Als ihr Großvater an Demenz erkrankt, sucht Nadine Hagen eine geeignete Betreuung für ihn – eine wahre Irrfahrt. Hinzu kommt die schmerzhafte Erfahrung, dass die Krankheit nicht nur die Erinnerungen tilgt

Sexfilme nebenan. Ihr Großvater war sich ganz sicher, dass die in der Nachbarwohnung gedreht werden. „Schau mal“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Das ist doch unmöglich.“ Damit fing alles an. Nadine Hagen erinnert sich noch genau. Daran, dass sie beim ersten Mal lachen musste. Beim zweiten Mal stutzig wurde. Und plötzlich Angst bekam, als sie begriff, dass ihr Großvater keine Scherze machte. „Nein“, dachte sie. „Nicht mein Papa.“ Für sie ist ihr Großvater ihr Vater, bei ihm wuchs sie auf. Sie fing an, ihn zu beobachten. Was er tat, was er sagte. Dass er Geschichten oft zweimal erzählte. Und jeden Tag die gleichen Dinge im Supermarkt einkaufen ging. Sie suchte Worte für sein Verhalten, die beruhigend klangen. Er sei „tüdelig“, sagte sie zu ihren Geschwistern. „Vergesslich eben, unkonzentriert“. Das Wort Demenz wollte sie nicht denken.

Nadine Hagen ist 38 Jahre alt, Versicherungsangestellte. Eine gut organisierte Frau mit klaren Vorstellungen, wie die Dinge zu funktionieren haben. Ihr Großvater ist 78 Jahre alt. Vor einem Jahr starb seine Frau. Kurze Zeit später begannen die Irritationen. Und damit für Nadine Hagen die Odyssee durch den „Pflegedschungel“.

Wo anfangen, wenn der Großvater plötzlich halluziniert? Wenn er Dinge sieht, die nicht da sind? Wenn er vergisst, sich zu waschen, die Haare zu kämmen? Und gegen jeden Ratschlag immun ist? Wenn er seine Zähne im Glas vergisst, unzählige Male hintereinander anruft? Und immer wieder die gleichen Dinge erzählt? Es muss doch Hilfe geben, da war sich Nadine Hagen sicher. Menschen, die eine beruflich eingespannte junge Frau unterstützen, wenn es um die Versorgung eines an Demenz erkrankten Familienmitgliedes geht.

Also beantragt sie im Januar 2013 bei der Krankenkasse ein Gutachten zur Einstufung in eine Pflegestufe. Das Gespräch mit der Gutachterin, einer Krankenschwester, verläuft kurz. „Ob er sich allein waschen könne?“ – „Ja.“ „Ob er sich allein versorgen könne?“ – „Ja.“ Was er an diesem Tag gegessen hat, fragt sie nicht. Er hätte es auch nicht beantworten können. Das Ergebnis des Besuchs ist die Pflegestufe Null.

Nadine Hagen weiß, dass ihr Großvater allein nicht zurechtkommt. Weder sie noch ihre Geschwister können ihn dauerhaft versorgen. Also einen Heimplatz suchen, denkt sie. „Das kann ja nicht so schwer sein.“ 1700 Euro Rente hat ihr Großvater. Doch das reicht nicht für einen Platz in den Hamburger Häusern. Also schaut Nadine Hagen vor den Toren der Stadt, wird in Bad Bramstedt fündig. Die Heimleitung führt sie durch einen der Flure. Später nennt Nadine Hagen diesen Bereich den „Vorführflur“, weil hier alles sauberer ist, ordentlich und es gut riecht. Später weiß sie, dass es in der Realität nach Urin stinkt. Als sie ihren Großvater ein paar Wochen später in die Einrichtung bringt, ist das Zimmer, das er beziehen soll, noch vom Vormieter möbliert. Das Klo ist nicht abgezogen. Es gibt keinen Willkommensgruß. Nichts. Für Nadine Hagen sind die Erfahrungen, die sie bei den Besuchen im Heim macht, erschreckend. „Für 45 Bewohner gab es zwei Wohnbereichsmitarbeiter“, sagt sie. „Die alten Leute laufen in Windeln über den Flur. Sie sitzen teilnahmslos am Tisch, den ganzen Tag, bis sie abends wieder auf ihre Zimmer gebracht werden. Bewohner, die medikamentös ruhig gestellt werden. Menschen. Menschen, die ein Leben haben. Gefühle. Eine Vergangenheit. Ich dachte, Altenpflege hat etwas mit Herzblut zu tun. Aber es ist doch nur ein Wirtschaftsunternehmen.“

Die menschenunwürdigen Verhältnisse kann die junge Frau nicht ertragen. Als ihr Großvater bei jedem ihrer Abschiede bitterlich weint, beschließt sie, ein neues Zuhause für ihn zu suchen. Vorübergehend bringt sie ihn zu ihrer Schwester. Doch er hält sich nicht an die Regeln, lässt die Haustür offen stehen. Wenn seine Enkelin ihn darauf anspricht, reagiert er mit Unverständnis. Er kann sich an nichts erinnern. Sie versuchen es bei der anderen Schwester. Doch auch das klappt nicht. Als er den Hund mit Schokolade fast zu Tode füttert, ist klar, dass die Kinder ihren Großvater nicht mehr unbeaufsichtigt lassen können. Jeder Versuch, mit ihm zu reden, schlägt fehl. „Er versteht uns nicht, wird laut und unfreundlich, wenn wir ihn auf etwas hinweisen“, sagt Nadine Hagen. „Er spielt die Familie gegeneinander aus und erzählt Geschichten, an die er sich später nicht erinnern kann.“

Es muss ein neuer Heimplatz her, beschließen sie im Familienrat. Wieder beginnt die Suche. Über 60 Heime fragen sie an. Die meisten lehnen ihren Großvater wegen seiner Pflegestufe ab. Einige finden den an Demenz Erkrankten zu unfreundlich, schwierig, negativ. Sie wollen keine komplizierten Bewohner. Es gibt Wartelisten auf der einen Seite. Und einen Menschen auf der anderen Seite, der nicht mehr weiß, was er heute zum Abendbrot gegessen hat. Einen 78 Jahre alten Mann, der sein Geld mit vollen Händen ausgibt für Nichts. Einen Großvater, der einsam ist, mit dem man nicht reden kann. Und der sich verlassen fühlt von seiner Frau, verraten von der Welt. „Einen Vater, den ich liebe“, sagt Nadine Hagen.

Manchmal ist sie erschöpft. Erschöpft von den bedrückenden Situationen mit ihrem Großvater. Von der Erkenntnis, dass nichts besser wird. Dass aus dem stattlichen Mann, der zur See gefahren ist, als Hausverwalter beim UKE Verantwortung getragen hat, der vieles wusste und wenig vergaß, nur noch eine Hülle übrig geblieben ist. „Ein Kleinkind, das sich unverstanden fühlt“, sagt sie. Und: „Manchmal wünsche ich mir, dass er nicht mehr aufwacht.“ Dann wieder hat sie ein schlechtes Gewissen, weil er doch ihr Großvater ist, der sie wie ein Vater aufgenommen und umsorgt hat. Und sie so etwas nicht denken darf. Sondern sich kümmern muss. Und das Beste für ihn finden. Sie sucht weiter nach einem Zuhause. Einem Ort, an dem Menschen arbeiten, die nicht im Akkord Hintern waschen und Essen austeilen müssen. Einem Haus, in dem die Menschen, die dort wohnen, ernst genommen werden, mit all ihren Bedürfnissen, Eigenarten, Ecken und Kanten. Ihren Großvater hat sie für vier Wochen in der Kurzzeitpflege unterbringen können. Pro Seniore Residenz heißt das Haus in Lokstedt, das mit dem Slogan „Mehr Nähe“ wirbt. Als Nadine Hagen ihren Großvater dort anmelden wollte, schlug der Heimleiter vor, zu ihm nach Hause zu kommen, um sich in vertrauter Umgebung kennenzulernen. Nadine Hagen hat zum ersten Mal ein gutes Gefühl. Sie hat versucht, ihrem Großvater klar zu machen, dass sie aus Liebe handelt. Nicht aus Bequemlichkeit und schon gar nicht, weil sie ihm wehtun möchte. Ihr war klar, dass sie keinen Dank erwarten durfte. Aber insgeheim hat sie gehofft, er möge einlenken. Und verstehen. Doch er sagte nur: „Ach Nadine, wenn Mama das gewusst hätte, wie ihr mich behandelt.“

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29 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen leiden nach heutiger Einschätzung in ihrer letzten Lebensphase an Demenz. In Hamburg gibt es nach Informationen der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz zurzeit etwa 26.000 Menschen mit einer mittleren oder schweren Demenz. Für 2025 wird vor dem Hintergrund des demografischen Wandels eine Steigerung auf über 31.000 Erkrankte erwartet.

Die Behörde hat deshalb 2012 die Landesinitiative „Leben mit Demenz“ gegründet, die Projekte auf diesem Gebiet koordiniert und Menschen mit Demenz, wie auch deren Angehörigen, das Leben im Alltag erleichtern soll. Die Landesinitiative, in der sich über 40 Institutionen und Akteure in verschiedenen Projektgruppen zusammengefunden haben, hat bereits eine Reihe von Vorhaben begonnen. Im Rahmen eines Modellvorhabens der Hochschule für Angewandte Wissenschaften sollen im Stadtteil Lohbrügge Bewohner, Professionelle und Ehrenamtliche dazu angeregt werden, Menschen mit Demenz im Alltag mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen und ihre soziale Teilhabe im Umfeld als Selbstverständlichkeit anzusehen.

Es wird ein Schulungskonzept für Mitarbeiter von Hamburger Unternehmen entwickelt, wie sie im Alltag Demenz erkrankten Menschen begegnen sollten. Ihnen soll Basiswissen über Demenz und Hilfestellungen zur Kommunikation mit Demenzerkranken vermittelt werden. Es wurde eine Broschüre mit Empfehlungen für Hamburger Krankenhäuser zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit kognitiven Einschränkungen erarbeitet.

Zudem wird derzeit ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige erstellt, der voraussichtlich im ersten Quartal zur Verfügung stehen wird. Weitere Infos unter: www.hamburg.de/landesinitiative-leben-mit-demenz/