„Er trainierte manchmal wie besessen“, sagt der damalige HSV-Coach Martin Wilke über den ungestümen Jungspund.

Wenn es um den Fußball geht, ist Martin Wilke trotz seines hohen Alters nicht zu bremsen. Er war 1963 nicht nur der erste Bundesliga-Trainer des HSV, sondern hat im jungen Leben des Uwe Seeler eine große Rolle gespielt. Unter der Regie des Oberstudienrats ging der Mittelstürmer 1953/54 seine ersten Wege im Herren-Fußball.

Martin Wilke, der in Norderstedt in der Nähe des HSV-Geländes Ochsenzoll ein schmuckes Eigenheim bewohnt, erinnert sich offenbar noch an jeden und alles der damaligen Spieler-Generation. Phänomenal. Am 15. November feiert er seinen 90. Geburtstag. Er ist dem Fußball immer noch verbunden, aber er geht schon seit Jahrzehnten nicht mehr ins Volksparkstadion. „Früher gingen die Menschen zum Fußball, weil sie ihren Club im Herzen trugen. Und das, weil sie Ikonen wie Uwe Seeler oder Charly Dörfel liebten. Heute sind Spiele Events.“

Vater Erwin bremste den rasanten Aufstieg des Jungen

Im zarten Alter von 28 Jahren war Wilke auf Empfehlung von Bundestrainer Sepp Herberger vom HSV verpflichtet worden. „Natürlich wusste ich, dass es in Ochsenzoll in der Jugend einen überaus talentierten Mittelstürmer namens Uwe Seeler gab. Ich kannte ja auch die gesamte Jugendmannschaft, in der es außergewöhnlich viele Talente gab“, erinnert sich Wilke. Er sagt über den jungen Uwe: „Es gab nie auch nur ein kleines Problem mit ihm. Uwe war zurückhaltend, war bescheiden, war auf dem Teppich geblieben, obwohl sie ihn schon damals sehr hochgejubelt haben. Er war auch, das ist ganz wichtig gewesen, überaus willig, alles für seine Karriere zu geben. Er war im Training stets einer der Eifrigsten.“

Es gab im Hintergrund aber immer einen Mann, der praktisch auf Ballhöhe war: Uwes „Vadder“ Erwin. Der war gegen die „schnelle Karriere“ seines Sohnes, denn er befürchtete, dass es durch die höheren körperlichen Ansprüche im Herrenfußball eine zu große Beanspruchung an den jungen Körper geben könnte. „Old Erwin“ bremste immer ein wenig, er wollte Uwe behutsam aufgebaut sehen. „Und genau das ist auch geschehen“, sagt Martin Wilke, „wir waren uns da alle einig, Günther Mahlmann, der Jugend-Trainer, Vater Erwin und ich. Es gab an keinem Tag und zu keiner Zeit irgendwelche Disharmonie zwischen uns. Uwe wurde genau so integriert, wie es sein musste.“

Dazu gehörte aber immerhin, dass der erst 16-jährige Uwe Seeler – mit Genehmigung des Deutschen Fußball-Bundes – am 5. August 1953 zu seinem ersten Einsatz in der HSV-Liga kam. Das war ein Freundschaftsspiel gegen Göttingen 05, das der HSV 1:0 gewann. Noch ohne Seeler-Tor.

Dem jungen Mittelstürmer aber konnte es schon zu jener Zeit nicht schnell genug vorangehen. „Als Klaus Stürmer und ich 1954 – der HSV war im Sommer nur auf Platz elf eingelaufen, Nordmeister war Hannover 96 geworden – zur ersten Herren-Mannschaft aufrücken sollten, war mein Vater dagegen“, erinnert sich Seeler. „,Du bist noch zu jung.‘ Vadder argumentierte stets, dass ich noch in der Wachstumsphase sei. Ich könnte Schäden im Körperbau davontragen.“

Schließlich endete der Familienzwist in einem Kompromiss. Den hatte der damalige HSV-Mannschaftsarzt Ernst Küchlin vorgeschlagen. Er sagte nach der Sporttauglichkeitsuntersuchung: „Klaus Stürmer und Uwe Seeler dürfen in die Oberliga-Mannschaft aufrücken, sollten dort nur jeden zweiten, dritten Sonntag zum Einsatz kommen.“ Ein Anfang war gemacht.

Die Sätze des Mediziners waren jedoch ganz schnell vergessen. Von allen. Klaus Stürmer bestritt die ersten sieben Spiele der Saison, bevor er einen Sonntag Pause machte, und Uwe Seeler war in den ersten fünf Oberliga-Begegnungen dabei – und legte erst danach eine Pause von einem Spieltag ein. Was auch irgendwie verständlich war, denn beide Jungspunde hatten vom ersten Einsatz an die Oberliga aufgemischt – und auch fleißig Tore geschossen. Die Bedenken von Vater Erwin aber blieben. Noch im Frühjahr 1955, als nicht nur im Norden vom neuen „Traum-Paar“ Stürmer/Seeler geschwärmt wurde, ermahnte er seinen Sohn gelegentlich: „Achte auf deinen Körper, du musst sagen, wenn es dir zu viel wird – ich glaube immer­ noch, dass das alles zu früh kommt.“

Doch Uwes Stern war längst aufgegangen. Die Premiere in der Nationalelf (1:3 gegen Frankreich am 16. Oktober 1954) hatte für zusätzlichen Anreiz gesorgt. Der junge Seeler, von dem inzwischen ganz Deutschland sprach, ließ sich nicht mehr bremsen. Auch durch zunehmende Härte oder Unfairness nicht. „Uwe hatte einen unschätzbaren Vorteil gegenüber vielen anderen Talenten gehabt: Er wollte sich immer verbessern. Für ihn gab es keine Rückschläge, er gab nie auf“, sagt Wilke. „Wenn etwas im Training nicht so geklappt hatte, wie er es wollte, dann legte er nach der Einheit manche Sonderschicht ein. Das war nicht nur im Kopfballspiel so – aber auch. Er trainierte teilweise wie besessen. Ich habe ihn als Menschen und als Sportler gleichermaßen geschätzt.“

Wobei die Ängste von Vadder Seeler nicht ganz zu Unrecht bestanden. Durch Überbelastung bekam Uwe Probleme mit dem Beckengelenk, die linke Seite schmerzte auf Dauer. Nach einer Untersuchung in der Uniklinik Eppendorf wurde dem jungen Himmelsstürmer sogar ein Vierteljahr Pause verordnet. Zum Glück gab es danach aber keine (großen) gesundheitlichen Probleme mehr, sodass Uwe Seeler wieder uneingeschränkt seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnte: Tore schießen.