholiker, wo immer ein Rückfall droht. Der Unterschied ist jedoch, dass ich ja irgendetwas essen muss.“

Niemand kann das besser nachvollziehen als Christian Frommert (49). Der Journalist, einst Kommunikationschef des T-Mobile-Teams, heute Mediendirektor des Fußball-Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim, hat 2013 den berührenden Bestseller „Dann iss halt was!“ über seine Magersucht-Krankheit geschrieben. Frommert wog zeitweise bei einer Körpergröße von 1,84 Metern nur noch 39 Kilogramm und war von den Ärzten eigentlich schon abgeschrieben worden, ein Multiorganversagen drohte. Nach langer Therapie sagt er über sich selbst: „Mir geht es körperlich jetzt wieder gut.“ Aber nach wie vor braucht er das stundenlange Fahrradfahren auf dem Hometrainer im Morgengrauen, die genau gewogenen Essensportionen mit Gemüse, Obst, Magerquark oder Joghurt.

Zusammen mit Smutje überlegt er nun, wie man mit gemeinsamen Projekten und einer Patenschaft, die er übernehmen möchte, gerade Männern wie Maier mit Essstörungen in Hamburg effektiver helfen kann. „Viele wollen ihre Krankheit nicht zugeben, sie schämen sich. Das gilt als Mädchenproblem.“ Deswegen brauche es noch viel Überzeugungsarbeit, die Dunkelziffer sei enorm hoch.

Infos: Die Organisation Smutje unter dem Dach des Beratungs- und Therapiezentrums Die Brücke wendet sich gezielt an Jugendliche mit Essstörungen wie Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Binge-Eating-Störungen (Essattacken) und Mischformen.

Die Beratung ist kostenlos, findet neben der Zentrale am Wördemanns Weg 23a (Telefon 66 61 20) auch in Altona, Tonndorf, Eilbek, Bergedorf und Neugraben statt. Alle weiteren Informationen unter www.smutje-hh.de