Was passiert, wenn man sich „Der König der Löwen“, „Das Wunder von Bern“, „Liebe stirbt nie“ und „Aladdin“ so schnell wie möglich hintereinander anguckt? Was sind die Höhepunkte der Shows, wer singt um sein Leben, wann bekommt man einen Hörsturz? Yvonne Weiß über ein Wochenende in einer Traumwelt – mit einer großen Panne
Es gibt Geschichten, die würde man sich als Reporter nie selbst ausdenken, dafür braucht es schon einen genialen Chef: „Yvonne, guck dir doch mal alle großen Hamburger Musicals in so kurzer Zeit wie möglich an.“ Ich liebe Experimente, besonders mit mir als Versuchskaninchen. Also halte ich an einem Sonnabendmittag im Januar vier Eintrittskarten in der Hand, die ich in den nächsten 36 Stunden einlösen werde.
„Binge Watching“ oder auch Koma-Gucken nennt man ununterbrochenen Konsum in Bezug auf Fernsehserien, in meinem Fall würde ich erst mal ganz neutral von „Musical-Marathon“ sprechen. Immer optimistisch bleiben. Und wenn es Melodien für Millionen gibt, warum dann nicht auch Millionen Melodien für eine? Eben. Es gilt der zweite Teil des Musketier-Spruchs: „Alle für einen.“ Los geht’s, bitte nehmen Sie Platz, Vorhang auf.
Der König der Löwen
Beginnen wir mit dem absoluten Musical-Klassiker: „Der König der Löwen“. Einmal mit dem Shuttleschiff über die Elbe, schon befinde ich mich in der Savanne. Die Temperaturen im Saal scheinen der afrikanischen Steppe angepasst worden zu sein, was es für die Maskenbildner sicher schwer macht. Das Auftragen des Make-ups benötigt viel Zeit, für die Maske von Bösewicht Scar beispielsweise eineinhalb Stunden.
Solche vorab gelesenen Infos vergisst man aber sofort in der ersten Szene, wenn alle Tiere vorbei an den Zuschauern zum Felsen wandern, um den Neugeborenen des Königspaares willkommen zu heißen. Was für ein Aufmarsch. „Krass!“, sagt ein Mädchen hinter mir, da läuft das Stück noch nicht mal eine Minute.
Aber die sogenannten Puppets sind wirklich beeindruckend und im Vergleich zu anderen Musicals eine echte Besonderheit und das größte Unterscheidungsmerkmal. Unter Puppets versteht man die Skulpturen und Teile, die aus einem Darsteller ein Tier machen; allerdings nicht so, dass man den Menschen komplett verhüllt. Ich sehe ein harmonisches Nebeneinander von Elementen, die an sich nicht zusammengehören. So, als würden Angela Merkel und Horst Seehofer Hand in Hand die Alster entlangspazieren.
Das größte der Tiere ist der Elefant: vier Meter lang, 2,50 Meter hoch, Spannweite drei Meter. Eine gigantische Konstruktion; gleichzeitig laufen die Bewegungen so fließend, dass ich erst spät erkenne, dass sie von vier Darstellern gleichzeitig bewegt wird.
Die Puppet-Abteilung ist die Bildhauerei des Theaters; was hier kreiert wird, stellt moderne Kunst dar. Die Masken bestehen aus Carbonfasern, Schaumstoff oder Federn, sind also extrem leicht, damit sie sich an die Gesichter der Schauspieler anschmiegen und nicht durch ihr Gewicht zu einem Dauer-Abo beim Masseur führen. Die Maske von König Mufasa wiegt beispielsweise nur 312 Gramm.
Natürlich sind auch die Kostüme kleine Kunstwerke. Die Stoffe wurden vorab in den Hauttönen der Darsteller eingefärbt. Ich frage mich, ob in den Verträgen der Schauspieler ein Sonnenbankverbot steht. Oder zumindest der Hinweis, nicht zu viele Karotten zu essen, um die eigene Hautfarbe immer auf dem gleichen Level zu halten. Michael Jackson hätte bei „Der König der Löwen“ jedenfalls keine Stelle bekommen, so viel steht fest.
Neben dem jungen Löwen Simba gibt es eine Figur, die besonders hervorsticht: Zazu. Der Nashornvogel ist ein komischer Vogel, den wie auch seine Steppenmitbewohner eine Tendenz zum Reimen auszeichnet: „Dein Mut ist sagenhaft, das imponiert meinem Magensaft.“ Seit 15 Jahren schon wird diese Rolle von demselben Schauspieler, Joachim Benoit, gespielt. In einer Branche, in der Jahresverträge üblich sind, stellt ein so langes Engagement eine Ausnahme dar. Hinter den Kulissen wird gemunkelt, ohne die Vogelpuppe in der Hand könne Benoit seinen Text gar nicht, die beiden seien inzwischen eins.
Mich würde es bei den vielen Masken und Verkleidungen jedenfalls nicht wundern, wenn der Cast mit einer latenten Schizophrenie zu kämpfen hätte. Auch zunehmende zeitliche Orientierungslosigkeit wäre denkbar bei den 600 unterschiedlichen Lichtstimmungen, die erzeugt werden können. Ständig wird es Tag und Nacht, dafür braucht es lediglich 850 Scheinwerfer und 160 Farbwechsel. Nein, man kann nicht sagen, dass hier gespart wird. Muss aber auch nicht.
Im Investoren-Sprech stellt das Disney-Musical ein „Kill“ dar, eine finanzielle Erfolgsstory. Die Auslastung liegt bei 96 Prozent, Ende des Jahres erwartet man den elfmillionsten Zuschauer. Das Stück war 2001 der Startschuss zur Wandlung der Stadt Hamburg in eine Musicalmetropole, der Beginn von Vereins-Busreisen (Kegelklub, Handarbeitsfrauen, Ü-40-Fußballer etc.) in den Norden. Ohne „Der König der Löwen“ wären sie alle vielleicht nie gekommen. Ein gigantischer Wirtschaftsfaktor, den man den ewigen Musical-Dauer-Belächlern vielleicht mal vorrechnen sollte – würde man jetzt nicht gerade von einer Gnuherde angegriffen!
Dramatik pur, Simba und sein Vater in Lebensgefahr, ich verrate lieber nicht, wie es ausgeht. Auf jeden Fall habe ich das komische Gefühl, auf einem Vulkan zu sitzen. Schuld daran sind die Tiefenlautsprecher unter den Sitzen der Zuschauer, die den Rhythmus der Tiere spürbar machen sollen. Und die beiden Trommler, die man links und rechts von der Bühne sieht (und die man zeitweise um ihren Ohrenschutz beneidet), haben natürlich auch maßgeblich Anteil an dem besonderen Sound der Show. Bei „Hakuna Matata“ singen sogar einige Zuschauer spontan mit.
Um die authentischen Rhythmen Afrikas darzustellen, gibt es insgesamt 100 verschiedene Percussion-Instrumente und 20 verschiedene Flöten, die übrigens alle von einer Flötistin gespielt werden. Wenn also am Ende der Show eine aus dem letzten Loch pfeift, dann wird das diese Musikerin sein.
Das Wunder von Bern
Bis zur nächsten Vorführung habe ich eineinhalb Stunden Zeit und nur wenige Meter zu laufen, denn „Das Wunder von Bern“ ereignet sich direkt neben dem afrikanischen Zauber. Schön wäre es, zwischendurch etwas anderes zu essen als die in den Theatern angebotenen Laugenbrezeln und Pizzazungen. Leider gibt es trotz der täglich zahlreichen Besucher nicht mal eine Pommesbude auf dieser Seite der Elbe, und das Skyline-Restaurant hat genug mit den Bus-Reisegruppen zu tun. Also Brezel.
Von außen stellt das neue Stage Theater an der Elbe den schönsten Musicalort dar. Die Fassade glänzt, was an den Edelstahlschindeln liegt, mit denen sie dekoriert ist. 50 Millionen Euro hat der 2014 fertiggestellte Bau gekostet. Auch drinnen: alles frisch. Der rote Teppich könnte für eine Coral-Werbung herhalten. Und erst die Kostüme! Vom Fußballtrikot bis zum Pettycoat sieht man während der nächsten zweieinhalb Stunden 650 Kostüme und 200 Paar Schuhe. So viel schafft Anna Wintour in einer ganzen Pariser Fashion Week nicht.
Hektisch wie Models müssen sich die Schauspieler auch umziehen, durchschnittlich 14-mal pro Show, der schnellste Umzug geht in 31 Sekunden über die Bühne. Wer bei der Formel 1 mal für die Reifenwechsel zuständig war, würde sich hier also sehr wohlfühlen. In der Endspielszene tragen die Darsteller gleich mehrere Trikots übereinander und können so rasch die Nationalitäten wechseln.
Das Endspiel gegen Ungarn stellt ohnehin den Höhepunkt der Show dar. Zum einen natürlich, weil Deutschland gewinnt. Zum anderen wegen der großartigen Flugakrobaten, die in Gurten hängend an einer LED-Wand die Spielzüge demonstrieren. Fast schwerelos laufen die Spieler das senkrechte Feld hoch und runter, das sieht so toll aus, dass ich vielleicht doch mal „Spiderman“ gucken sollte. Ist aber natürlich harte Arbeit. Die Flüge der Akrobaten werden von ausgebildeten Höhentrainern beaufsichtigt, die sie gegebenenfalls retten müssen. Wenngleich ich mich frage, was sie nach einem Absturz noch retten … aber so viel Pessimismus passt nicht zu einem Weltmeistertitelgewinn, also sportlich voran.
Die Akrobaten hängen an Carbonfaserseilen, sie können zwei Meter in der Sekunde schnell laufen und sich in ihren Gurten um 360 Grad drehen. Meinetwegen könnte das ganze Musical auch nur aus dem Endspiel in Echtzeit bestehen, doch dann würden viele schöne Lieder nicht gesungen. Hits wie „Wunder geschehen“, Balladen wie „Ich will doch nur leben“ oder mein persönlicher Lieblingssong: „Seien Sie nicht so deutsch“ mit schönen Zeilen wie: „Wenn sich einer mal entspannt, gehört er nicht gleich an die Wand.“
Dieses „Raus aus der Nachkriegsverkrampfung“ tut irgendwie gut, und gerade nach dem Olympia-Aus fühlt sich Gewinnen toll an. So häufig kommt dieses Gefühl in der Sportstadt Hamburg ja nicht vor. Wer demnächst vor der Wahl steht, ins Stadion oder ins Musical zu gehen, sollte bedenken, welche Option ein Glücksfaktor-Garant ist – und welche nicht.
Geschaffen wurde die Musik von Liedertexter Frank Ramond und dem Komponisten Martin Lingnau, denen es auch darum zu gehen scheint, möglichst viele Instrumente einzusetzen. Trompete, Flügelhorn, Gitarre, Schlagzeug, Violine, Kontrabass, Reed, Horn, Bratsche, Violoncello, Kontrabass und Bass, Bass, wir brauchen Bass. Oh, jetzt bin ich musikalisch gerade aus Versehen zu Fettes Brot gewechselt, aber bei so vielen Liedern an einem Wochenende quillt der Notenspeicher schon mal über. Gibt es eine medizinische Diagnose für eine Melodienüberdosis? Musica-Intoxikation? Woodstock?
Aber Live-Musik hat schon was, schade nur, dass die Musiker im Orchestergraben versteckt werden. Dafür hört man ihre Arbeit hervorragend. Über 100 Lautsprecher sollen sich im Saal befinden, ich entdecke die wenigsten davon. Die Tonanlage kann theoretisch eine Gesamtleistung von über 100.000 Watt erzeugen. Watt, Watt, wir brauchen Watt!
Huch, ein Hasenstall kommt aus dem Boden hervor. Man kennt ja Hasen, die aus Zylindern hüpfen, aber hier sind es ganze Ställe, die herbeigezaubert werden. Auch andere Teile fahren aus dem Bühnenboden hoch: ein Tresen, ein Podest und Geländer am Spielfeldrand. Insgesamt besteht die Bühne aus 700 Einzelrequisiten, eine Inventur sollte hier deutlich länger dauern als bei Edeka. Einem Objekt würde ich dabei nicht zu nahe kommen, dem eisernen Vorhang. Der politische Konflikt zur Zeit des Kalten Krieges hat seinen Namen übrigens aus dem Theaterbau, nicht umgekehrt. Dieses Wissen eignet sich hervorragend, will man in der Pause einen nach Historiker aussehenden Fliegenträger ansprechen. (Aber wer will das schon.) Jedenfalls: Dieser eiserne Vorhang wiegt acht Tonnen, wird über eine Winde hochgezogen und hydraulisch gebremst. Funktioniert sicher einwandfrei, diese Bremse, ich möchte trotzdem nicht in der Nähe sein, falls sie doch mal eine Auszeit nimmt. Ebenfalls beängstigend: die Dampflok, die die abgemagerten Gefangenen aus Russland zurückbringt. Wie ein Gefährt aus der Hölle taucht sie auf. Und die Szene, in der Hauptdarsteller Richard Lubanski zum ersten Mal nach dem Krieg wieder unter Tage fährt. Die Presslufthämmer in der Zeche werden in seinem Kopf wieder zu Maschinengewehren. Posttraumatisches Belastungssyndrom, dargestellt auf einer Musicalbühne – kann als mutig diagnostiziert werden.
Dennoch finde ich Richard Lubanski ziemlich schnell unsympathisch, weil er seine Familie wie Dreck behandelt (ja, ja, schlimme Kriegstraumata, ich weiß, aber was können seine drei Kinder dafür?), während eine Frauenrolle durch ihren Esprit begeistert: Anette Ackermann, die Frau eines Sportreporters. Versteht zwar wenig von Fußball, dafür aber viel von Optimismus und der Verbreitung von guter Laune.
Ohnehin geht es in diesem Stück nur vordergründig um Sport, das Musical lebt vom Überraschungsmoment und einer Tiefe, die man so nicht erwartet hätte. Nach der 3:8-Niederlage in der Vorrunde gegen Ungarn fragen die Reporter beispielsweise Bundestrainer Sepp Herberger: „Wo stehen wir?“ Das wollen doch eigentlich alle immerzu herausfinden. Fußball, du Philosoph. Die entscheidenden Fragen kommen aus deiner Ecke.
Liebe stirbt nie
Schaut man sich alle Musicals nacheinander an, rechnet man damit, dass selbst im Reich der Stage-Perfektion mal was schiefläuft. Aber dieser GAU hat echten Seltenheitswert: Der Vorhang geht auf, und alle Sängerinnen und Sänger sitzen auf der Bühne. Sie werden an diesem Abend nur singen, nicht schauspielern, erklärt ein Sprecher. Grund für diese konzertante Version ist, dass die Darstellerin der Hauptfigur Christine eine Lungenentzündung hat, die Zweitbesetzung eine Bronchitis und die Drittbesetzung, die eilig aus dem Urlaub zurückgerufen wurde, ihren Anschlussflug nicht erwischte. Wenn das nicht zur Story passt! Im legendären Vorgänger von „Liebe stirbt nie“ sabotiert das Phantom ständig Aufführungen in der Pariser Oper. Jetzt scheint es wohl auch in Hamburg aktiv zu sein. Gemurmel im Saal. Meine Sitznachbarn sind extra aus Dresden angereist, und nun? Jeder bekomme sein Geld erstattet oder ein neues Ticket, heißt es zur Beruhigung.
Ich finde es fast experimentell. Was bleibt von einer Show, wenn es wirklich nur den Gesang gibt? Back to the Roots. Das Gegenteil der Musical-Philosophie, in der das Entertainment den entscheidenden Part darstellt. Eine Sängerin aus dem Chor übernimmt Christines Rolle, sie liest zwar vom Blatt ab, macht ihre Sache aber richtig gut. Doch ohne das ganze Brimborium treten unverständliche Motivationen der Figuren deutlicher zutage: Warum trinkt Christines Gatte Raoul so viel und macht auf Loser, obwohl er im Vergleich zum Phantom der bessere Kerl ist? Wieso lässt sich Christine die Stalkereien des Phantoms gefallen? Verdient ihr Sohn Gustav (und der Zuschauer) wirklich ein derart trauriges Ende? Alles ein bisschen überzogen und könnte so auch bei „GZSZ“ geschehen.
Da ich das Musical vor zwei Monaten schon einmal gesehen habe, weiß ich im Gegensatz zu meinen Sitznachbarn, das sie das Beste an dem Stück verpassen: die eindrucksvolle Freakshow, die das Phantom um sich versammelt hat. Dazu gehört eine 1,09 Meter große Frau namens Fleck. Wenn der 81 Zentimeter größere Gangle neben ihr steht, fühle ich mich zwangsläufig an die alte „Sesamstraßen“-Folge erinnert, in der Grobi erklärte, was den Unterschied zwischen groß und klein ausmacht.
Ebenfalls im Gedächtnis geblieben ist mir Christines wunderschöne Arie „Liebe stirbt nie“, die sie im Pfauenkleid singt. Liebe Hagenbeck-Pfauen, ihr bildet euch ja schon was auf euer Aussehen ein, aber geht mal ins Operettenhaus und lernt eure Meisterin kennen: Christine. Über 60 Meter Stoff wurden für die Schleppe aus plissierten Rüschen vernäht. Wie es sich läuft mit einer XXL-Schleppe am Popo, das weiß neben Christine wahrscheinlich nur Lady Diana. Aber die können wir nicht mehr fragen. Ich schätze: schleppend.
Kaum zur Geltung kommen an diesem reduzierten Abend auch die 120 Echthaarperücken. Jede handgeknüpft und an die Kopfform des jeweiligen Darstellers angepasst. Drei Mitarbeiter sind täglich vier Stunden damit beschäftigt, alle Perücken zu waschen und neu zu frisieren. Vier Stunden! Im Einstellungsgespräch wurde sicher gefragt, wie intensiv man früher mit Barbies gespielt oder „Rapunzel“ gelesen hat.
Lohnt sich dieser Aufwand eigentlich? Muss jedes Haar perfekt sitzen, jedes Kostüm bis ins Detail korrekt und der Zeit entsprechend genäht sein? Ab Reihe 5 erkennt man die Details sowieso nicht mehr. Doch, muss sein, wird mir Stage-Pressesprecher Holger Kersting später erklären. Illusionen leben von Perfektion. Die Sehgewohnheiten der Menschen hätten sich in den letzten 20 Jahren extrem geändert, und so konkurriert ein Entertainmentbetrieb wie Stage nicht nur mit Kinofilmen und Theateraufführungen, sondern auch mit neuen TV-Sendern wie Netflix oder Amazon Prime. Überall gibt es so viel Neues und Außergewöhnliches zu gucken, da brauchen die Augen im Musical einen ganz besonderen Kick. Darum die perfekte Bilderflut – darum gleicht es einer Katastrophe, wenn sie wie in diesem Fall ausfällt. Aber „Liebe stirbt nie“ scheint von Anfang an vom Pech verfolgt zu sein: Die Katze Otto von Musical-Mogul Andrew Lloyd Webber löschte bei einem Sprung ins Studio die gesamte Musik, die der Komponist bis dahin für das Stück geschrieben hatte. Otto ist inzwischen verstorben.
Aladdin
War in diesem Theater zur Premiere im Dezember noch alles recht clean, hat der Saal inzwischen eine Patina von Glitter angenommen. Nirgendwo sonst dürfen Maskenbildner so viel Glitzer auftragen wie bei „Aladdin“. Konkurrenz könnte in dem Punkt höchsten die „Victoria Secret“-Unterwäsche-Show machen, die wird beim Einsatz von Bräunungsspray ebenfalls weit vorne liegen, aber allein durch die Häufigkeit der Shows gewinnt „Aladdin“ den Glitter-Weltmeistertitel. Und erst das ganze Gold! Am authentischsten sieht der Palast in der fiktiven Stadt Agrabah im Persien des dritten Jahrhunderts aus. Selbst Prinzessin Kate würde übersehen, dass es sich nicht um echtes Gold handelt.
Das Set gleicht in der Tat einem Schatz, einem schweren Schatz. 150 Tonnen schwer. Als die Bauarbeiten im Studio Hamburg fertig waren, wurden 40 Lkw benötigt, um die Teile in die Neue Flora zu bringen. „Die Bude hier bekommt von mir einen fetten Facebook-Like“, sagt dazu der Flaschengeist Dschinni, wobei wir gleich beim eigentlichen Star der Produktion sind und der humorvollen Ironie, die das Stück durchzieht.
In den Dialogen gibt es zahlreiche Anspielungen auf die deutsche Showbranche und das Musical-Business. Als Aladdin seinen Freunden beispielsweise vorschlägt, anstatt zu klauen künftig den Lebensunterhalt mit Shows auf dem Basar zu sichern, fragt sein Kumpel: „Wer gibt denn Geld dafür aus, anderen beim Singen und Tanzen zuzusehen?“ An diesem Abend allein 1850 Leute, die Show ist ausverkauft. Ob es an den vielen Sixpacks liegt, die man hier zu sehen bekommt? Fast alle tragen bauchfrei.
Die Kostüme bei „Aladdin“ sind noch aufwendiger als bei den anderen Musicals – und sie blenden mich. Die Stoffe und Tücher wurden mit Millionen Swarovski-Kristallen bestückt, 350 Mitarbeiter haben die 600 Kostüme hergestellt. Ob sie bei der Arbeit Sonnenbrillen trugen? Außerdem frage ich mich, wie die Darsteller in den Schuhen mit den nach oben gebogenen Schnäbeln überhaupt tanzen können (was sie in bester Bollywood-Manier machen). Aber kein anderes Kleidungsstück in der Geschichte der Mode weist schließlich einen solchen Gegensatz zwischen Bequemlichkeit und Optik auf wie ein Schuh, zumindest ein Damenschuh. In diesem Musical sind ausnahmsweise auch die Herren betroffen. Unter dem Gesichtspunkt darf „Aladdin“ als sehr frauenfreundliches Stück bezeichnet werden. Und es ist spendabel: Allein drei Millionen Euro kostete das Kostümbild. Vor diesem Hintergrund verstehe ich erst das Schild, das ich in der Kantine der Mitarbeiter gesehen habe: „Keine Kostüme. Keine Perücken. Keine Ausreden.“ Wer etwas essen will, muss die teuren Klamotten ausziehen. Wäre ohnehin zu heiß.
Den schweißtreibendsten Auftritt legt der Flaschengeist mit der Nummer „So ’nen Kumpel hattest du noch nie“ hin. Er singt, tanzt, steppt, scherzt um sein Leben und beweist, dass Männer in Pumphosen fast so gut aussehen können wie Männer in Spendierhosen. Die Musik schrieb übrigens ein Schwerkaliber: Der Komponist Alan Menken hat bereits acht Oscars gewonnen, er schrieb die Filmmusik für „Pocahontas“, „Die Schöne und das Biest“ sowie „Arielle, die Meerjungfrau“. Seine Klänge tragen neben den Kostümen maßgeblich dazu bei, sich als Zuschauer wie in einer arabischen Nacht zu fühlen. Selten erschien einem die Emirates-Direktverbindung von Hamburg nach Dubai so attraktiv.
In der Pause spreche ich an einem der wenigen nicht reservierten Stehtische (was ist das überhaupt für ein komischer Trend, Stehtische zu reservieren?) mit einer 19-Jährigen aus Hamburg und einer Mutter aus Köln. Die junge Frau findet das Stück ein bisschen zu kitschig, die Mutter perfekt. Ihre Kinder seien von dieser Disney-Produktion noch begeisterter als vom Film „Die Eiskönigin“. Eventuell können Eltern Musicals wie „Aladdin“ und „Der König der Löwen“ besser verstehen oder ihren Zauber schneller nachvollziehen als Besucher, die noch keinen Nachwuchs haben.
So wie Weihnachten einfach toller ist, wenn ein Kleinkind unterm Baum die Geschenke auspackt, so hilft beim Musicalgucken die rosarote Elternbrille, die ein Zuckerguss-Märchen nicht als Kitsch abtut, sondern als wertungsfreies: „Oh, wie romantisch.“ Erwachsene müssen das Staunen manchmal erst wieder lernen, und die besten Trainer dabei sind Kinder und Musicals.
Zuckerguss-Höhepunkt der Show ist der Kuss zwischen Aladdin und Prinzessin Jasmin. Eventuell müsste hier eine FSK-Kontrolle angedacht werden, so glaubwürdig und sexy bringen die beiden Verliebten das rüber. Dann singen sie das Duett „In meiner Welt“ und schweben zwölf Meter über dem Boden auf einem fliegenden Teppich umher.
Eine Spezialfirma aus Pennsylvania erdachte sich diese Illusion, ohne die das ganze Stück nie aufgeführt worden wäre. Das Teppich-Problem kursierte jahrelang durch das Disney-Reich, bis endlich eine Lösung gefunden war. Dennoch: Zwölf Millionen Euro Teppich-Entwicklungskosten für knapp drei Minuten Einsatz in der Show sind einem Controller bestimmt schwer zu vermitteln.
Nach der Show werfe ich noch einen Blick auf die Bühne. Sie glitzert. Viele der aufgeklebten Swarovski-Kristalle sind durch das Getanze und Geturne von der Kleidung gefallen. Dürfte man jetzt mit Handfeger und Kehrblech über die Bühne gehen, hätte man den Eintritt wieder drin.
Fazit
Was bleibt nach dem Musical-Marathon hängen außer dem Vorsatz, nie wieder Laugenbrezel zu essen? Das tiefsinnigste und deutscheste Musical ist „Das Wunder von Bern“; jeder, der sich für Sport und Geschichte interessiert, sollte reingehen. Für Kinder und Tierfreunde passt „Der König der Löwen“ am besten. „Liebe stirbt nie“ könnte Fans von schwierigen Beziehungen gefallen, und wer Ironie und Bauchmuskeln schätzt, sollte „Aladdin“ schauen. Hier merkt man allein am Tempo, dass es die modernste und jüngste der vier Shows ist. Übrigens die einzige, in der es nicht um Familientherapie und die Abarbeitung an der Vaterfigur geht. Bei „Der König der Löwen“ wird er schmerzlich vermisst, bei „Liebe stirbt nie“ gibt es einen zu viel, bei „Das Wunder von Bern“ möchten ihn seine Söhne zwischenzeitlich am liebsten töten. Sigmund Freud hätte genug Stoff gehabt für eine Doktorarbeit über ödipale Komplexe in modernen Musicals.
Interessant auch: In drei Stücken stellt eine der Hauptfiguren ihr bisheriges Handeln infrage und gibt Fehler zu. Wer macht das denn heutzutage noch, wo alle immer sofort eine Meinung haben und nur noch sammeln und googeln, was zu ihren Ansichten passt?
Das beste Paar mit der Chance auf eine eigene TV-Sendung würden übrigens Dschinni aus „Aladdin“ und Anette Ackermann aus „Das Wunder von Bern“ abgeben. Warum sie sich im Musical für den staubtrockenen Journalisten der „Süddeutschen Zeitung“ entscheidet, der seine Schreibmaschine einem Striptease ihrerseits vorzieht, bleibt komplett unverständlich. Man kann nur hoffen, dass nicht alle SZ-Reporter solche Prioritäten setzen.
Kurz bevor der Vorhang fällt noch eine Angeber-Info, die man vielleicht bei der nächsten Musical-Diskussion gebrauchen kann: Der preisgekrönte „Aladdin“-Komponist Allen Menken hält in seinem Anwesen vor New York riesige Schildkröten, weil seine Frau und er die wunderschön finden. Können Schildkröten eigentlich hören?