Marita Sommer war Military-Reiterin. Bis sie einen anderen Sinn im Leben suchte. Sie gründete “Hope for the children International“.
Der kleine Junge lag in einer vermüllten Wohnung. Seine Mutter hatte ihn dort zur Welt gebracht. Sie war 14 Jahre alt und hatte keine Perspektiven. Der Körper des Knaben war völlig versteift, als Marita Sommer, 59, ihn das erste Mal sah. Und dann waren da die Augen. Die Augen eines verlassenen Kindes.
Es sind diese Augen, die sie nicht loslassen. Dieser Blick, der ihr das Herz fast zerreißt. Damals wie heute, wenn die Gründerin des Kinderdorfes "Hope for the Children International" nach Rumänien fährt. Dann sieht sie die Kinder, überall. In den Straßen, auf den Plätzen und am Rande der Müllhalden. Kleine Menschen, die nichts kennen als Armut. Und Hunger. Und Angst.
Und Marita Sommer möchte sie mitnehmen. Am liebsten alle. Dorthin, wo es Hoffnung für sie gibt. Menschen, die sich um sie kümmern. Ihnen Geborgenheit geben, Wärme, einen Platz, wo sie erleben dürfen, dass Kindheit Unbeschwertheit bedeuten kann. Einen Ort, an dem sie in die Schule gehen können, Freundschaften schließen, Perspektiven entwickeln. Das Waisenhaus in Dorohoi, ganz im Nordosten Rumäniens, nur 150 Kilometer von Tschernobyl entfernt, ist ein solcher Ort.
Es gibt ihn seit 2001. 28 Kinder haben dort ein neues Zuhause gefunden. Sie leben gemeinsam mit ihren Pflegefamilien in sogenannten Familienhäusern. Jede Familie betreut sieben Kinder. Es gibt einen Kindergarten und eine Schule, auf die auch Kinder von außerhalb gehen dürfen. 170 Schüler und bis zu 60 Kindergartenkinder werden hier inzwischen betreut.
Zehn Jahre zuvor war das Land, auf dem heute die Hoffnung der Kinder zu Hause ist, eine große Brache. Es war der Winter 1991 und Marita Sommer hatte sich auf den Weg gemacht in ein Land, das im Chaos zu versinken drohte. Jahrzehntelange Diktatur und Misswirtschaft hatten Rumänien schwer zugesetzt. Allein in Dorohoi, einer Stadt mit 20.000 Einwohnern, gab es vier Waisenhäuser mit über 1000 verlassenen Kindern. Wo Marita Sommer hinschaute, sah sie in diese Kinderaugen.
Und sie war tief berührt. Weil sie in diesen Blicken sah, was sie selbst als Kind so stark empfunden hatte: Einsamkeit. "Ich hatte keine glückliche Kindheit", sagt sie. "Meine Mutter war 25 Jahre alt, als unser Vater sie mit drei Kindern allein ließ." Von da an muss Marita für die Geschwister sorgen, während die Mutter arbeitet. Sie ist völlig ohne Zuwendung. "Ich habe mir immer gewünscht, nur eine einzige Person würde mich mal anschauen", sagt sie. "Und da wäre jemand, der mich erkennt." Hungrig nach Liebe, Geborgenheit und Zugehörigkeit verlässt sie die Heimatstadt im Oberbergischen und zieht in die Nordheide. Sie hat sich der Reiterei verschrieben, verbringt Tag und Nacht im Stall. Sie will als Military-Reiterin die Beste werden, von der Sehnsucht getrieben, im Mittelpunkt zu stehen. Ihr Plan geht nicht auf. Mit 17 erkrankt sie an Brustkrebs. Sie fällt in eine tiefe Depression. "Jetzt sterben?", denkt sie. "Unmöglich." Während der Therapie wird ihr klar, wie sehr sie am Leben hängt. Wie kostbar diese Zeit ist. Und dass man nichts festhalten kann.
Dennoch kriegt sie die Kurve nicht. Sie fängt an zu trinken, lässt sich immer weiter fallen. Bis sieben Jahre später erneut Metastasen festgestellt werden. Im Krankenhaus beschäftigt sie sich mit dem christlichen Glauben. "Der Glaube hat mir neuen Halt gegeben", sagt sie. "Ich habe Jesus mein Leben in die Hand gegeben." Jetzt weiß sie, wo sie hingehört, jetzt fühlt die junge Frau eine Bestimmung. Sie schließt sich der christlichen Jugendorganisation "Youth with a mission" an, leitet christliche Projekte im Ausland. Bis die Bilder aus Rumänien kommen. "Das Land der lebenden Toten" titelt das Magazin "Der Spiegel" im November 1989 und berichtet vom Leid der 23 Millionen Rumänen unter dem ungebrochenen Terror ihres Conducators Ceausescu: "Schon dem Fötus fehlt die Nahrung. Den Müttern mangelt es an Milch, ihre Babys zu stillen, da sie selbst nie genug zu essen hatten. Die Menschen hetzen auf der verzweifelten Suche nach einem Krümel Brot umher, oft vergebens. Der chronische Mangel an Grundnahrungsmitteln lässt Generation um Generation verkommen. Wenn der Winter kommt, droht Kindern, Müttern, Alten der Tod durch Erfrieren. Babys werden in der Kälte geboren und erst nach vier Wochen registriert, um die katastrophale Kindersterblichkeit zu verschleiern ..." Marita Sommer liest den Artikel und weiß: "Da musst du hin."
1991 packt sie zum ersten Mal mit ein paar Freunden einen Lieferwagen mit Handtüchern, Zahnpasta, Spielzeug und Kleidung. 2000 Kilometer fahren sie, 28 Stunden nonstop. Es ist eine anstrengende Reise. Aber sie fühlt sich richtig an. Viermal im Jahr machen sie diese Tour. 1995 beschließt das Team, dass diese Hilfe nicht reicht. "Ein Kind braucht ein Zuhause." Mit einem Netzwerk von Freunden und Helfern gelingt es ihr, ein Stück Land zu erwerben. Sie trifft Menschen, die bereit sind, nach Rumänien zu gehen und ihr Leben für die Kinder zu geben, die niemand will. Und sie baut Häuser, eine Kita, die Schule. Die Menschen, die hier als Pflegeeltern ihre ganze Kraft und Liebe investieren, müssen sich auf mindestens 20 Jahre festlegen. Sie werden von christlichen Freundeskreisen finanziert. Doch ihr eigentlicher Lohn sind das Lachen, die Freude und der fröhliche Blick der Kinder. Der kleine Junge, den sie damals aus der vermüllten Wohnung rettete, ist heute 14. Er ist gebildet, selbstbewusst und stark. Er ist ein Kind in Rumänien, das Hoffnung macht.