Hamburg. Cold Case: In der Kultkneipe „Ritze“ in Hamburg gab es zwei ungewöhnliche Todesfälle. Einblicke in eine raue Welt auf der Reeperbahn.
- Mordanschlag auf „Chinesen-Fritz“: 35-Jähriger saß an der Bar, als er mit drei Schüssen niedergestreckt wurde.
- Auch ein weiterer Bordellkönig starb auf ungewöhnliche Weise.
- Im True-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ gibt es Einblicke in die Hintergründe der Taten.
Auf einmal war der Killer da. Tauchte plötzlich vor dem Bartresen auf, zielte und schoss. Nachdem er drei Kugeln abgefeuert hatte, verschwand der Mörder so schnell, wie er gekommen war – durch die Hintertür. Inzwischen lag das Opfer auf dem Boden der Kneipe auf der Reeperbahn in Hamburg, tödlich getroffen. Helfen konnte niemand mehr. Dieser Mordanschlag auf einen Mann mit dem Spitznamen Chinesen-Fritz war ein spektakuläres Verbrechen in einer Bar, die seit nunmehr 50 Jahren auf dem Kiez etabliert ist und schon seit Langem Kult-Status hat: die Ritze.
Den Eingang des Etablissements zieren bis heute gespreizte Frauenbeine. In den 1970er-Jahren ist die Ritze Stammkneipe für Zuhälter und andere Rotlichtgrößen, die hinter einem dicken, roten Vorhang ihre Geschäfte abwickeln. In den 1980ern wird es rau auf dem Kiez. „So rau, dass tatsächlich ein Mann bei laufendem Kneipenbetrieb ermordet wurde“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel in „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast des Hamburger Abendblatts mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher.
„Neben diesem spektakulären Verbrechen aus dem Jahr 1981 gab es einen weiteren bemerkenswerten Todesfall, der auch die Rechtsmedizin beschäftigt hat, in der Kneipe. Das Leben der früheren Rotlicht-Größe Stefan Hentschel endete ebenfalls dort. Der Profi-Boxer wurde im Jahr 2006 im Keller der Ritze aufgefunden. Da hing er aufgehängt an einem Sandsack-Haken.“
True Crime Hamburg: Zwei spektakuläre Todesfälle in der Kultkneipe Ritze
„Ich habe ja seit Jahrzehnten als Gerichtsreporterin mit Kriminalfällen zu tun“, erzählt Mittelacher. „Und deshalb weiß ich: Wenn jemand erhängt aufgefunden wurde, muss das nicht unbedingt ein Suizid gewesen sein. Es könnte sich auch um einen Mord handeln, bei dem der Täter es anschließend so inszeniert hat, dass es auf den ersten Blick wie eine Selbsttötung aussieht.“
„An diese Möglichkeit muss man immer denken“, bestätigt Püschel. „Manche Verbrecher sind wirklich sehr raffiniert, wenn es darum geht, möglichst nicht ins Visier von Ermittlungen zu geraten. Und das könnte man unter Umständen damit erreichen, dass man dafür sorgt, dass ein Mord eben nicht nach einem Mord aussieht. Aber, ich kann versichern: In der Regel lassen sich Polizei und Rechtsmedizin nicht hinters Licht führen.“
Bei dem Fall, der Polizei und Rechtsmedizin in der Kultkneipe Ritze im Jahr 1981 beschäftigte, war es aber eindeutig, dass hier ein Verbrechen verübt wurde. Die Kneipe ist sieben Jahre zuvor, im Jahr 1974, entstanden. Zunächst handelte es sich um einen Boxkeller, der unter dem Palais D’Amour, einem Bordell auf der Reeperbahn, eingerichtet wurde. Initiator dieses Boxkellers war der Mittelschwergewichtsboxer Hanne Kleine. Und darüber entwickelte sich die legendäre Kiez-Kneipe Zur Ritze.
Größen aus dem Rotlichtmilieu gingen in Kultkneipe ein und aus
„Als hier noch hauptsächlich Kiez-Größen ein und aus gingen, wurde der legendäre rote Vorhang zum hinteren Teil der Ritze zugezogen, was das Zeichen für eine geschlossene Gesellschaft war“, erzählt Püschel. „Die 1970er-Jahre waren die Blütezeit des Rotlichtmilieus in Hamburg mit all ihren schillernden Persönlichkeiten und Luden. Sie alle waren feste Stammgäste in der Hinterhof-Kneipe Zur Ritze auf der Reeperbahn.“
Zu diesem speziellen Publikum gehörte unter anderem ein Zuhälter, der in der Szene Chinesen-Fritz genannt wurde. Auch am 28. September 1981 saß der 35-Jährige dort auf einem Barhocker, als jemand in die Ritze stürmte und drei Schüsse auf Chinesen-Fritz abgab. Der erste Schuss traf das Opfer aus circa einem Meter Entfernung in die Brust.
Danach fiel das Opfer vornüber. Die nächsten beiden Projektile trafen den Hamburger in den Rücken. Die Tat ist bis heute, also 43 Jahre später, nicht aufgeklärt. Der Schütze flüchtete durch den Hintereingang. Die Schusswaffe wurde später in der Nähe gefunden. Sie hing an einem Zaun. Es handelte sich um eine 38 Smith and Wesson Spezial.
Chinesen-Fritz soll Opfer eines Machtkampfes auf dem Kiez geworden sein
„Interessant ist, wer zur Tatzeit neben Chinesen-Fritz auf einem anderen Barhocker gesessen hat“, erzählt Püschel. „Es war der Kiez-Zuhälter Wiener Peter. Er wurde so genannt, weil er ursprünglich aus Österreich kam. Es gab damals Gerüchte, dass Chinesen-Fritz erschossen wurde, weil es einen internen Machtkampf in der Kiez-Szene gab – und bei dem Wiener Peter seine Hände mit im Spiel gehabt haben könnte.“
Wiener Peter war eine schillernde Gestalt auf dem Kiez. Er war als Seemann um die Welt gefahren, bevor er 1972 nach St. Pauli kam. „Österreich wurde zu eng für mich. Hier, der Hafen tut mir gut“, soll er gesagt haben. Er galt als jemand, der zurückhaltend auftrat – und Köpfchen hatte.
So fasste er in der Szene Fuß und etablierte sich als Zuhälter. In den Achtzigerjahren war Wiener Peter dann in diverse Straftaten mit Milieubezug verwickelt. Er soll auch eine besondere Verbindung zum Auftragskiller Werner Pinzner gehabt haben. Interessant ist, dass Pinzner vier Konkurrenten von Wiener Peter tötete. Aber ob der Österreicher jeweils Auftraggeber war, blieb offen.
Stefan Hentschel: Porsche und Luxusreisen, dann kam die finanzielle Talfahrt
Ein zweiter unnatürlicher Todesfall in der Ritze ist weniger rätselhaft: als die Rotlicht-Größe Stefan Hentschel dort am 18. Dezember 2006 im Keller an einem Boxhaken hing. Hentschel war über Jahre zu einem millionenschweren Paten von St. Pauli aufgestiegen. Er war groß und kräftig und geschickt im Boxen, lieferte aber nur einen einzigen Kampf als Profiboxer.
Erfolgreicher war er als Zuhälter. „Ich habe mit vier Frauen in der Tagesschicht angefangen“, schwadronierte er immer wieder. „Nach zwei Monaten waren es 27 Damen.“ Die Geschäfte gingen teilweise sehr gut. Hentschel fuhr Porsche, gönnte sich Luxusreisen, nannte sich selbst einen „göttlichen Zuhälter“.
Einen ganz anderen Eindruck vermittelt ein Video, das von Hentschel im Internet kursiert. Als auf der Großen Freiheit ein Passant auf ihn zuschwankte, ein zierlicher Typ, der offenbar einen über den Durst getrunken hatte, schlug Hentschel dem Mann die Faust mitten ins Gesicht.
„Das klingt so, als hätte Hentschel sich leicht mit anderen angelegt“, überlegt Mittelacher. „Er wurde doch auch zweimal angeschossen und insgesamt viermal schwer verletzt.“ Und finanziell ging es mit Hentschel schließlich bergab. 1994 zündete ein Freund in Hentschels Club Base eine Bombe.
Nun versuchte sich der frühere Bordellkönig als Chef einer Reinigungsfirma. Die ging allerdings pleite. Von diesem finanziellen Tiefschlag hat sich der Ex-Boxer Hentschel nie mehr erholt. Er musste sich Geld borgen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Zuletzt konnte er nicht mehr seine Miete bezahlen. Er soll auch depressiv gewesen sein.
Zuhälter hing im Keller an einem Boxhaken – war es Suizid?
Und schließlich hing Hentschel im Boxkeller der Ritze, erhängt an einem Deckenhaken, von dem er zuvor den Boxsack abgenommen hatte. Ein Barhocker lag umgestürzt daneben, ebenso eine zusammengeklappte Trittleiter. Es gab mehrere Menschen im Umfeld von Hentschel, die bekundeten, er habe vorher Suizidabsichten geäußert. Und er soll am Abend vor seinem Tod eine Bekannte aufgefordert haben, niemandem zu verraten, dass er in den Boxkeller geht. Das spricht alles eher für einen Freitod. Auch aus der Untersuchung in der Rechtsmedizin ergaben sich keine Hinweise, die gegen einen Suizid sprechen.
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Heute wird die Ritze von Carsten Marek geführt, einem früheren Kickbox-Weltmeister, der dann ins Rotlichtmilieu einstieg. Rund 200 Prostituierte schafften zeitweise für ihn an. Außerdem war Marek der Boss der gleichnamigen Bande. 2005 kam es zu massiven Razzien der Hamburger Polizei gegen die Etablissements der Marek-Bande.
2006 begann ein Prozess vor dem Landgericht gegen mehrere Mitglieder der Bande. Es ging dabei um den Vorwurf, dass Prostituierte ausgebeutet worden sein sollen. Das Verfahren gegen die zwölf Angeklagten endete mit neun Freisprüchen, zwei Bewährungsstrafen und einer Verurteilung zu einem Jahr und neun Monaten Haft ohne Bewährung. Carsten Marek selbst wurde zu 22 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Mittlerweile gilt er wieder als unbestraft.