Die Stiftung Off-Road-Kids kümmert sich bundesweit erfolgreich um Straßenkinder und bietet ihnen Perspektiven
Der Junge hockt am Boden und friert erbärmlich. Er ist verzweifelt und allein. 15 Grad minus haben die Stadt eingefroren. Es ist bitterkalt auf der Reeperbahn - und das ist nicht die einzige Gefahr, die dem 16-Jährigen droht. Er gehört jetzt zu Hamburgs Straßenkindern. "Die Straße ist alles andere als eine gute Kinderstube. Hier drohen Lebensgefahren wie Hepatitis C oder HIV. Sozialromantik ist fehl am Platz", erklärt Benthe Müller mit ernstem Ton und spricht den 16-Jährigen an. Sie ist Streetworkerin, leitet die Hamburger Station der Off-Road-Kids-Stiftung, der einzigen Hilfsorganisation, die sich bundesweit um Straßenkinder kümmert.
"Bundesweit" ist von großer Bedeutung, denn zuständig für einen Jugendlichen ist das Jugendamt am Wohnort der Eltern. Für Hamburgs Ämter endet der Aktionsradius an den Stadtgrenzen - nicht aber für Benthe Müller. Sie kann mit Ausreißern jederzeit in deren Heimat fahren: "Geschwindigkeit zählt bei der Suche nach der tragfähigsten Lebensperspektive. Jeder Tag auf der Straße ist einer zu viel. Wir dürfen da nicht zuschauen. Mein Job ist es, etwas zu unternehmen", betont die Sozialarbeiterin, die mit ihrem Streetwork-Team eisern an den mitunter kompliziertesten Jugendhilfefällen Deutschlands arbeitet. Sie setzt auf Freiwilligkeit, muss aber auch manchmal hart durchgreifen, beispielsweise wenn sehr junge Kids harte Drogen nehmen. Dann alarmiert sie Familienrichter, Jugendämter und Polizei: "Alles andere wäre unverantwortlich."
Die 34-Jährige macht den Job seit sieben Jahren, und sie macht ihn gerne. Davor arbeitete sie mit Schwerstabhängigen: "Wir müssen schneller sein als Drogendealer und Freier." Genau diesen Gedanken hat sie auch beim Anblick des 16-Jährigen auf der Reeperbahn. Sie erkundigt sich, wie es ihm gehe, wo er herkomme, was er sich für seine Zukunft vorstelle. Benthe Müller will das Vertrauen des Jungen erlangen. Sie möchte, dass er sie nach St. Georg ins Streetwork-Büro begleitet.
Im Büro ist es warm, Essen gibt es keines. "Wir füttern die Kids nicht. Wir bieten ausnahmslos Perspektiven", bringt Benthe Müller das pädagogische Prinzip der Stinftung Off-Road-Kids auf den Punkt: "Wenn wir das Straßenleben bequem machen, gibt es kaum noch Gründe für die Kids, an einer neuen Lebensperspektive mitzuarbeiten. Die Kids und vor allem die jungen Volljährigen schätzen das."
Die nüchternen Zahlen, hinter denen sich erstaunlicherweise weniger Armut als vor allem extrem dramatische Familienzerwürfnisse verbergen, belegen Benthe Müllers Erfahrung: 72 junge Menschen hat allein ihr Hamburger Team im vergangenen Jahr dauerhaft vor dem Straßenleben bewahrt, seit 2006 sogar 341. Etwa die Hälfte waren Kids und junge Volljährige, die zwar nachts noch ab und an "zu Hause" schliefen; alle anderen lebten bereits völlig auf der Straße. Die Hansestadt habe magnetische Wirkung auf Ausreißer, so Benthe Müller. Bundesweit summiert die Stiftung mittlerweile über 2300 Minderjährige und junge Volljährige, denen seit 1993 erfolgreich geholfen werden konnte. "Es muss in Deutschland keine Straßenkinder geben", sagt Journalist Markus Seidel. Er sah im Jahre 1992 Fernsehberichte über Straßenkinder in Deutschland und handelte. Seidel erkannte: "Wir haben das opulenteste Jugendhilfesystem der Welt und zugleich das ineffizienteste. Der staatlichen Jugendhilfe fehlt es an Geld und Willen, Ergebnisse zu erreichen." Obendrein mache jeder Landkreis sein eigenes Ding.
Seidel schrieb 1993 das Buch "Straßenkinder in Deutschland". Um die Existenz dieser Kids unumstößlich zu beweisen, gründete er die erfolgreiche Hilfsorganisation Off-Road-Kids und erfand die bundesweite Straßensozialarbeit. Das war vor 20 Jahren. Heute betreibt die Stiftung Streetwork-Stationen in Berlin, Dortmund, Hamburg und Köln und zwei Kinderheime im Schwarzwald - für Notfälle. Doch Hilfe vom Staat gebe es keine. Die Streetwork-Arbeit braucht dringend Spenden, um weitere Kinder und Jugendliche von der Straße zu holen.
Spendenkonto: Off-Road-Kids-Stiftung, Volksbank Villingen, Konto: 10 10 10, BLZ 694 900 00. www.offroadkids.de
Infos und Adressen für Obdachlose: www.hamburg.de/obdachlosigkeit