Hamburg . Horst Bartsch kaufte einen manipulierten Tiguan I. Das Landgericht sprach ihm einen neuen Tiguan II zu. Jetzt entscheidet das OLG.
Bisher kaufte Frederik Wietbrok Autos nur von Volkswagen – momentan fährt der Anwalt einen VW Touran. An den Fahrzeugen schätzt er vieles, das Aussehen etwa und die Technik. Eine Sache lässt ihn allerdings mit seiner bevorzugten Marke hadern: Dass der Weltkonzern seine Kunden jahrelang nach Strich und Faden belogen hat. Andererseits hat die 2015 aufgedeckte Manipulation der Motorensteuerung bei rund 2,6 Millionen Autos allein in Deutschland seiner Kanzlei Hunderte verärgerte VW-Kunden beschert. Die vertritt er inzwischen bundesweit.
Läuft es gut für den Harburger Rechtsanwalt, könnte er zum Albtraum der Wolfsburger Autobauer werden. Für seinen Mandanten Horst Bartsch hat er bereits im März vor dem Landgericht ein Urteil (Az.: 329 O 105/117) erstritten, das eine enorme Strahlkraft entfalten könnte – falls es rechtskräftig wird. Das Gericht verpflichtete ein Hamburger VW-Autohaus, einen vom Abgasskandal betroffenen Tiguan zurückzunehmen und gegen ein fabrikneues Nachfolgemodell zu tauschen – obwohl der Kläger ein Software-Update zur Mängelbehebung aufgespielt bekommen hatte.
Weil das Autohaus Berufung einlegte, befasst sich von heute an das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) mit dem Fall. Sollte das Urteil vor dem OLG Bestand haben, könnte es nicht nur richtungweisend für die untergeordneten Gerichte in Hamburg sein, sondern auch Einfluss auf die Verfahren in anderen Bundesländern haben.
So wie Wietbrok es sieht, könnten Betroffene dann das Update aufspielen lassen und vor Gericht trotzdem eine weiter bestehende Mangelhaftigkeit der manipulierten Autos geltend machen. „Nur so kann das angestrebte hohe Schutzniveau im Verbraucherschutz erreicht werden“, sagt Wietbrok.
Rückabwicklung des Kaufvertrags möglich
Zwei Tage vor Verhandlungsbeginn sitzt Kläger Horst Bartsch in Wietbroks Harburger Kanzlei. Der 77-Jährige aus Geesthacht lässt jeden Satz seines Anwalts durch ein energisches Nicken mit einem Ausrufezeichen enden. Bartsch sagt, er sehe dem Rechtsstreit gelassen entgegen – vielleicht weil es für ihn eine weitere Option gibt. Er könnte die Klage noch abändern und auf Rückabwicklung des Kaufvertrags klagen.
Allerdings wäre dann ein Nutzungsabschlag von mehreren Tausend Euro auf Basis der bereits mit seinem Tiguan gefahrenen Kilometer fällig. Etwa 50.000 Kilometer sind es bisher. „Da bleiben wir doch lieber bei Variante eins“, sagt Bartsch.
Auch Bartsch schwört auf VW, vor dem Tiguan fuhr er einen Touran, davor einen Golf. Im März 2015 kauft er bei dem VW-Autohändler für 42.000 Euro einen Tiguan I in der Ausführung „Sport & Style 4“ mit 140 PS. „Dass im Herbst der Tiguan II eingeführt werden sollte, hat mir da leider niemand gesagt“, sagt Bartsch. Das ärgere ihn noch heute. Am meisten ärgert ihn aber, dass in seinem Tiguan einer der manipulierten Diesel-Motoren vom Typ EA189 steckt.
Update birgt Schaden für den Nutzer
Rückblende. Als der Abgasskandal im September 2015 auffliegt, fällt der 77-Jährige aus allen Wolken. In den Zeitungen, im Fernsehen – überall berichten sie von den Machenschaften der Wolfsburger Autobauer. Nach wenigen Wochen fühlt sich Bartsch zermürbt und denkt: Was ist mein tolles, neues Auto jetzt noch wert? Dann werden die ersten Wagen zurückgerufen; ein verpflichtendes Software-Update soll die Manipulationssoftware entfernen.
Es dauert nicht lange, da hagelt es Beschwerden. Autofahrer beklagen einen stärkeren Verschleiß oder einen höheren Verbrauch nach dem Update. Bartsch lässt es trotzdem installieren. „Das habe ich nur aus Angst davor gemacht, dass mein Wagen sonst stillgelegt wird.“
Einen halben Liter Diesel mehr schluckt sein Tiguan nach dem Update – das weiß Bartsch so genau, weil er seit Jahrzehnten Buch führt, wenn er tankt. Dem Rentner reicht es, er fühlt sich von VW verschaukelt. Er will keinen fast neuen Wagen mit so gravierenden Mängeln und einem derartigen Wertverlust.
Darum siegte Bartsch vor Gericht gegen VW
Im März 2017 fordert er in seiner „Nacherfüllungsklage“ gegen den Autohändler einen einwandfreien Neuwagen. Ein Jahr später gewinnt er. Es bestehe der plausible Verdacht, dass das Softwareupdate keine ausreichende Nachbesserung und der Wagen weiter mangelbehaftet sei, urteilt das Gericht. Auch gehe das Update mit einem höheren Verschleiß der Motorteile einher. Einen Mangel bestreiten die VW-Anwälte jedoch.
Zudem halten sie die Lieferung eines Ersatzwagens für unverhältnismäßig und unmöglich, weil die erste Tiguan-Modellreihe gar nicht mehr produziert wird. Das Gericht teilt diese Position nicht und entscheidet: Der VW-Händler muss dem Kläger einen Tiguan II liefern. Das neue Modell ist rund 5000 Euro teurer als Tiguan I.
Weist ein Auto Mängel auf, kann der Kunde innerhalb von zwei Jahren einen Nacherfüllungsanspruch geltend machen. In den bisherigen Klageverfahren gegen VW-Händler sahen viele Gerichte den Mangel jedoch als behoben an, wenn der Kunde das Update aufgespielt hatte. Und den Anspruch auf einen Neuwagen als Ersatz konnten die Kläger meist nur durchsetzen, wenn der schadhafte alte und der neue Wagen der gleichen Gattung angehörten, sich also in Motorisierung und anderen Merkmalen nicht deutlich unterschieden. Im Fall von Bartsch’ Tiguan, so die Position der VW-Anwälte, handele es sich aber praktisch um ein anderes Auto. Im Verfahren vor dem OLG dürfte es vor allem auf diesen strittigen Punkt ankommen.
VW bekommt nicht immer Recht
Zwar fielen die Gerichtsurteile regional höchst unterschiedlich aus, sagt Wietbrok. „Tendenziell haben die Kläger aber bessere Erfolgsaussichten als vor zwei Jahren.“ Das belegt auch eine vom ADAC veröffentlichte Liste mit 1101 Verfahren, in denen VW-Händler oder der Konzern selbst auf Schadenersatz, Rückabwicklung des Kaufvertrags oder Nachlieferung eines Neuwagens verklagt wurden. 729-mal entschieden die Gerichte zugunsten der Käufer, 372-mal zugunsten von VW.
Am OLG in Hamburg sind 38 Verfahren anhängig, acht weitere haben sich durch Rücknahme der Klage oder der Berufung erledigt. „Knapp die Hälfte der Klagen hatte in erster Instanz zumindest teilweise Erfolg, etwas mehr als die Hälfte wurde abgewiesen“, sagt Gerichtssprecher Kai Wantzen.
Bartsch will in der Sache jedenfalls nicht nachgeben. Er werde weiterkämpfen, sagt er – notfalls bis zum „Endspiel“ am Bundesgerichtshof.