Die aufwendige Behandlung von Mehrfachbehinderten wird Medizinern nicht vergütet. Zahnärztin Katy Düsterhöft bietet sie dennoch an.

Der Aufzug zur Praxis ist groß, der Tresen am Empfang an einer Stelle abgesenkt und die Gänge und Türöffnungen sind breit. Darüber weisen Piktogramme, die für alle Menschen gut verständlich sind, den Weg zu den Behandlungs- und Funktionsräumen. Natürlich gibt es auch ein behindertengerechtes WC – und zwar auf beiden Etagen des Dentologicums in Bahrenfeld. Das große medizinische Versorgungszentrum, in dem 19 Zahnärzte, Kieferorthopäden und -chirurgen arbeiten, ist vollkommen auf Patienten mit Behinderungen eingestellt – und damit eine Seltenheit in Hamburg.

Inklusion wird zwar von allen Seiten gewünscht, aber in Arztpraxen nur wenig umgesetzt. Besonders für Menschen mit komplexen Behinderungen, von denen es in Hamburg schätzungsweise 4500 gibt, ist es schwierig, einen Facharzt zu finden. „Solche Patienten sind schwer in die geschäftsmäßigen Abläufe einer Arztpraxis einzubinden. Und sie sind nicht sehr attraktiv, denn sie sind schwer behandelbar, brauchen viel mehr Zeit und Geduld, die aber leider nicht extra bezahlt wird“, sagt Kerrin Stumpf vom Verein „Leben mit Behinderung“. Also würden die Ärzte, die Behinderte gut behandeln und zudem eine barrierefreie Praxis besitzen, überrannt, auch wenn sie weit entfernt vom Wohnort seien, sagt Stumpf, die selber einen schwerbehinderten Sohn hat.

Die Patienten-Initiative erstellt gerade einen Leitfaden für barrierefreie Praxen

Das kann auch Dr. Katy Düsterhöft, Inhaberin des Dentologicums, bestätigen. „Viele unserer Patienten mit Behinderungen kommen aus ganz Hamburg zu uns.“ Denn die Zahnärztin ist spezialisiert auf die Behandlung von mehrfachbehinderten Patienten. Als vorbildliche Praxis auf diesem Gebiet wird sie auch von der Patienten-Initiative gelobt. Der Verein erstellt derzeit im Rahmen eines Pilotprojekts einen Leitfaden für barrierefreie medizinische Einrichtungen in Hamburg und überprüft mit „Barriere-Scouts“ die Selbstauskünfte der Ärzte.

„Wir bieten ein großes Spektrum der Zahnmedizin an, deswegen leisten wir uns das. Doch ich mache diese Behandlungen rein aus sozialen Gründen, wirtschaftlich lohnt sich das absolut nicht“, sagt Düsterhöft. Im Gegenteil, bei etlichen Behandlungen, die alle in Vollnarkose ausgeführt werden müssen, zahlt sie drauf. „Diese Patienten müssen narkotisiert werden, denn sie machen oft den Mund nicht freiwillig auf, verstehen auch nicht, was mit ihnen geschieht oder haben panische Angst“, sagt die 47-Jährige, die zudem eine Ausbildung als Krankenschwester hat. Viele dieser Patienten, die oft geistig behindert sind, schwere Muskelkontraktionen oder Spastiken haben, hätten schlechte Zähne, weil sie sie nur ungenügend pflegen könnten, häufig müsse auch das ganze Gebiss „chirurgisch saniert“ werden.

Für eine einfache Kariesbehandlung zum Beispiel braucht die erfahrene Zahnärztin normalerweise eine halbe Stunde, bei einem Schwerbehinderten zweieinhalb Stunden – mit der Narkose und allem Papierkram –, bekommt aber für beide Patienten das gleiche Honorar. Es gibt zwar auch Härtefallregelungen, diese müssen aber individuell mit der Krankenkasse für jeden Fall neu verhandelt werden. „Manchmal sehen wir erst in Narkose, ob noch Zusatzbehandlungen notwendig sind. Dann ist eine meiner Helferinnen auf Stand-by mit der Krankenkasse verbunden, um über eine Härtefallregelung zu entscheiden, vorher darf ich nicht agieren. Das ist echt ein Wahnsinnsaufwand“, sagt Katy Düsterhöft.

Wer sie so reden hört, fragt sich, warum sie das macht. „Weil es fahrlässig wäre, wenn ich jetzt mit diesen Behandlungen aufhören würde. Wir kennen doch die Abläufe. Und wo soll ich diese Menschen denn hinschicken? Es muss ihnen doch jemand helfen“, sagt sie und erzählt von ihren Erfahrungen an einer Uniklinik, in der sie während des Studiums als Pflegerin gejobbt hat. „Da wurde bei unterernährten Behinderten häufig eine Magensonde gelegt, anstatt der Ursache auf den Grund zu gehen. Die lag oftmals in der Mundhöhle. Manche hatten schreckliche Zahnschmerzen oder Abszesse im Mund und konnten deswegen nicht essen. Doch das wurde von den Ärzten total ausgeblendet. Ich fand das so schrecklich“, sagt sie. Für sie war dieses Vorgehen ein Schlüsselerlebnis, als Ärztin künftig anders zu handeln. Tatsächlich hat eine englische Studie von 2013, die den Tod von rund 250 Menschen mit geistiger Behinderung untersucht hat, herausgefunden, dass 42 Prozent vorzeitig verstorben sind, weil sie nicht richtig diagnostiziert und behandelt worden sind.

Als Reaktion auf die ungenügende Versorgung von geistig und mehrfachbehinderten Menschen gibt es zumindest seit Mitte 2015 das Medizinische Zentrum für erwachsene Menschen mit Behinderung (MZEB) der Stiftung Alsterdorf, wo Ärzte und Therapeuten verschiedener Fachrichtungen interdisziplinär zusammenarbeiten. „Wir diagnostizieren unklare oder sehr komplexe Krankheiten, erstellen Therapiepläne und haben auch mehr Fachwissen bei speziellen Syndromen“, erklärt Chefarzt Dr. Georg Poppele. Vor allem haben die vier Ärzte dort Zeit und spezielle Geräte, um sich intensiv mit einem Patienten auseinanderzusetzen. Doch auch das MZEB hat inzwischen eine Warteliste für Termine von vier bis sechs Wochen. Denn derzeit können dort nur 110 Patienten pro Quartal behandelt werden. „Wir haben Schwierigkeiten, Fachärzte zu finden, die bei uns arbeiten wollen“, sagt Poppele offen. Das Team sieht sich eigentlich als Ergänzungseinrichtung für die Haus- und Fachärzte, doch die Weiterüberweisung der Patienten an diese gestaltet sich schwierig, weil viele auf deren Behandlung weder eingestellt noch ausreichend dafür qualifiziert sind. „Man braucht schon spezielles Wissen. Wir bieten bei der Ärztekammer dazu immer wieder Fortbildungskurse an, aber die haben kaum Zulauf“, sagt Poppele. Einen Hauptgrund sieht er in dem fehlenden Extra-Budget für die Behandlung von Behinderten, obwohl sie oft mehr als doppelt so lange wie bei einem Nichtbehinderten dauert. Zudem kommen diese Patienten häufiger zum Arzt, brauchen mehr Medikamente und Verordnungen.

Finanzielle Zuschüsse in dem Bereich würden die Inklusion fördern

„Im Honorarsystem, auf das sich Ärzte und Krankenkassen gemeinsam verständigt haben, erhält ein Arzt für die Behandlung einer bestimmten Krankheit immer die gleiche Vergütung – egal ob er beispielsweise einen Patienten mit oder ohne Behinderung versorgt, einen 18-Jährigen oder einen 75-Jährigen, es ist immer ein Durchschnittswert“, sagt Kathrin Herbst, Leiterin der Landesvertretung des Verbands der Ersatzkassen. Das bedeutet: Für alle gibt es die gleiche Fallpauschale. „Finanzielle Zuschüsse in dem Bereich würden die Inklusion voranbringen“, sagt Poppele. Denn der Mangel an Versorgung Schwerstbehinderter ist nach wie vor da. Da nützt es auch nichts, wenn Herbst auf das Prinzip der Solidargemeinschaft verweist.

Denn es gibt auch keine finanzielle Förderung für den Umbau zu einer barrierefreien Praxis. „Wir bekommen noch nicht einmal Parkplätze für Behinderte vor unserer Praxis genehmigt“, sagt Zahnärztin Katy Düsterhöft. Und Barbara Heidenreich von der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg erzählt, dass Ärzte bei ihrem Selbstauskunftsbogen für das Ärzte-Suchportal „nicht unbedingt angeben, dass ihre Praxis barrierefrei ist, weil sie sonst von Behinderten überflutet werden“. Heidenreich wird deutlich: „Die Kassen wollen, dass alle Menschen gleich gut versorgt werden, doch der erhebliche Mehraufwand für Schwerbehinderte wird nicht bezahlt. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.“