Hamburg. Forscherin hellt riesiges Dunkelfeld auf. Angriffe gehören für viele Feuerwehrleute und Rettungsassistenten längst zum Alltag.
Leben zu retten, ist Philipp Baumanns Job. Paradoxerweise muss er dabei immer wieder Prügel einstecken.
Am 25. Januar, gegen 8.30 Uhr, wird der Notfallsanitäter der Feuerwache Altona zu einem Rettungseinsatz am S-Bahnhof Reeperbahn gerufen. Ein Mann, Mitte 40, liegt auf dem Bahnsteig, „hilflose Person mit schlechtem Allgemeinzustand“, steht in der Einsatzmeldung. Kurz darauf trifft Baumann mit einem Kollegen ein. Er untersucht den Mann, klippt ein Sauerstoffmessgerät an einen Finger. Plötzlich, während Baumann über ihn gebeugt ist, versucht der Patient, ihm zweimal ins Gesicht zu treten, erwischt aber nur seinen Bauch.
Angriffe wie dieser sind für viele Feuerwehrleute und Rettungsassistenten ziviler Hilfsorganisationen längst Alltag. Der 32 Jahre alte Baumann spricht von „zwei bis drei körperlichen Übergriffen“, die er jedes Jahr erlebe, die „zahllosen Pöbeleien“ nicht mitgerechnet. Seit 2008 ist Baumann für die Hamburger Feuerwehr im Rettungsdienst tätig, seither hat er fünfmal Anzeige erstattet – doch bisher wurde nur ein Fall vor Gericht verhandelt. „Schon mehrfach bin ich im Dienst gekratzt, gebissen, getreten und sogar mit Blut bespuckt worden“, sagt er.
40 bis 50 Vorfälle fließen jedes Jahr in die offizielle Statistik ein
Dass Hamburgs Retter angegriffen werden, ist lange bekannt. Rund 40 bis 50 Vorfälle fließen jedes Jahr in die offizielle Statistik ein. Neu und hochbrisant ist hingegen, dass das Dunkelfeld viel, sehr viel größer ist als bisher angenommen. Das belegt die Doktorarbeit der Hamburgerin Janina Lara Dressler für das kriminologische Institut der Universität Bonn. Zwei Jahre lang hat die 28-Jährige, deren Vater selbst Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr ist, zum Thema „Gewalt gegen Rettungskräfte“ in den vier größten deutschen Städten Berlin, Hamburg, München und Köln geforscht. Sie hat 1659 Retter befragt und mehr als 4000 Übergriffe dokumentiert. Allein in Hamburg hat sie für ihre empirische Studie 487 Rettungskräfte schriftlich und weitere mündlich an 25 Feuerwachen befragt. 1600 „strafrechtlich relevante Übergriffe“ habe sie erfasst.
Die Vorfälle, von denen ihr die Rettungskräfte berichteten, klangen häufig ähnlich. Sie gaben an, angerempelt, geschubst oder bespuckt worden zu sein. Und das war noch vergleichsweise harmlos. Rund ein Drittel der Interviewten berichtete, schon mal mit Feuerwerkskörpern beschossen, mit Steinen beworfen, mit Waffen, sogar mit Molotowcocktails bedroht worden zu sein. Auch die Senatsantwort auf eine Kleine Anfrage des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Dennis Gladiator belegt, welcher Aggressivität die Retter mitunter ausgesetzt sind. Demnach müssten sie unter anderem „Bisse, Tritte in den Unterleib, Schläge ins Gesicht, Angriffe mit Glasflaschen und Bedrohungen mit Messern“ erdulden.
Schwere Verletzung kommen selten vor
Über die Ursachen für die Exzesse gegen Rettungskräfte weiß Dressler wenig. Sie habe nur die Opfer, nicht die Täter befragt. „Die Betroffenen hatten meist den Eindruck, dass sie nicht respektiert werden“, sagt sie. Mehrere Interviewte gaben beispielsweise an, dass sie bei Unfalleinsätzen von Autofahrern angefahren worden waren – offenbar, weil sie mit den Absperrmaßnahmen nicht einverstanden waren und rasch ihren Weg fortsetzen wollten. „Hinzu kommen kulturelle Differenzen und dass Feuerwehrleute als Teil der Obrigkeit gesehen werden.“ Um bei einigen Menschen ins Feindbild zu passen, reiche häufig schon das Tragen einer Uniform aus.
Dass Retter im Dienst schwer verletzt werden, komme glücklicherweise selten vor. Die extreme Diskrepanz zu den jährlich 40 bis 50 gemeldeten Übergriffen in Hamburg erklärt die Forscherin mit der Frustration der Betroffenen. Einmal sei der bürokratische Aufwand enorm: Meldebögen müssten ausgefüllt, eventuell Stellungnahmen für die Strafverfolger geschrieben werden. „Die meisten erleben dann trotzdem, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellt“, sagt die 28-Jährige. Diese Mühe sei es vielen nicht wert. „Nach einem Faustschlag ins Gesicht heißt es: Kühlpack drauf, fertig“, sagt ein Feuerwehrmann, der anonym bleiben möchte.
300 der befragten Retter in den vier Städten hätten nach Übergriffen Strafanzeige gestellt, nur 90 Verfahren seien aber vor Gericht gelandet, Und gerade mal neun davon endeten mit einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. „Bei den Betroffenen entsteht so der Eindruck, es ändere sich eh nichts.“ So sieht es auch Daniel Dahlke, Landeschef des Feuerwehr-Berufsverbandes. „Ursächlich für den Frust und das eigene negative Wertempfinden der Rettungskräfte ist der indiskutable Umgang der Staatsanwaltschaft mit den angezeigten Vorfällen“, sagt Dahlke. „Hier muss ein Umdenken erfolgen.“ Damit die Betroffenen Vorfälle verstärkt melden, sollten zudem „eine vereinfachte Dokumentation für die Datenerhebung sowie vereinfachte Meldewege“ eingeführt werden.
„Freibrief für betrunkene Schläger“
Die Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaft hat oft damit zu tun, dass die Verdächtigen bei der Tat schwer berauscht sind und vor Gericht wegen erheblich eingeschränkter Steuerungsfähigkeit keine oder nur eine sehr niedrige Strafe zu erwarten hätten. Als einen „Freibrief für betrunkene Schläger“, bezeichnet das ein Feuerwehrmann.
Dresslers Studie zeige deutlich, wie ernst die Lage ist, sagt Dahlke. Seit Jahren fordert er, das standardmäßige Rettungsprotokoll um einen „Button“ für die Meldung körperlicher oder verbaler Angriffe zu ergänzen, um so eine genauere statistische Fallerhebung zu gewährleisten. Diesen Vorschlag hat die Feuerwehrleitung bisher abgelehnt. Neu ist Dahlkes Forderung nach einer stich- und schlagdämpfenden Schutzweste, zumal Dresslers Untersuchung ergeben habe, dass an vierter Stelle der Übergriffe Bedrohungen mit Waffen stehen. „Das ist nicht die Marschroute der Feuerwehr“, sagt indes Feuerwehrsprecher Martin Schneider. „Wir konzentrieren uns auf die Prävention.“ Im Übrigen wolle sich die Feuerwehr zu Dresslers Studie, solange sie noch unveröffentlicht ist, nicht äußern.
Seit etwa drei Jahren sind Deeskalationskurse Teil der Ausbildungslehrgänge an der Feuerwehrakademie. Zudem gebe es, so Schneider, entsprechende Fortbildungen an den Wachen. Dahlke geht das nicht weit genug. „Die Feuerwehr muss flächendeckend alle Einsatzkräfte, insbesondere die Beschäftigten im Rettungsdienst, in Deeskalation und Selbstverteidigung schulen.“ Selbstverteidigungskurse findet auch der Feuerwehrbeamte Philipp Baumann sinnvoll. Nach seiner „subjektiven Empfindung“ habe die Gewalt gegen Rettungskräfte stark zugenommen. Eine Entwicklung, die er schlicht nicht nachvollziehen kann: „Wer ausrückt, um Leben zu retten, wird plötzlich zur Zielscheibe von Gewalt?!“