Wisst ihr noch? Fußball-Veteranen plaudern über alte Zeiten: als man mit dem Rad zum Training fuhr, als es zwischen HSV und FC St. Pauli noch Eintracht gab – und als Uwe Seeler ein Millionen-Angebot aus Mailand ausschlug. Von Alexander Laux und Dieter Matz
Geöffnet ist das Restaurant eigentlich erst ab 17 Uhr. Aber für Uwe Seeler macht Paco, der Wirt des Ristorante la Veranda in Norderstedt, natürlich eine Ausnahme. Wir haben uns zum Klönschnack verabredet: mit Uwe, Jochen Meinke (86), dem Kapitän der Meistermannschaft von 1960, Harry Bähre (75), dem Bundesligaspieler mit dem Spielerpass Nummer 001, und Ingo Porges (78), der als St.-Pauli-Spieler Uwe in den Ligaspielen ausschalten sollte.
Harry Bähre: Sagt mal, können wir Uwe denn auch ein paar Schlechtigkeiten reinreden, oder müssen wir hier nur Hosianna rufen?
Uwe Seeler: Logisch, Wenn du was findest ... (lacht).
Über was wir hier reden wollen, ist ja nun ein paar Jährchen her. Erinnern Sie alle sich denn überhaupt noch an Details?
Seeler: Ich fange mal an. Neulich, bei einem HSV-Spiel im Volksparkstadion, hat mein Kapitän – das ist Jochen immer noch und wird er immer bleiben – gesagt: „Unsere Zeit war so schön, das ist nicht mit Geld zu bezahlen.“ Da hat er so recht. Wir sind alle im Verein groß geworden, für uns war das eine Gemeinschaft, ein großer Spaß. So etwas kommt nie wieder. Alle kamen aus Hamburg. 1960 hatten wir unseren ersten Ausländer – Jürgen Kurbjuhn aus Buxtehude ...
Bähre: Und Lothar Kröpelin aus Lübeck.
Ingo Porges: Ich kann noch problemlos die Meisterelf des HSV von 1960 aufzählen. Aber die anderen sechs, sieben ...
Jochen Meinke: Wir waren ja immer nur 16 Leute mit einem Vertrag. Die Devise unseres Trainers Günther Mahlmann war: Wenn einer ausfällt, füllen wir mit Amateuren nach. Und die kannten wir alle aus der Jugend.
Sind Sie denn anfangs gemeinsam mit dem Fahrrad zum Training gefahren?
Meinke: Ich habe das nur einmal gemacht aus Winterhude – und nie wieder. Gangschaltungen gab es ja nicht.
Seeler: Mit Jürgen Werner und Gerd Krug bin ich häufiger die Alsterkrugchaussee hochgefahren. Nur zu den Spielen mussten wir mit der Bahn kommen. Kellinghusenstraße trafen wir die ersten Mitspieler. Rauf bis zur Endstation Ochsenzoll. Durch den Schmuggelstieg durch, die Ulzburger Straße hoch sind wir dann gelaufen. Das war für uns alles selbstverständlich. Wie heißt es: Was es nicht gibt, vermisst du nicht. Und für den Gegner haben wir schnell noch eine Baustelle eingerichtet, damit sie einen Umweg bis Ochsenzoll laufen mussten. (lacht)
Apropos Gegner: Wie war damals das Verhältnis zum FC St. Pauli?
Seeler: So wie heute jedenfalls nicht ...
Meinke: Wir hatten von Anfang an ein tolles Verhältnis, das bis heute hält. In der Hamburg- oder Norddeutschland-Auswahl haben wir ja auch teilweise zusammen gespielt. Jedes Jahr treffen wir uns einmal im Clubheim von Concordia. Herbert Kühl ist mit Jupp Posipal sogar zusammen auf dem Roller gefahren! Wir alle begreifen nicht, wie giftig die Atmosphäre mittlerweile ist.
Seeler: Mit Bremen ist es übrigens nichts anderes. Was die Fans im Weserstadion von den Tribünen gerufen haben, als ich das letzte Mal da war, hatte mit Fußball nichts mehr zu tun.
Bähre: Und wenn dann noch Leute wie der frühere Werder-Torwart Tim Wiese ständig Öl ins Feuer gießen ...
Meinke: ... und die Medien dann das auch immer noch bringen, das ärgert mich wirklich sehr.
Porges: Man muss sich das vorstellen: Vor den Lokalderbys haben wir uns am Rothenbaum noch gemeinsam in einer Kabine die restlichen Sachen angezogen. Ich erinnere mich noch, wie Charly Dörfel auf die Bank stieg und rief: Ingo, heute seid ihr dran!
Und?
Porges: Wir haben hoch verloren.
Wie war’s am Millerntor?
Meinke: Da sind wir fast fertig angezogen mit dem Bus hingefahren, haben nur noch unsere Sachen abgelegt.
Herr Porges, wie war das, gegen Seeler zu spielen?
Porges: Als ich das erste Mal hörte, dass ich dafür vorgesehen war, ihn auszuschalten, dachte ich nur: Na bravo, das ist doch der, der so kopfballstark ist, so schussstark, so drahtig und schnell. Es waren für mich immer besondere Duelle. Angespielt wurde Uwe häufig von Jürgen Werner oder seinem Bruder Dieter. Wenn er den Ball annehmen konnte, hat er sich immer zwischen Ball und Gegner gestellt, mit seinem richtig starken Körper – und hat sein Hinterteil rausgestreckt.
Seeler: O ja, mein starkes Gesäß habe ich gerne benutzt.
Herr Bähre, Sie kamen erst 1960 dazu, der HSV war gerade Deutscher Meister geworden.
Bähre: Im ersten Jahr durfte ich ja nur die Koffer tragen. Aber als die Jungs sahen, dass ich fleißig war, haben sie mir auch mal einen Koffer abgenommen.
Meinke: Du gehörtest ja eigentlich schon vor der deutschen Meisterschaft langsam integriert, Harry, genau wie Hubert Stapelfeldt. Aber wir konnten damals ja nicht wechseln.
Bähre: Aber weißt du, wie ich zum Endspiel nach Frankfurt gekommen bin, Jochen? Per Anhalter. Ins Frankfurter Waldstadion musste ich mich auch ohne Eintrittskarte schmuggeln lassen.
Das Problem mit dem Einlass hatten Sie ja auch bei Ihrem ersten Oberligaspiel gegen Kiel im Oktober 1960.
Bähre: Ach, diese Geschichte. Ich war noch Chemiegraf-Lehrling am Gänsemarkt und bekam einen Anruf von Mahlmann: Du spielst am Nachmittag um 16.30 Uhr. Mein erstes Oberligaspiel an einem Mittag. Weil ich die Bahn um 15.45 Uhr verpasst hatte, musste ich mit den Buffern (Fußballschuhe; Anm. d. Red.)in der Plastiktüte zum Stadion rennen. Als ich dann atemlos durch den Eingang wollte und sagte, dass ich hier mitspiele, entgegnete mir der Ordner: „Ja, das sagen sie alle.“
Sie kamen dann ja doch rein und haben sogar das 1:0-Siegtor erzielt.
Meinke: Sie haben dich angeschossen ...
Seeler: Nee, er ist dem Ball zufällig reingelaufen.
Bähre: Hinterher kam Günni (Mahlmann; Anm. d. Red.) und steckte mir einen zerknüllten 50-Mark-Schein in die Hand.
Meinke: Und wir haben nichts bekommen. Erschütternd.
Geld ist ein gutes Stichwort. Wie lief das früher mit der Bezahlung?
Meinke: Es fing an mit 320 Mark, stieg an auf 360 Mark, dann die letzten drei, vier Jahre auf 400 Mark. Wir haben das immer netto bekommen.
Seeler: Helene in der Geschäftsstelle hatte immer alles fertig gemacht.
Bähre: Ich kenne das auch noch mit der Lohntüte.
Meinke: Dann kriegten wir für jeden Sieg 50 Mark nebenbei. Jupp (Posipal; Anm. d. Red.) oder ich haben das verteilt.
Seeler: Alle 16 haben die gleiche Prämie bekommen. Schlimm genug, wenn einer zehn Spiele sitzt. Und kann nichts dafür.
Meinke: Für ein Unentschieden erhielten wir keinen Pfennig. Einmal, nach einem katastrophalen Spiel gegen Phönix Lübeck, das wir glücklich 2:1 gewonnen hatten, stellte sich Mahlmann vor uns auf: „Eines will ich euch sagen: Ihr glaubt doch nicht, dass ihr für diesen Kick auch nur eine müde Mark bekommt.“
Bähre: Die Einsicht war auch da.
Meinke: Wir haben das geschluckt. Nur einer war dagegen: Charly. Das hat er noch Jahre später gesagt: „Mir stehen noch 50 Mark zu ...“
Aus welchem Topf wurde dieses Geld denn bezahlt?
Meinke: Durch Spiele. Über Ostern zum Beispiel, wenn keine Punktspiele anstanden, fuhren wir zu Turnieren nach Holland oder Belgien und absolvierten drei Spiele: Karfreitag, Ostersonntag und -montag. Über einen Polen, der 40 Turniere pro Jahr gemanagt hat, bekamen wir Quittungen für Bahnfahrten, Verpflegung und Unterkunft. Bezahlt hat das aber alles der Organisator.
Seeler: Ich möchte aber festhalten, dass der HSV damals Geld ohne Ende hatte. Die haben sogar den anderen Amateurvereinen wie ETV, Concordia oder Victoria was gegeben. Wir haben jedenfalls nur einen Bruchteil der Einnahmen erhalten.
Meinke: Unsere Grundgehälter pro Saison beliefen sich insgesamt auf rund 80.000 Mark. Alleine ein Freundschaftsspiel gegen Real Madrid hat eine Million Mark eingebracht.
Bähre: Da gab’s aber auch später richtig Geld, mal einen Tausender.
Seeler: Vor dem Beginn der Bundesliga habe ich auf Mahlmann eingeredet, er solle Klaus Stürmer was extra geben. Aber er war so was von konsequent und hat auf seinem Standpunkt beharrt: Alle werden gleichbehandelt. Die Folge war, dass wir mit Beginn der Bundesliga keine gute Mannschaft hatten.
St. Pauli galt als Arbeiterverein, der HSV als bürgerlicher Club. Waren Sie neidisch, Herr Porges?
Porges: Eigentlich nicht. 400 Mark waren damals enorm viel Geld, ein Angestellter erhielt so um die 180 Mark.
Seeler: Heute lacht man ja darüber. Aber das war sehr gutes Beigeld.
Meinke: Bei den Spielen um die Meisterschaft gab es offiziell 100 Mark pro Spiel, das hat Schatzmeister Karl Mechelen auf 250 Mark erhöht. Sechs Spiele bedeuteten 1500 Mark, das war für mich sensationell.
Und in der Bundesliga?
Bähre: Erhielten wir 1200 Mark im Monat. Uwe, du warst damals schon überbezahlt ...
Meinke: Der Dicke hat 1250 Mark bekommen.
Seeler: Weil ich Nationalspieler war, 1250 oder 1500, mehr war das nicht.
Meinke: Ich habe einen über zwei Jahre laufenden Ehrenvertrag erhalten und monatlich 1200 Mark überwiesen bekommen.
Seeler: Wegen guter Führung.
Meinke: Immerhin habe ich noch 17 Freundschaftsspiele gemacht, unter anderem in den USA.
Jung, gut aussehend, Besserverdiener – hat Sie das auch damals schon attraktiv für die Frauenwelt gemacht?
Seeler: Unsere Frauen passten immer im Hintergrund auf, stimmt’s Jochen?
Bähre: Aber Charly und ich hatten schon einige Groupies ...
Seeler: Schaut euch die Fußballer heute an, die sehen ja schon aus wie Models. Dazu ist viel mehr Geld im Spiel. Damals spielte die Show keine Rolle.
Porges: Wir bekamen wenig Fanpost. Eine Frau aus Wilhelmsburg hat mir mal ein Amulett geschenkt.
Bähre: Charly hat das ja anders geregelt. Er hat schon während des Spiels die Mädels ausgesucht.
Seeler: Die Vergleiche zwischen damals und heute hinken. Das fängt bei den Schuhen an, den Plätzen. Wir haben auf Schneematsch gespielt, heute gibt es Rasenheizung. Unsere Bälle waren bei Regen nach zehn Minuten Granaten. Da musstest du dir den Kopf eigentlich eingipsen lassen, damit er beim Kopfball nicht wegfällt.
Bähre: Denkt an die Schnüre im Ball.
Meinke: Oh ja, wenn du die am Kopf abbekommen hast, war das richtig schmerzhaft. Wisst ihr, was schön war? Ich habe immer die Schuhe von Jupp Posipal übernommen. Der kam von den Länderspielen, brachte zwei Paar Schuhe mit. Die waren schon gut eingelaufen.
Die Fans haben immer „Uwe, Uwe“ gerufen, er hat den meisten Ruhm abbekommen. Stieg da nicht mal Neid auf?
Bähre: Nie.
Meinke: Der Dicke hat sich ja immer dagegen gewehrt und gesagt: „Was soll das? Ich alleine kann nicht gewinnen.“
Seeler: Als das Italien-Angebot kam, von Inter Mailand, hat mich die Mannschaft sogar aufgefordert: Das musst du annehmen, wir bringen dich mit Blumen zum Flughafen.
Meinke: Bei solchen Summen konnte ein Mensch doch nicht Nein sagen. Nach einem Spiel haben wir auf ihn gewartet. Wir schauten ihn an. Er: „Ich bleibe.“ Wir: „Der ist nicht ganz dicht.“
Sie waren nicht glücklich?
Meinke: Selbstverständlich. Aber wir konnten es nicht fassen.
Seeler: Rückblickend habe ich es alles richtig gemacht. Sogar eine Million macht nicht automatisch glücklich. Ihr wisst ja, mein Alter hat ja immer gesagt: „Geld ist nicht alles. Mehr als ein Steak kannst du auch nicht essen.“