Mit 15 Jahren schmiss er die Schule, hatte einfach keinen Bock mehr. Eine Gesetzesnovelle verhilft Marcel Gotal zu seinem Hauptschulabschluss.
Hamburg. Es war während der Schulabschlussfeier seines Cousins, als Marcel Gotal merkte, dass sein Leben so nicht weitergehen kann. Mit 15 Jahren schmiss er die Schule, hatte einfach keinen Bock mehr. Ein Jahr hing er zu Hause herum, wusste nicht, was er mit seinem Leben anstellen soll, und spielte die meiste Zeit am Computer. Eine Feier für den Schulabschluss - wie die seines Cousins - war weit entfernt.
Langsam dämmerte ihm, dass er sein Leben jetzt selbst in die Hand nehmen muss, schon allein, um sich nicht ständig als schwarzes Schaf der Familie zu fühlen: "Bei uns haben alle eine Ausbildung und einen Schulabschluss. Ich wollte einfach nicht mehr der Einzige sein, der sein Leben nicht auf die Reihe bekommt. Und ich wollte auch, dass meine Familie stolz auf mich ist."
Also wandte sich Marcel, heute 19 Jahre alt, an die Arbeitsagentur und hatte Glück: Am 1. Januar 2009 trat das sogenannte Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente in Kraft, das einen für Marcel wichtigen Passus enthält: Demnach hat jeder einen Anspruch auf Förderung eines Hauptschulabschlusses. Vorher wurden nur Jugendliche bis 25 Jahre, die arbeitslos gemeldet waren, von der Arbeitsagentur finanziell unterstützt. Seinen Abschluss hätte Marcel folglich aus eigener Tasche bezahlen müssen, da er kein Arbeitslosengeld bezog.
Am 1. November 2009 konnte er nun aber an der Grone-Schule in Hammerbrook seinen Hauptschulabschluss nachholen, kostenlos und als Vollzeitjob in sechs Monaten. "Die Alternative wäre gewesen, den Abschluss an der Abendschule nachzuholen. Das hätte viel zu lange gedauert. An der Grone-Schule hatte ich jeden Tag von 8 bis 15 Uhr Unterricht, danach meistens noch Nachhilfe. Nur mit diesem intensiven Aufwand konnte ich die Hauptschulprüfung bestehen", sagt Marcel.
Normalerweise ist das Programm auf neun Monate ausgelegt, aber Marcel überzeugte die Dozenten im Unterricht, sodass Sabine Salphie, Projektleiterin des Hauptschulabschlusses des Grone Netzwerks, und ihre Kollegen entschieden, Marcel verkürzen zu lassen: "Er zeigte sich im Unterricht sehr aufnahmefähig, hat alles sehr schnell verstanden." So konnte der Harburger bereits im Juni 2010 seinen Abschluss ablegen.
Stolz und glücklich ist er, weiß aber auch, dass er seinen Hauptschulabschluss einfacher hätte bestehen können: "Als ich die Schule abgebrochen habe, da war mir gar nicht klar, was es bedeutet, ohne Abschluss dazustehen. Dass man ohne Abschluss keine Chancen in der Arbeitswelt hat."
Dabei war Marcel früher auf einem guten Weg. In der Grundschule gehörte er zu den Klassenbesten in Mathematik, rechnete bereits in der ersten Klasse die Aufgaben für Drittklässler, wurde von der Lehrerin gefördert. Er ging gerne zur Schule. Dann der Wechsel auf die Gesamtschule Harburg: Mit mehr als 1600 Schülern hatten die Lehrer schlichtweg keine Zeit, auf Einzelne einzugehen. Marcels Noten sackten ab, er lernte neue Freunde kennen. Schule wurde immer unwichtiger.
In der achten Klasse begann Marcel, den Unterricht zu schwänzen - erst einen Tag, langsam immer mehr, schließlich auch mal zwei Wochen am Stück. "Es war einfach cool, nicht in die Schule zu gehen. In meiner Clique haben das alle gemacht. Wir haben uns dann lieber in der Stadt getroffen oder waren beim HSV-Training zum Zugucken. Das war einfach spannender als Schule." Mit der Zeit agierte Marcel immer gewiefter: "Ein Attest bekommt man beim Arzt unheimlich leicht. Und sonst habe ich eben in der Schule angerufen und mich als meinen Vater ausgegeben." Die Lehrer riefen zwar zu Hause an, doch der damals 15-Jährige war schon mittendrin im selbst gewählten Teufelskreis: "Wenn man einmal zu schwänzen angefangen hat, dann hört man auch nicht wieder auf", sagt er.
In der neunten Klasse folgten die Konsequenzen. Damals hatte Marcel so viele Fehltage und derart schlechte Noten, dass er auf die Hauptschule Sinstorf wechseln musste, wo alles nur noch schlimmer wurde. "In der Gesamtschule hatte ich wenigstens Kontakt zu meiner Klasse. Aber in der neuen Schule kannte ich niemanden und habe auch nicht gleich Freunde gefunden. Die erste Woche war ich noch da, und dann habe ich die Schule komplett abgebrochen." Es folgten lange Diskussionen mit der Familie, eine Zeit, an die Marcel nicht gerne zurückdenkt.
Dass Marcel nun in seine Zukunft investiert hat, bestätigt auch Hans-Martin Rump, operativer Geschäftsführer der Arbeitsagentur Hamburg: "Für Hamburg zeigt sich, dass 93 Prozent der Arbeitslosen ohne Hauptschulabschluss auch keine Berufsausbildung haben. Wenn dann wiederum die Hälfte der Arbeitslosen keinen Berufsabschluss hat, sieht man, wie wichtig ein Schulabschluss für die Karriere ist."
Marcel Gotal hat momentan sechs Bewerbungen für Ausbildungsstellen im Rennen. Sollte es bis zum 1. August nicht klappen, "bewerbe ich mich eben für die Realschule, um meinem Traumberuf Auto-Mechatroniker einen Schritt näherzukommen."