Hamburg. Weil der Wohnungsbau eingebrochen ist, fordert der Sozialdemokrat von der Ampel-Koalition ein Investitionsprogramm in Milliardenhöhe.
SPD-Bürgerschafts-Fraktionschef Dirk Kienscherf geht mit den Versäumnissen und Fehlern der SPD-geführten Ampel-Regierung in Berlin hart ins Gericht und fordert ein bundesweites Investitions- und Förderprogramm in Milliardenhöhe, um den Wohnungsbau wieder in Fahrt zu bringen. Kienscherf äußert sich im Abendblatt-Sommerinterview zur Verkehrspolitik des grünen Koalitionspartners im Rathaus, zu den Chancen für eine Fortsetzung des Bündnisses nach der Bürgerschaftswahl und sagt, was er bei der CDU-Opposition vermisst.
Der Wohnungsbau ist ein Eckpfeiler sozialdemokratischer Politik in Hamburg. Von dort kommen schlechte Nachrichten für Sie: Die Zahl genehmigter Wohneinheiten ist im ersten Halbjahr 2024 auf nur noch 2028 gesunken, 26 Prozent weniger als im schon schlechten Vorjahres-Halbjahr. Die Zielzahl von 10.000 Wohnungen ist in weite Ferne gerückt. Die Bau- und Energiekosten sind gestiegen, sicher, aber welche hausgemachten Gründe sehen Sie?
Dirk Kienscherf: Hausgemachte Gründe sehe ich ganz wenig. Der Markt ist zweigeteilt. Beim öffentlich geförderten Wohnungsbau sind wir nach wie vor erfolgreich. Wir haben getan, was möglich ist. Das wird auch von allen Akteuren gelobt. Beim zweiten Handlungsfeld, dem frei finanzierten Wohnungsbau, spielen die bundespolitischen Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle, die sehr ungünstig sind. Wir haben hohe Finanzierungskosten, und es gibt viel höhere Umweltauflagen. Das Thema EH 40 (Effizienzhaus 40, die Red.), das Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck vorangebracht hat, haben wir von Anfang an sehr stark kritisiert. Es hat dazu geführt, dass viele Interessenten abgesprungen sind.
EH 40 – das müssen Sie erklären!
Das ist ein höherer Energiestandard, mit dem in Häusern weniger Energie verbraucht werden soll. Doch die Bau- und Instandhaltungskosten steigen durch ihn stark an. Der Bundeswirtschaftsminister (Robert Habeck, Grüne, die Red.) hat zwei Schritte auf einmal gemacht: die Anforderungen deutlich erhöht und gleichzeitig die Fördermöglichkeiten deutlich gesenkt. Das war in einer Zeit der Unsicherheit tödlich. Hinzu kamen die gestiegenen Finanzierungskosten, sodass wir aus Hamburger Sicht sagen: Wenn es nicht zu einem umfangreichen Investitions- und Förderprogramm in Milliardenhöhe kommt, werden wir aus der Wohnungsbaukrise nicht herauskommen.
Und die Milliarden müssen aus Berlin kommen?
Genau. Wir alle wissen, dass der Haushalt begrenzt ist, weil Herr Lindner (FDP, Bundesfinanzminister, die Red.) nicht bereit ist, die Schuldenbremse zu reformieren. Das ist der Engpass für die notwendigen Zukunftsinvestitionen. Das sehen wir in Hamburg mit großer Sorge.
Wie hoch ist der Bundesanteil bei der Wohnungsbauförderung?
Die Hamburger Eigenleistung liegt jetzt bei 90 Prozent. Vor drei Jahren lagen wir bei 250 Millionen Euro, jetzt sind wir bei 750 Millionen Euro. Hamburg ist damit bundesweit Spitze. Das können wir einige Jahre durchhalten, aber nicht länger. Der große andere Bereich, der frei finanzierte Wohnungsbau, ist total eingebrochen. Und das ist äußerst problematisch und kann grundsätzlich nur bundespolitisch gelöst werden. Insgesamt müssen teure Standards und Normen endlich reduziert werden. Zusätzlich brauchen wir vom Bund finanzierte Impulse in Form von Förderprogrammen oder höheren Abschreibungsmöglichkeiten. Das wird auf Bundesebene nicht richtig angegangen. Da haben wir ein riesiges Problem.
Dabei hat die Hamburger SPD den direkten Draht zu Bundeskanzler Olaf Scholz ...
Wir haben den direkten Draht zum Kanzler, und wir haben eine Wohnungsbauministerin mit SPD-Parteibuch. Aber wir haben auch eine Arbeitsverteilung zwischen den Ministerien für Wirtschaft, Wohnungsbau und Finanzen. Dass die Ampel nicht immer glücklich agiert, wissen wir in Hamburg genau.
Die Stadt wächst. Der Bedarf an zusätzlichem Wohnraum ist groß. Werden jemals wieder 10.000 neue Wohnungen pro Jahr genehmigt werden können?
Wir müssen es schaffen. Wenn wir auf dem Niveau weitermachen wie bisher, werden wir in Deutschland zu einer großen, großen sozialen Krise kommen. Die nächste Bundesregierung muss das Thema angehen, und ich hoffe, das wird dann ohne die FDP sein. Die CDU, die jetzt noch zurückhaltend ist, wird sich im Bundesrat so verhalten, dass es zu einer Grundgesetzänderung in Sachen Schuldenbremse kommt. Wir müssen an die Schuldenbremse ran, weil sie auch in anderen Bereichen vieles unmöglich macht, etwa im Bereich Verkehrsinfrastruktur.
Der VNW-Direktor Andreas Breitner, ein Parteifreund von Ihnen, befürchtet, dass die Mieten um bis zu 50 Prozent in Hamburg wegen der Auflagen zur energetischen Sanierung des Bestandes steigen können. Wird Wohnen in Hamburg nicht mehr bezahlbar sein?
Doch, Wohnen wird bezahlbar bleiben. Aber er hat recht, wir müssen und werden alles daransetzen, dass es nicht zu diesen hohen Mietsteigerungen kommt. Auch bei der energetischen Sanierung müssen wir Auflagen schaffen, die umsetzbar und finanzierbar sind. Auch hier hat die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Es sind Investitionen gefördert worden, die für den Klimaschutz unsinnig sind.
CDU-Landeschef Dennis Thering hat im Abendblatt-Interview ein „Hamburg-Geld” vorgeschlagen, um besonders jungen Familien den Erwerb von selbst genutztem Wohneigentum zu ermöglichen. Was halten Sie davon?
Wir müssen uns die Realität ansehen: Heute liegen die Neubaukosten bei einer Eigentumswohnung bei rund 7000 Euro pro Quadratmeter. Eine 80 Quadratmeter große Neubauwohnung würde also 560.000 Euro kosten. Eine Förderung in Höhe von 20.000 Euro wird nicht dazu beitragen, dass Menschen mit einem geringen oder mittleren Einkommen diese Wohnung finanzieren können. Es gibt bei dem CDU-Vorschlag keine soziale Staffelung. Man muss sich immer fragen, welche Wirkung ein solches Instrument entfalten würde. Geht es um Symbole oder darum, Fördergelder sozial gerecht einzusetzen? Angesichts der begrenzten Wirkung halte ich das eher für Symbolpolitik.
Zur Verkehrspolitik: Hat die SPD den Grünen zu sehr das Feld zulasten des Autoverkehrs überlassen? Stichworte sind zum Beispiel Anwohnerparken und Parkraumreduzierung.
Wir unterscheiden uns von den Grünen inhaltlich, aber wir haben uns im Koalitionsvertrag auf bestimmte Punkte geeinigt. Beim Thema Anwohnerparken hat die SPD sehr viel Druck entwickelt, weil es in der aktuellen Form auf wenig Akzeptanz stößt und für Proteste sorgt, gerade auch bei Handwerkern. Wir haben dem Verkehrssenator daher dringend eine Überarbeitung des Konzepts nahegelegt. Diesen Weg hat er durch Gespräche mit der Handels- und der Handwerkskammer eingeschlagen. Bei dem Thema wurde zu viel in zu kurzer Zeit versucht.
Und das Thema Parkplatzreduzierung?
Auch da haben wir durchaus unterschiedliche Ansichten. In der Innenstadt und dort, wo wir attraktive neue öffentliche Flächen brauchen, muss das Parken eher in Parkhäuser verschoben werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass überall dort, wo es um Straßensanierung geht, massiv Parkplätze abgebaut werden. Und beim Wohnungsbau müssen neue Parkplätze mitgedacht werden. Da haben wir inhaltlich mitunter Reibungspunkte mit den Grünen.
Wie ist Ihre Sicht auf die Rolle des Autoverkehrs insgesamt?
Im inneren Kernbereich der Stadt leben viele Menschen, die weniger auf das Auto angewiesen sind, weil die Verkehrsinfrastruktur sehr gut ist. In den äußeren Bereichen wird das Auto auch in Zukunft noch eine größere Rolle spielen. Deshalb darf man den Autofahrer nicht zum großen Feind erklären. Das ist völliger Blödsinn. Er ist Teil der Mobilität in Hamburg. Trotzdem müssen wir aus Klimaschutzgründen Verkehre reduzieren, aber nicht über Verbote. Die SPD ist keine Verbotspartei.
Sind die Grünen manchmal eine Verbotspartei?
Mit uns zusammen sind sie es nicht.
Viele Menschen beklagen zu viele Baustellen und eine schlechte Koordinierung. Wo sehen Sie Verbesserungschancen?
Das Hauptproblem ist die Informationspolitik. Da müssen wir sehr schnell zu deutlichen Verbesserungen kommen. Wir haben riesige Herausforderungen in diesem Bereich: Straßensanierung ist nur ein kleiner Teil. Es geht vor allem um die Infrastruktur: Glasfaser-, Strom- und Fernwärmeleitungen. Ich erlebe es in meinem Stadtteil: Da werden die Anwohner über bevorstehende Baumaßnahmen informiert, aber die Autofahrenden, die davon betroffen sind, wissen davon vorher nichts. Und es gibt auch zu viele Genehmigungsschritte. In bestimmten Fällen sind es mehr als 30, um in Hamburg mit einer Baumaßnahme beginnen zu können. Auch da müssen wir viel effizienter werden.
Hamburg gilt seit Jahren als „Staumeister” unter den deutschen Städten, etwa im Ranking des Navigationsunternehmens Tomtom. Das kann Sie doch eigentlich nicht ruhen lassen, oder?
Nein, aber es gibt auch andere Untersuchungen, nach denen Hamburg nicht Staumeister ist. Wir dürfen nicht vergessen: Hamburg ist eine Stadt an einem großen Fluss. Aufgrund dieser geografischen Lage haben wir wenige Straßen und Brücken, auf die sich die Verkehrsströme konzentrieren. Wenn es dort zu Bauarbeiten kommt, hat das unmittelbare Auswirkungen auf den Verkehrsfluss. Ein Beispiel ist die A1 im Bereich Norderelbbrücke. Die Bauarbeiten dort schlagen schnell auf das Gesamtnetz durch. Trotzdem: Wir nehmen die Stauprobleme ernst und wollen davon möglichst wegkommen.
SPD und Grüne regieren seit 2015 gemeinsam in Hamburg. Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit den Grünen in der Koalition?
(überlegt kurz) 8,5.
Gar nicht so schlecht. Sind Sie für eine Fortsetzung des Bündnisses nach der Wahl am 2. März 2025?
So, wie wir jetzt zusammenarbeiten und wenn es eine starke Sozialdemokratie gibt: ja. Wir haben eine Menge bewegt in den zurückliegenden Jahren, auch in Krisensituationen: Stadtentwicklungsprojekte, Verkehrsprojekte, die Themen soziale Gerechtigkeit und Bildung.
Eine Nahtstelle des Bündnisses sind die Fraktionsvorsitzenden. Wie läuft es mit Ihren Pendants bei den Grünen, Jennifer Jasberg und Dominik Lorenzen?
Wir sind alle drei verschiedene Charaktertypen, die professionell zusammenarbeiten.
CDU-Chef Dennis Thering strebt eine Regierungsbeteiligung ziemlich offen an. Ist die CDU eine Alternative für die SPD?
Ich weiß, wofür die Grünen stehen und wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu uns liegen. Ich weiß nicht so richtig, wofür die CDU steht.
Der aus der CDU ausgetretene frühere Spitzenkandidat Marcus Weinberg wirft seiner Ex-Partei in Hamburg „Populismus und Polarisierung” vor. Hat er recht?
Ja. Bei der Frage, wie wir in der Stadt mit vielen unterschiedlichen Kulturen gut zusammenleben können, wie der soziale Zusammenhalt gestärkt werden kann, tritt die CDU manchmal sehr populistisch auf. Auch das Thema Innere Sicherheit wird bisweilen recht reißerisch angegangen. Die CDU ist in diesen Fragen mittlerweile sehr konservativ aufgestellt. Vielleicht gelingt ihr bis zur Wahl hier noch eine Kurskorrektur.
Es ist zu befürchten, dass die AfD auch bei der Hamburg-Wahl zulegen wird. Welches Rezept hat die SPD gegen ein Erstarken der rechtsextremen Partei?
Ein Konzept gegen Extremismus ist es, gute Politik zu machen und die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Wir sind eine Partei für alle. Unser Spruch im Wahlkampf 2020 war bekanntlich: Wir haben die ganze Stadt im Blick. Das bietet Extremisten ein geringeres Feld als in anderen Bereichen Deutschlands.
Dennoch ist die AfD auch in Hamburg erstarkt, wie wir bei den Bezirks- und Europawahlen gesehen haben.
Das ist besorgniserregend. Deswegen ist es richtig, dass die Innenbehörde und der Verfassungsschutz da eine klare Linie haben. Der Rechtsextremismus hat in Deutschland insgesamt zugenommen. Dass wir in Hamburg davon gar nichts merken, war nicht zu erwarten. Es muss jetzt zum Beispiel darum gehen, den Transformationsprozess in der Wirtschaft hinzubekommen, ohne dass wir Menschen verlieren. Wichtig ist, dass Menschen, die Abstiegsängste haben, das uns Politikern gegenüber auch offen ansprechen können, ohne unter Generalverdacht gestellt zu werden.
Bei der AfD dominiert das Thema Migration und illegale Zuwanderung. Manchmal wirkt es so, als ob Rot-Grün bei dem Thema etwas hilflos wäre. Selbst die Ansage des Bundeskanzlers, mehr Menschen abzuschieben, ist nur in Ansätzen realisiert.
Es geht doch darum: Setzt man sich sachlich mit dem Thema Migration und den daraus entstehenden Herausforderungen auseinander? Oder macht man das polemisch, herabwürdigend und ausgrenzend? Das ist bei der AfD der Fall. Wir haben als Hamburger SPD immer die Frage gestellt, wie viel Zuwanderung dieses Land verträgt. Da geht es um Wohnraum, um Arbeitsplätze. Das darf man nicht negieren. Darüber müssen wir offen reden und ganz klar die Probleme benennen. Wir tun das.
Wäre es nicht auch wichtig, sichtbare Erfolge bei der Begrenzung der illegalen Zuwanderung zu haben?
Es gibt erste Erfolge, aber das ist alles bundesgesetzlich geregelt. Von Hamburg aus können wir da relativ wenig machen. Bundesinnenministerin Faeser hat sich auf europäischer Ebene engagiert. Sie hat es geschafft, dass man in der EU zu Regelungen gekommen ist, aber es bleibt nach wie vor eine Riesenherausforderung. Das betrifft gerade auch unser Thema vom Anfang: die Bereitstellung von genügend Wohnraum – für die qualifizierten Fachkräfte, aber auch für die nicht so gut qualifizierten Menschen, die aus anderen Gründen in unser Land kommen.
Die AfD ist in traditionellen SPD-Hochburgen stark, in den sogenannten Arbeiterstadtteilen. Hat die SPD den Kontakt zu einem Teil ihrer klassischen Wähler verloren?
Das glaube ich nicht. Unsere Mitglieder leben ja auch in diesen Stadtteilen und wissen, was die Menschen vor Ort beschäftigt. Wir müssen unsere Politik sicherlich noch griffiger erklären. Auf der anderen Seite wissen wir, dass es der AfD besonders in diesen Quartieren gelingt, Ängste zu schüren. Damit können wir nicht zufrieden sein und müssen stärker gegenhalten.
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Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther äußerte im Abendblatt-Interview Sympathien für ein Verbot der AfD. Wäre das der richtige Weg?
Ich bin dafür, alle rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen. Besonders in Ostdeutschland stellt die AfD unsere Demokratie insgesamt infrage. Da geht es nicht mehr darum, dass sich Einzelpersonen abwertend über Migranten oder Geflüchtete äußern. Diese Partei möchte vielmehr ganz offen das demokratische System beseitigen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Antidemokraten Schlupflöcher nutzen, um die Demokratie abzuschaffen. Wenn eine Partei verfassungsfeindlich ist, was ja für immer mehr AfD-Landesverbände festgestellt wird, dann muss man den Schritt eines Verbots gegebenenfalls gehen.
Für einzelne Landesverbände oder bundesweit?
Meiner Ansicht nach dann auf einen Schlag auf Bundesebene.
Schlussfrage: Sollte Peter Tschentscher wieder Spitzenkandidat der SPD werden?
Auf jeden Fall. Er ist ein kluger Kopf und ein außergewöhnlich guter Bürgermeister.