Anne Harms hält es irgendwann doch nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie springt auf und holt einen Aktenordner, dick wie drei Telefonbücher, aus dem Wandregal in ihrem Büro. Jeder dieser Ordner erzählt eine Geschichte. Von Flucht und Vertreibung, von Not und Schutzsuche. Und von dem mühsamen Kampf gegen behördliche Ablehnung und bisweilen haarsträubende Urteile.
Hier in der Eifflerstraße in Altona wurde vor 20 Jahren „Fluchtpunkt“ gegründet. Die Diplom-Sozialpädagogin hat die kirchliche Beratungsstelle für Flüchtlinge mit aufgebaut.
Anne Harms blättert durch die Seiten. „Sehen Sie hier.“ Es geht um einen älteren schwerkranken Mann aus Montenegro, der mit kurzen Unterbrechungen seit 18 Jahren in Hamburg lebt. Seine Frau ist vor Jahren gestorben, seine Kinder und Enkel leben hier, wurden auch in Hamburg geboren. Jetzt will ihn die Ausländerbehörde abschieben.
Mehrere Anwälte haben den Fall aufgegeben, bevor Fluchtpunkt eingeschaltet wurde. „Wir haben erst mal eine Eingabe beim Petitionsausschuss der Bürgerschaft gemacht, um Zeit zu gewinnen“, sagt Anne Harms. Um zu verhindern, „dass ein alter Mann in ein Land abgeschoben wird, in dem er alleine niemals überleben kann“. Die Behörde aber hat argumentiert, der Sohn könne doch seinen Vater begleiten, dann wäre der ja nicht mehr allein in Montenegro. Und das Gericht ist der Argumentation gefolgt.
Fluchtpunkt hat medizinische Gutachten erstellen lassen. Anne Harms hat sich die Akten noch einmal vorgenommen. Das penible Durchforsten von komplizierten Rechtsfragen ist ein ziemlicher Kraftakt. Und ungemein zeitaufwendig. „Wir können leider auch nicht über Wasser gehen“, sagt sie.
Wenn neue Flüchtlinge bei Fluchtpunkt klingeln, müssen Harms und ihre neun Mitarbeiter ständig abwägen: Wie hoch ist der Zeitaufwand? Wie groß sind die Chancen? „Wir können nicht allen helfen. Aber wir können auch nicht alle wegschicken, wenn die Not hier reinschwappt – obwohl wir doch schon so viele Fälle haben.“ Eine Wahl zwischen Pest und Cholera.
600 Akten sind es aktuell. 600 Schicksale. 600 Menschen, für die nach einem langen und gefährlichen Weg dieser Fluchtpunkt in Altona die letzte Hoffnung ist. Rund 7000 Personen waren es in den 20 Jahren. Gerade wieder steigt die Zahl der Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil sie dort um ihr Leben fürchten. In den ersten drei Wochen des Jahres haben bei Fluchtpunkt 90 Menschen um Hilfe gebeten.
Was sagt Anne Harms den Menschen, die der Meinung sind, Deutschland könne doch nicht jeden aufnehmen, der in Not ist? Sie lacht: „Natürlich können wir das nicht – aber das müssen wir ja auch gar nicht.“ Es sei ja sowieso nur ein winzig kleiner Teil der Flüchtlinge, der es überhaupt bis Europa und dann bis nach Deutschland schaffe. Da genüge doch ein Blick in die „Tagesschau“. Jeden Abend die Beiträge aus den überfüllten Flüchtlingslagern im Libanon oder in der Türkei. Kaum auszuhaltende Bilder aus Ländern, in denen es den Einwohnern sehr viel schlechter gehe als hier. Und die ihre Grenzen trotzdem nicht verschließen, wenn Menschen in Not sind.
Was hält sie von den Hamburgern, die per Gericht gegen Flüchtlingsunterkünfte in ihrer Nachbarschaft vorgehen? „Es gibt eben solche Leute“, sagt sie nur. Sie findet das „ein bisschen peinlich“. Und redet viel lieber über die vielen Bürger in der Stadt, die sich jetzt aktiv für Menschen in Not engagieren. „Wir bekommen hier jeden Tag, wirklich jeden Tag E-Mails von Menschen, die irgendwie helfen wollen.“ Beispiele? „Hallo, mein Name ist soundso, ich bin jetzt im Vorruhestand, wie kann ich Ihre Arbeit unterstützen?“ Oder: „Ich bin Lehrerin, ich arbeite nur noch halbtags und könnte den Flüchtlingen Deutschunterricht geben.“ Oder: „Wir haben in unserer WG noch ein Zimmer frei – kennen Sie jemanden, für den das infrage kommen könnte?“
Anne Harms macht gerade einen bemerkenswerten Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung beim Flüchtlingsthema aus. „Wir werden jetzt sehr häufig eingeladen, um über unsere Arbeit zu sprechen. Und überall gründen sich Unterstützerkreise und Initiativen, das macht mir Hoffnung.“
Und auch das Verhältnis zur Ausländerbehörde, so etwas wie der natürliche Gegner von Fluchtpunkt, sei zum Glück „auf die Sachebene“ zurückgekehrt. Das war schon einmal ganz anders.
Anne Harms erzählt vom Ende der 1990er-Jahre in Hamburg. Von staatlichen Rollkommandos, Abschiebehaft und Familientrennungen. Von einer drastischen Verkürzung der Aufenthaltsdauer abgelehnter Asylbewerber, um die Sozialhilfeausgaben zu senken. Von der Ausländerbehörde, die sich damals flugs vertraglich verpflichtete, festgelegte Abschiebequoten zu erfüllen. „Dafür wurden unter dem rot-grünen Senat 16 zusätzliche Stellen in der Abschiebungsabteilung eingerichtet.“
Die Folge: Wurden 1995 noch 1444 Flüchtlinge aus Hamburg abgeschoben, verdoppelte sich die Zahl schon acht Jahre später auf mehr als 3000. „Viele wurden in dieser Zeit ohne Vorwarnung morgens um vier aus ihren Betten geholt“, sagt Anne Harms. „Unter den Augen der Sachbearbeiter und der Polizeibeamten durften sie das Nötigste packen, mehr als 20 Kilo Gepäck pro Person sind nicht erlaubt. Für einen Abschied von Freunden und Nachbarn blieb keine Zeit. In Handschellen wurden Eltern abgeführt und mit ihren verstörten Kindern zum Flughafen gebracht. Oft wurde das Bargeld beschlagnahmt, weil sie die Kosten für die Abschiebung selbst tragen müssen.“
Manche Fälle machen ihr immer noch zu schaffen. Wie ein böser Traum ist das wohl. Anne Harms geht nach der Arbeit gern zu Fuß nach Hause. Sie wohnt in Eimsbüttel mit ihrem Mann und ihrem sechsjährigen Sohn. Sie nutzt die Zeit an der frischen Luft, um den Kopf wieder freizubekommen.
Woher kommt ihr bedingungsloses Engagement für Menschen in Not? Anne Harms hat nach dem Fachabitur Sozialpädagogik studiert. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über das „Leben in zwei Kulturen – die Situation von Flüchtlingskindern“. Sie hatte schon immer Freude an juristischen Themen, sagt sie. Sie hat sich anfangs bei Amnesty International engagiert. „Aber Briefe an Diktatoren zu schreiben, dass die doch bitte ihre politischen Gefangenen freilassen sollen, erschien mir irgendwann nicht mehr so sinnvoll.“
Sie hat dann in dem Arbeitskreis mitgearbeitet, der sich für die Einrichtung einer unabhängigen Flüchtlingsberatung engagiert hat. Die evangelische Kirche konnte als Träger gewonnen werden. Fluchtpunkt war geboren – und für Anne Harms war die Arbeit erst einmal erledigt. Als es anfangs aber nicht so recht lief, hat sie geholfen, „den Laden auf die Füße zu stellen“. Sie ist bis heute dabei geblieben. Mit Kirche hatte Anne Harms zuvor nicht viele Berührungspunkte. „Ich bin getauft und konfirmiert worden.“
Das Grundinteresse, sich einzusetzen und dem Staat auf die Finger zu gucken, hat ihr der Vater mitgegeben. „Er war zwar erst 16 Jahre alt, als der Krieg 1945 zu Ende war, aber er hatte immer große Schuldgefühle“, sagt Anne Harms. Gerade weil man sich nicht mehr hinter einer Diktatur verstecken könne, hat er gesagt, dürfe man sich nie um die Verantwortung drücken. „Ihr dürft nie die Klappe halten, hat er immer gesagt.“ Aber es sei „erstaunlich“, sagt Anne Harms, „wie gering die Bereitschaft von Behörden und Justiz ist, das Recht von Menschen anzuerkennen, die sie hier nicht haben wollen.“
Und was wird aus dem alten Mann aus Montenegro? Anne Harms hat beim akribischen Aktenstudium herausgefunden, dass das Land auf dem Balkan seinen Sohn wegen dessen ungeklärter Staatsangehörigkeit gar nicht aufnehmen würde. „Das wusste die Behörde auch, sie haben es trotzdem versucht und diesen Vorschlag gemacht.“
Noch ist der Fall nicht entschieden. Das Schicksal des alten Mannes bleibt ungewiss. Ohne Fluchtpunkt aber wäre er vielleicht gar nicht mehr am Leben.