Als Großmutter beschloss die Türkin Emine Özdemir sich ihren größten Wunsch zu erfüllen: Die Analphabetin lernte bei dem Hamburger Verein Verikom lesen und schreiben.

Sie hätte sagen können, dass es sich nicht mehr lohnt. Sie hätte sagen können, dass sie zu alt dafür ist. Oder dass sie sich diese Herausforderung nicht zutraut. Sie hätte sagen können, dass sie bislang ja auch so durch’s Leben gekommen ist. Hat sie aber nicht. Weil Emine Özdemir der Meinung ist, dass es nie zu spät ist, etwas Neues zu beginnen. Sie ist 70 Jahre alt, kommt aus der Türkei. Aus einem kleinen Dorf in Ostanatolien. Sie weiß, wie man Brot backt, die Tiere versorgt, auf den Feldern erntet. Lesen, Schreiben, Rechnen aber hat sie nicht gelernt.

Jetzt sitzt sie in einem Raum von Verikom in Billstedt, einem gemeinnützigen Verein, der sich für interkulturelle Kommunikation und Bildung einsetzt. Sie holt eine Federtasche und ein Schulheft aus ihrer Tasche. Es ist Donnerstagnachmittag, Deutschunterricht bei Frau Karakurt. Acht Frauen nehmen an dem Alphabetisierungskursus für Migrantinnen teil. Sie sind zwischen 40 und 70 Jahre alt. Emine ist die Älteste von ihnen. Sie weiß, dass sie stolz auf sich sein kann. Das hat auch ihre Lehrerin gesagt. Weil es schon ein ganzes Stück Selbstbewusstsein und Willenskraft braucht, im hohen Alter von vorn anzufangen. Etwas zu tun, was im Grunde keiner mehr von ihr verlangt. Sich selbst aufzuraffen, anstatt in Bequemlichkeit zu verharren. Sie hätte diesen Kursus nicht beginnen müssen. Sie wollte es.

Die Entscheidung trifft Emine Özdemir nach dem Tod ihres Mannes Ali vor zweieinhalb Jahren. Er war an Lungenkrebs erkrankt. Sein Sterben war qualvoll. „Ich war in dieser Zeit völlig hoffnungslos“, erinnert sich Emine Özdemir. „Ich wäre am liebsten mit ins Grab gegangen.“ Doch sie ist gesund. Und wird gebraucht.

Sieben Kinder hat sie, elf Enkelkinder. Ihre erste Tochter wird geboren, da ist Emine 18 Jahre alt. Alle zwei Jahre kommt ein weiteres Kind dazu. Während Ali als Gastarbeiter im Tiefbau auf deutschen Straßen das Geld verdient, zieht Emine die Kinder auf, schickt sie in die Schule, kümmert sich um ihre Eltern. 1981 geht die Familie gemeinsam nach Deutschland.

Für die damals 38-Jährige ist es ein Schritt in eine ihr völlig fremde Welt. „Alles war schwierig“, erinnert sie sich. „Bahn fahren, einkaufen, Arzttermine.“ Ihr Mann und die Kinder regeln die Dinge für sie. Emine ist zwar in Deutschland zu Hause, ihre Welt aber bleibt eine türkische. 1984 erkrankt ihr Mann an einem Gehirntumor. Kurze Zeit später erleidet er einen Bandscheibenvorfall, 2007 kommt der Lungenkrebs hinzu. Zeit zum Lernen bleibt ihr keine. „Obwohl ich so gern lesen und schreiben wollte“, sagt sie.

Als Ali 2011 stirbt, fliegt Emine zur Bestattung in die Türkei. Sie denkt über ihr Leben nach. Darüber, dass sie nun allein zurechtkommen muss. „Und plötzlich bekam ich Angst“, sagt sie. „Ich hatte keine Ahnung, wie ich zurecht ommen soll.“

Es ist Tochter Naime, die vorschlägt, einen Alphabetisierungskursus für türkische Frauen zu belegen. Weil sie weiß, dass ihre Mutter ein unternehmungslustiger Typ ist. Und dass sie Ansprache braucht. Sie organisiert einen Platz bei Verikom. Im November 2012 sitzt Emine das erste Mal auf der Schulbank. Inzwischen ist sie im dritten von vier Semestern. Täglich außer freitags fährt sie mit dem 23er nach Billstedt. Dreieinhalb Stunden dauert der Unterricht. Zuhause kommen dann noch ein, zwei Stunden Hausaufgaben hinzu.

Enkel Leon, 9, ist ihre größte Stütze. Manchmal üben die beiden gemeinsam. Er ist stolz darauf, eine Oma zu haben, die wie er zur Schule geht.

Infos unter www.verikom.de oder Tel: 63857674