1999 verschwand die zehn Jahre alte Hilal aus Lurup. Bis heute gibt es keine Spur. Die Familie leidet schwer unter dem Verlust . Hilfe erhält sie vom Verein Weißer Ring.
Das Gesicht ist wie erstarrt, keine Regung, nicht mal die Andeutung eines Lächelns. Die tiefen Ringe unter den dunklen Augen deuten auf Schlafmangel hin. 17 Jahre voller Traurigkeit, Schmerz und Ängsten haben sich tief in die Züge von Ayla Ercan eingegraben. „Das Leben geht irgendwie weiter, es muss ja. Ich habe ja noch andere Kinder, ich muss an sie denken“, sagt die 48-Jährige. Sie verstummt und schaut auf ihre Tochter Fatma, zwischen den beiden herrscht ein Verständnis, das wenig Worte braucht. Auch die 26-Jährige lächelt nur selten. Beide Frauen sind noch immer gefangen im Kummer, in der Sehnsucht nach Hilal, dem kleinen Mädchen, das am 27. Januar 1999 in Hamburg-Lurup verschwand und die größte Suchaktion in der Kriminalgeschichte auslöste.
Die Zehnjährige hatte sich damals während der Mittagszeit in der Einkaufspassage Elbgaustraße nur etwas Süßes kaufen wollen. Sie holte sich eine Packung Kaugummis und machte sich auf den Rückweg in die Familienwohnung, die nur 50 Meter entfernt war. Der Gemüsehändler aus der Passage erinnert sich noch an sie, doch auf dem Parkplatz verliert sich ihre Spur. Bis heute weiß die Familie nicht, ob Hilal noch lebt oder tot ist. „Diese Ungewissheit ist das, was so schrecklich ist. Wir haben kein Grab, an das wir gehen können, wir haben nichts“, sagt die Mutter und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
Auch wenn die Tat nun schon so lange her ist, erinnern sich bestimmt noch viele Hamburger an das Bild dieses hübschen Mädchens mit den dunklen Haaren und dem fröhlichen Lachen, das durch die Medien ging, in sämtlichen Läden und Stadtteilen hing. Im Wohnzimmer stehen Familienbilder, aber keines von Hilal. Mutter Ayla kann es nicht ertragen, sie immer zu sehen. „Dann frage ich immer, wieso, wo bist du?“ Sie stelle sich dann vor, wie ihre Kleine die letzten Stunden ihres Lebens voller Todesangst war und sie sie nicht beschützen konnte.
„Kinder als Opfer sind für alle das Schlimmste. Sie sind so unschuldig. An dem Fall Hilal kommt dazu, dass das Mädchen dauerhaft verschwunden ist, das ist sehr selten“, sagt Wolfgang Zumpe, der beim Weißen Ring die Außenstelle Hamburg-Süderelbe leitet und die Familie Ercan seit zehn Jahren betreut. Der Verein hilft Opfern von Verbrechen und ist seit dem Verschwinden von Hilal an der Seite der türkischstämmigen Familie.
Der ehemalige Polizeibeamte Zumpe hat im Weißen Ring die Betreuung von Karla Mertins übernommen. Er unterstützte die Jobsuche für Sohn Abbas, 29, hilft bei Behördenproblemen, schreibt Briefe an Versicherungen und Banken. Und Karla Mertins besorgte den Ercans Ende 1999 eine neue Wohnung in einem anderen Stadtteil. In der wohnt die fünfköpfige Familie bis heute. Der Weiße Ring bezahlte die Umzugskosten und später auch einmal einen Erholungsurlaub in die Türkei. „Das hat uns wirklich geholfen. Frau Mertins war immer für uns da, genau wie Herr Zumpe jetzt“, sagt Fatma.
Die junge Frau hat früh geheiratet und ist inzwischen selber Mutter einer kleinen, sechs Monate alten Tochter Elif. Doch genau wie ihre Mutter empfindet sie seit Hilals Verschwinden kein Lebensglück mehr. „Hilal hat einfach eine riesige Lücke hinterlassen“, sagt sie. Sie war neun und ihr Bruder Abbas zwölf, als Hilal entführt wurde. Die Geschwister haben eine Kindheit erlebt, die geprägt war von den Depressionen der Mutter und dem Schweigen des Vaters, dem es schwer fällt, über seine Sorgen und Ängste zu reden.
„Abbas und ich sind noch mal zu dem Spielplatz an der Elbgaustraße gefahren, auf dem wir mit Hilal oft gespielt haben. Wir haben gehofft, dass es uns hilft, aber das war nur schrecklich dort“, sagt Fatma. Sie hat die Hauptschule gerade so geschafft und keine Ausbildung. Sie verbringt viel Zeit mit ihrer Mutter, die erwerbsunfähig ist und winzige Rente bekommt.
„Fatma ist meine Stütze, fragt immer, wie es mir geht und holt mich auch mal zum Spaziergang ab. Aber eigentlich sollte sie mit Hilal zusammen sein, nicht mit mir“, sagt Ayla Ercan und fügt leise hinzu, dass sie ihrer Tochter eigentlich ein glücklicheres Leben gewünscht hätte. Doch das konzentriert sich jetzt auf die kleine Elif. „Ich wünsche ihr nur das Beste, dass sie alles bekommt, was ich nicht hatte“, sagt Fatma und für einen Moment vergisst man, dass sie eine sehr junge Frau ist und selber noch an ihrem Leben basteln könnte. Doch es gibt keine Wünsche, keine Ziele – nichts. „Der Tag kommt und geht, es wird Morgen und Abend“, sagt Ayla schulterzuckend.
Zumindest hält die Familie zusammen. Bruder Abbas ist Busfahrer und wohnt noch zu Hause. Der Vater Kamil arbeitet in einem Lager am Flughafen. Und dann gibt es noch Sohn Derman, dessen Name Kraft bedeutet. Er ist 14 Jahre und wurde drei Jahre nach dem Verschwinden Hilals geboren. „Er ist unsere Freude, ein Geschenk. Wir tun alles für ihn“, sagen Mutter und Tochter gemeinsam.
Derman ist ein fröhlicher Junge, gut in der Schule, spielt Fußball und Playstation. Er weiß natürlich von der Entführung seiner Schwester, doch da er sie nicht kannte, kann er das Unglück wegschieben. „Er ist unbeschwert und fröhlich“, sagt seine Mutter. Und dann rutscht ihr doch ein kleines Lächeln ins Gesicht. Auch wenn sie ihre kleine Enkelin beobachtet, entspannt sie sich etwas.
Nächste Woche Dienstag werden Ayla und Fatma Ercan wie jedes Jahr in den Gottesdienst von St. Jacobi gehen, der vom Weißen Ring zum Tag der Kriminalitätsopfer organisiert wird. Neben Bischöfin Kirsten Fehrs ist auch ein Imam eingeladen. In ihrer Religion findet die Familie sonst keinen zusätzlichen Halt, aber die Atmosphäre dieses besonderen Gottesdienstes sei tröstlich, sagt Ayla Ercan. „Und ich kann für Hilal eine Kerze anzünden, auch das tut mir gut.“
Der Gottesdiens t findet am 22. März um 18 Uhr statt in der Hauptkirche St. Jacobi, Steinstraße/Jakobikirchhof. Gestaltet wird er von Hamburgs Polizeivizepräsident Reinhard Fallak, NDR-Moderatorin Kerstin von Stürmer und Jazz-Pianist Prof. Gottfried Böttger. Er steht unter dem Motto „Den Opfern eine Stimme geben: Ja zu Respekt und Toleranz“. Danach gibt es bei einem Imbiss die Möglichkeit zum Austausch.