Mutmacher Benjamin Piwko ist gehörlos. In seiner Kampfkunstschule lernen Erwachsene und Jugendliche, wie sie spielerisch ihre Energien und Aggressionen abbauen und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln können.Von Hanna Kastendieck

Manchmal ist es ihm zu laut. Dann möchte sich Benjamin Piwko die Augen zuhalten. Sie sind es, mit denen er die Sprache anderer hört. Manchmal ist es nur ein Blick, ein Stirnrunzeln, eine Geste, die mehr sagt als tausend Worte. Er erkennt den Ausdruck jeder Mimik, jede Anklage, Ungeduld, Ärger, Angst, aber auch Freude, Erwartung, Begeisterung. Er versteht alles. Auch wenn seine Welt still ist. Absolut still.

Benjamin Piwko ist gehörlos. Seit seiner Kindheit sind die Ohren taub. Eine Virusinfektion, verschleppt, nicht richtig behandelt. Die Krankheit setzte sich auf den Hörnerv. Und mit ihr kam die Stille. Das war 1980. Damals war Benjamin Piwko acht Monate alt.

Im Dojo, so nennt sich die mit Matten ausgelegte Sporthalle, steht ein Mann. 1,94 groß, dunkle Haare, durchtrainiert. Er trägt einen schwarzen Sportanzug. Seine Haltung verrät viel über ihn. Sie erzählt von Selbstbewusstsein, Willenskraft, Kampfgeist. Der Mann bewegt sich geschmeidig wie ein Mungo. Dann wieder schnell wie ein Falke. Bei jeder Bewegung sind die Muskeln unter Spannung. Die dunklen Augen sind hellwach, fokussiert. Dann fordert er seine Schüler auf, sich aufzustellen. Die Menschen im Raum fokussieren ihren Meister, den sie Sifu nennen. Er soll ihnen die Kunst des Kampfes lehren. Die Fähigkeit der totalen Körperkontrolle. Er soll ihnen zeigen, wie sich Kräfte mobilisieren und zur richtigen Zeit abrufen lassen. Der Mann, der sie anleitet, ist Benjamin Piwko.

Draußen, im normalen Leben, ist er es, der nichts hören kann. Der sich zurechtfinden muss in einer Welt aus Bildern und Gerüchen. Aber drinnen, in der Sporthalle in Ottensen, versteht er alles. Die Sprache, die hier gesprochen wird, hat er bis ins kleinste Detail studiert. Es ist die Sprache des Körpers.

Sifu Benjamin ist Kampfsportler, Motivationstrainer, Meister und gibt internationale Workshops. Er hat seine Kampfkunst selbst entwickelt. Er nennt sie Wun Boxing Thai Style Self-Defence – kurz: WBT Defence. Er trainiert Erwachsene, Kinder, Jugendliche. Zeigt ihnen, wie sie durch Selbstverteidigung mehr Ausdauer, Ausgeglichenheit und Selbstbewusstsein erlangen können. In der Elbschule Hamburg ist er fester Teil des regelmäßigen Unterrichts. Er ist mehr als ein Meister. Er ist ein Vorbild.

„Ich möchte anderen zeigen, wie man mit den Kräften umgehen kann“, sagt er. Die Worte wählt er bewusst. Bewegt die Laute im Mund, formt Silben, eine Melodie. Er kann sprechen, auch wenn die Sätze nicht immer gleich zu verstehen sind. Es war ein langer Weg zur Sprache. Und Sifu Benjamin weiß, dass er bei dieser Entwicklung fast alles seiner Mutter zu verdanken hat. Sie beschließt mit ihrem gehörlosen Sohn in die Schweiz zu ziehen, weil es dort bessere Möglichkeiten gibt, eine lautsprachliche Verständigung zu erlernen. In Meggen am Vierwaldstättersee lernt der kleine Benjamin im Alter von zwei Jahren in einer Privatschule zu sprechen und von den Lippen abzulesen. Um Vokale zu lernen, legt er eine Hand an den Kehlkopf des Lehrers und die andere auf den eigenen, denn ein A vibriert anders als etwa ein O. Immer und immer wieder vergleicht er. Solange, bis die Aussprache stimmt.

Er ist ein Kämpfer. Das spürt die Mutter. Als er mit sechs Jahren, zurück in Hamburg, zum ersten Mal die Bitte äußert, sich einen Kampftrainer suchen zu dürfen, willigt sie ein. Sie will, dass ihr Sohn Disziplin und Selbstbewusstsein erlernt. Er kommt vom Judo über Aikido, Wing Tsung, Kick-Boxen, Muay Thai, Thaiboxen und Boxen letztlich auch zu Escrima. 1995 entdeckt er schließlich Kung Fu von Al Dacascos für sich. Doch seine Mutter bremst ihn. Sie will, dass der Junge etwas Ordentliches lernt. Also macht er eine Ausbildung zum Tischler. Insgeheim aber hat er andere Pläne. 2001 beginnt er eine Ausbildung bei Fight Director Joe Alexander und wird gelernter Stuntfighter und Choreograf für Show und Film.

Er will seinen Traum umsetzen, geht nach Hawaii und macht seine Schwarzgurtprüfung bei Großmeister Al Dacascos. Dort entwickelt er seinen eigenen Kampfkunststil. Eine Mischung aus Boxen, Muay Thai, Grappling, Escrima, Selbstverteidigung und Kung Fu. Er bildet in den USA Spezialeinheiten der Marine im Nahkampf aus, wird zu einem gefragten Kampfgurtprüfer in Europa und Amerika. Im Sport erfährt er, wie stark Erfolge machen. Und dass über den Körper die seelischen Kräfte wachsen. „Die Kampfkunst hat mir viel gegeben. Selbstbewusstsein, Mut, Selbstvertrauen“, sagt er. „Sie schärft die Sinne.“ Das will er weitergeben. Diese Erfahrungen anderen Menschen zugänglich machen. Also gründet er 2008 seine eigene Schule.

Manche kommen, weil sie lernen wollen, wo die Kräfte ihres Körpers liegen. Und wie sie diese perfekt koordinieren können. Andere kommen, weil sie sich ein besseres Körpergefühl, eine stabilere Psyche oder gute Erfahrungen erkämpfen wollen. Durch die Fähigkeit Menschen zu lesen, brauchen sie gar nicht viel zu sagen. Er erkennt ihre Stimmung durch Körpersprache, Mimik und Gestik und versucht, durch seine Kampfkunst ihnen ein neues positives Lebensgefühl zu vermitteln. Es sind vor allem die Kinder, die Piwko an die Hand nimmt. Er erreicht viel mit seiner Art. Das weiß er. Bei einer Reise mit einem achtjährigen Schüler flog er für zwei Wochen zu einem Urlaubsprojekt nach Rhodos. Der Junge war gehörlos. „Ich wolle dem Kind mehr Kommunikationskompetenz vermitteln“, sagt Sifu Benjamin. „Ich wollte ihm zeigen, dass er für sein Handeln verantwortlich ist.“ Er weiß aus eigener Erfahrung, dass ein Gehörloser einem Gehörlosen ein besserer Mentor und ein greifbareres Vorbild sein kann als eine hörende Mutter. „Ich wünsche mir, dass ich nicht nur gehörlosen Kindern zeigen kann, dass mit ihnen alles in Ordnung ist, und dass wir uns alle Disziplin, Toleranz und Respekt aneignen müssen, um hilfsbereit, offen und freundlich auf die Welt zuzugehen und unsere Vorurteile und Ängste abzulegen“, sagt er.

Piwko selbst ist bestes Beispiel dafür, welche Möglichkeiten sich einem Menschen mit Handicap eröffnen, wenn er bereit ist, an sich zu glauben. Wenn er seinen eigenen Weg einschlägt und für seine Ziele kämpft. Er weiß, dass er selbst ein Glückskind ist, weil er im Leben immer Menschen an seiner Seite hatte, die an ihn geglaubt haben. Und dass er stark genug ist, auch mit Vorurteilen anderer gegenüber seiner Gehörlosigkeit zu leben. „Natürlich gibt es Begegnungen, die wenig erfreulich sind. Menschen, die Probleme haben, weil ich anders bin“, sagt er. „Die einen komisch angucken oder nicht richtig ernst nehmen.“ Am liebsten würde er diese dann mit auf die Matte nehmen. Er würde ihnen seine Kunst zeigen und sie lehren, mit sich selbst und anderen Menschen besser umzugehen.

Infos unter www.wbtdefence.com oder Telefon 0163-2016116