Longyearbyen. Polartourismus boomt, bald gibt es strengere Regeln. Die Reise lohnt sich – eine Expeditionskreuzfahrt rund um Spitzbergen mit Überraschungen.
Ein roter Blitz durchzuckt das dunkle Graubraun des Fjords. Mit einigen Sekunden Verzögerung ist ein Knall zu hören; eine kleine Rauchwolke steigt auf. Die Eisbärenmutter macht einen Satz zurück. Eines ihrer beiden Jungen, das sich besonders weit vorgewagt hatte, sprintet hinter ihr her. Lange Zeit hat die kleine Gruppe von Menschen, die hier am Ufer des Magdalenenfjords ihre Zelte aufgeschlagen hat, ausgesprochen cool reagiert, als sich der Eisbär mit seinen zwei Jungen nähert. Immer dichter kommt. Wir beobachten die Szene schon eine ganze Weile von Bord der „MS Spitsbergen“, aber jetzt werden wir nervös. Sind das Forscher oder einfach nur Camper hier in der eisigen Wildnis – und warum ziehen sie sich nicht zurück? Die Eisbären kommen immer näher. Dann der Schuss aus der Signalpistole, der die Tiere vertreibt, zumindest ein Stück weit.
Wir sind fast 3000 Kilometer nördlich von Hamburg, im Norden des Inselarchipels Svalbard („kühle Küste“), das bei uns unter dem Namen seiner größten Insel, Spitzbergen, bekannt ist. Mit dem Schiff von Hurtigruten Expeditions umrunden wir Spitzbergen; eine Reise, die jeden Tag ein neues Abenteuer bringt. Wir sehen uns nicht als Kreuzfahrer oder Touristen, sondern fühlen uns als Entdecker. Und damit sind wir alles andere als allein: Immer wieder tauchen am Horizont andere Schiffe auf. Der Polartourismus boomt.
Kreuzfahrt in der Arktis: Ab kommendem Jahr wird alles anders
Auch viele der insgesamt 75 Mitreisenden an Bord – Deutsche, Engländer, Franzosen, Schweden, Norweger, Australier – waren schon in anderen arktischen Regionen unterwegs, in Grönland oder Island etwa. Es ist ein ganz besonderer Reiz, der offenbar süchtig machen kann: die rauen, eindrucksvollen Landschaften, die nichts gleichen, was man bisher gesehen hat. Scheinbar unberührte Natur. Totale Leere. Faszinierende Eisformationen. Schnell wechselndes Licht, das immer neue Stimmungen erzeugt. Und dann das Leben in der Natur, die eben doch nicht so leer ist: Vögel, Polarfüchse, Robben und Walrosse – und natürlich Eisbären.
Expeditionsleiterin Tessa hat wenig Verständnis für den Schuss, mit dem die Camper am Magdalenenfjord die Eisbärenfamilie verscheucht haben. Zwar wird auch jede unserer Anlandungen gesichert von ihrem Team, das zunächst die Gegend absucht nach Polarbären und dann mit Schreckschusspistole und – im absoluten Notfall – einem Gewehr das Gebiet sichert. Aber den Bären auszuweichen, wenn es irgendwie geht, sie möglichst nicht zu stören oder zu stressen, das hat oberste Priorität. Sensibel mit der Natur umzugehen, sie zu schützen – und das, obwohl die Zahl der Polartouristen ständig steigt – ist die Aufgabe, die sich Hurtigruten Expeditions und andere gestellt haben. Als einige Tage später ein anderes Schiff meldet, dass in der weiteren Umgebung des Ortes, an dem wir anlanden wollen, ein Eisbär gesichtet wurde, wird der Landgang abgesagt.
Polartourismus: Diese Regeln ändern sich – was das bedeutet
Im kommenden Jahr wird hier ohnehin alles anders werden. Zum Jahreswechsel verschärft die norwegische Regierung die Umweltbestimmungen für Svalbard. Mit neuen Geschwindigkeitsbegrenzungen und weniger Landgängen soll die Natur des Archipels kurz vor dem Nordpol geschützt werden. Landgänge werden ab 2025 nur noch an 43 Standorten erlaubt sein, viel weniger als heute. Alle anderen Regionen bleiben für Reisende gesperrt. Schiffe, die in geschützten Gebieten unterwegs sind, dürfen maximal 200 Personen transportieren. Drohnen sind verboten. In der Nähe von Land oder Vogelklippen dürfen Schiffe zwischen April und August nur noch maximal fünf Knoten schnell fahren. Zu Walross-Plätzen ist Abstand zu halten; festes Eis darf nicht gebrochen werden, es sei denn, um die Fahrrinne dringend notwendig offen zu halten.
Viele Kreuzfahrt-Reedereien sind nicht begeistert. Die „MS Spitsbergen“ mit ihren 90 Kabinen und die „MS Fram“ von Hurtigruten Expeditions sind klein genug, um die neuen Anforderungen zu erfüllen. Hurtigruten Expeditions, das bereits seit 1896 die entlegensten Orte der Erde anfährt und sich im vergangenen Jahr von den herkömmlichen Hurtigruten-Postschiffreisen entlang der norwegischen Küste in einer weiterhin gemeinsamen Gruppe entkoppelt hat, sieht sich ohnehin als „Pionier für nachhaltige Seefahrt“.
Hurtigruten landet im aktuellen Kreuzfahrtranking auf erstem Platz
Gerade erst hat der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) sein Kreuzfahrtranking 2024 vorgestellt, das die Reedereien hinsichtlich ihrer Schädlichkeit für Klima und Umwelt vergleicht. Die norwegischen Unternehmen Hurtigruten und Havila landen auf den ersten Plätzen, Hurtigruten Expeditions auf Rang drei. Allerdings erreicht selbst der Spitzenreiter von möglichen 15 Punkten nur zehn, schneidet aber immer noch deutlich besser ab als Tui Cruises, Aida oder Hapag-Lloyd Cruises.
Nilsen Terje ist seit drei Jahren Kapitän der „MS Spitsbergen“. Er ist froh, dass sein Schiff auch künftig die Auflagen erfüllt. Es seien tatsächlich sehr viele Kreuzfahrtschiffe geworden, die sich rund um Spitzbergen drängten, sagt er. „Aber wenn vom kommenden Jahr an Landgänge nur noch an 43 Orten erlaubt sind, wird es dort noch sehr viel mehr Gedränge geben als bisher“, gibt er zu bedenken. Planung und Koordination werden komplizierter.
„Bürgerwissenschaftler“ tragen selbst zur Forschung bei
Dabei gehören die Landgänge zum Interessantesten, das diese Reise zu bieten hat. In wasserfester Kleidung und mit Schwimmweste ausgestattet, steigen die Gäste im Tender Bar in die Schlauchboote. Aufregend! Der Expeditionscharakter ist es, den die Reisenden lieben. An Bord gibt es das Science Center, in dem Wissenschaftler Auskunft über ihre Fachgebiete geben, Gesteine oder Tierknochen kann man unter dem Mikroskop anschauen. Als „Bürgerwissenschaftler“ (citizen scientists) sind die Passagiere aufgerufen, ihre Fotos von seltenen Tieren in Apps wie iNaturalist, ORCA oder eBird hochzuladen. Oft gibt es Vorträge, manchmal sind Gastwissenschaftler an Bord, dann wieder sollen die Reisenden Planktonproben sammeln.
„Ich möchte den Gästen vor allem ein authentisches Erlebnis vermitteln“, sagt Expeditionsleiterin Tessa. Die 50-jährige Niederländerin koordiniert das zwölfköpfige Expeditionsteam. Tessa geht es um die richtige Mischung aus Anlandungen, Zodiac-Touren, Kajaking, Wandern und Tier- und Pflanzenbeobachtung – und vor allem: Die Passagiere sollen sich dabei sicher fühlen. „Es soll aufregend sein, aber nicht zu sehr.“
Bei Expeditions-Kreuzfahrten ändert sich das Programm manchmal plötzlich
Das Programm steht im Groben, aber in der Polarregion ist Flexibilität gefragt. Wetter, Eis und Eisbären sorgen dafür, dass es stets einen Plan A gibt, aber auch einen Plan B und C. Die Expeditionsleiterin entscheidet zusammen mit dem Kapitän, welche Anlandungen, Kajakausflüge und Touren möglich sind, welche Route überhaupt umsetzbar ist – von Tag zu Tag. Das Wetter wechselt rasch hier im hohen Norden. Auch im Hochsommer, wie jetzt, steigen die Temperaturen selten über fünf Grad. Und das Schiff bringt uns an Orte, an die wir allein niemals kommen würden.
Heute scheint eine Landung auf Torellneset möglich, gelegen am äußersten südwestlichen Ende der Svalbard-Insel Nordaustlandet, auch wenn es ziemlich regen Wellengang gibt. Wasserfeste Kleidung anziehen, Fotokameras im Rucksack verstauen und gut festhalten, lautet das Kommando, als wir in die Zodiacs steigen. Kurz steht der Landgang infrage, Nebel senkt sich immer stärker herab. Am Tender Pit der Dauerscherz der Crew, die beim Einsteigen hilft: „See you tomorrow.“ Als die ersten Zodiacs die Küste erreicht haben, ist die „Spitsbergen“ im Dunst gar nicht mehr zu sehen. Aber Tessa hebt den Daumen. Sie ist über Funk mit dem Kapitän auf der Brücke verbunden. Die Anlandung geht weiter.
Die Walrosse folgen uns – sie mögen die Aufmerksamkeit
Auf dem Kiesstrand drängen sich etwa 20 bis 30 Walrosse eng zusammen, liegen über- und untereinander, wohl um sich warmzuhalten. Wir betrachten und fotografieren sie aus 150 Meter Entfernung, um sie nicht zu stören. Doch dann nähert sich eine weitere Gruppe im Wasser; die Walrosse spielen und tummeln sich, tauchen auf und wieder ab. Sie scheinen die Aufmerksamkeit zu genießen, folgen uns, als wir irgendwann zu den Zodiacs zurückgehen, kommen uns hinterher. Momente wie diese kann man nicht planen. Sie passieren einfach.
Vielleicht auch deshalb ist Hurtigruten-Fotografin Geraldine Prince süchtig nach den Polarregionen. Schon als Kind wollte die Französin unbedingt ins Eis. Wenn sie von ihren Reisen erzählt, leuchten ihre Augen. Die weiße Weite, sagt sie, die schiere Größe der Landschaft, ihre Mächtigkeit, die einen tief im Herz berührt. Die Unmittelbarkeit der Natur, die sie hier in der Arktis spürt. „Noch besser“, sagt sie, „ist es in der Antarktis.“
Strandtag in der Arktis – es verschlägt uns die Sprache
Eine Ahnung von der Anziehungskraft gibt es beim Strandtag in der Arktis. Als wir im Björnsfjorden durch Eisschollen hindurch in unseren Zodiacs das Land ansteuern, verschlägt es uns die Sprache. Heller, weicher Sand leuchtet in der Sonne, das Meer ist türkisfarben. Wir wandern einen Gletscher hinauf, jede Etage bringt neue Ausblicke. Alles strahlt, wir auch. Jetzt wäre die Gelegenheit zu einem Polar Plunge, zum Eisbaden, sagt Tessa. Ich denke, sie macht einen Scherz. Aber einige Mitreisende schälen sich aus ihren dicken Anoraks, Pullovern und Schneehosen und springen mutig ins Wasser, neben sich die Eisschollen. Bis zum Nordpol sind es nur etwa 1300 Kilometer. Ein weiterer magischer Moment.
Zum Aufwärmen geht es anschließend zurück zum Schiff. Es ist sehr komfortabel, aber nicht luxuriös. Aufwendige Pools, Musicalbühnen, diverse Bars oder gar Kinosäle gibt es hier nicht; schließlich ist dies keine Kreuzfahrt, sondern eine Expedition. Wir essen immer im selben Restaurant, die Kellner kennen bald unsere Namen und wir ihre, wir treffen uns danach oder zu Vorträgen in der Explorer Bar, verbringen die Zeit zwischen den Landgängen in der Panoramalounge unterhalb der Brücke. Die Übersichtlichkeit lässt die Passagiere zusammenwachsen. Einziger Tribut an die Welt der Kreuzfahrten ist – neben dem guten Essen – ein kleines Fitnesscenter, eine Sauna und zwei Whirlpools im Freien auf dem hinteren Deck.
Erst kamen Walfänger, dann Trapper und schließlich Kohlefirmen
Wie hart das Leben ohne diese Annehmlichkeiten hier oben einst war, wie hoch der Preis, den die Entdecker zu zahlen hatten, zeigen die Museen in Longyearbyen und Ny Alesund. Erstmals sichtete der Holländer Willem Barentsz die Inselgruppe 1596 auf der Suche nach einer Nordostpassage. Im 17. Jahrhundert kamen die Walfänger, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Trapper, die Jagd auf Robben, Walrosse, Polarfüchse und Eisbären machten, ab der zweiten Hälfte dann die Forscher wie der legendäre Roald Amundsen, die erste Expeditionsreisen unternahmen.
Entscheidend wurde der Fund großer Kohlevorkommen, der den Bergbau ankurbelte. Zahlreiche Firmen entstanden. 1906 begann der Abbau industriell. Auch wenn die meisten Schächte geschlossen sind: Die Überreste des Bergbaus sind noch heute zu sehen. Der Rückbau einer der Minen für mehr als 130 Millionen Euro ist das größte Renaturierungsprojekt in ganz Norwegen, unter dessen Verwaltung die Inselgruppe steht. Das ist auch für den Tourismus gut, der immer bedeutsamer wird – nicht zuletzt, seit es eine Linienflugverbindung nach Longyearbyen gibt.
Die erste Polarkreuzfahrt startete von Hamburg aus – im Jahr 1896
Entstanden ist der Polartourismus vor weit mehr als 100 Jahren eben in Spitzbergen – und dabei spielte auch Hamburg eine Rolle. Von dort aus startete Wilhelm Bade, ein geborener Wismarer, mit dem Touristendampfer „Erling Jarl“ und 52 vermögenden Gästen an Bord zum Rand der damals bekannten Welt im hohen Norden, wie Sandra Walser in ihrem Buch „Auf Nordlandfahrt. 1896 von Hamburg nach Spitzbergen“ ausführlich beschreibt. Bade liebte die Arktis leidenschaftlich, seit er 1869/70 an der zweiten Deutschen Nordpolarexpedition teilgenommen hatte, wusste aber auch um ihre Tücken. Das Schiff, die „Hansa“ sank damals und die Mannschaft musste 200 Tage auf einer Eisscholle verbringen, ehe sie gerettet wurde.
Bald darauf, schreibt Sandra Walser, reifte in ihm die Idee, „sein Eis“ zahlenden Gästen zu zeigen. Eine Vorläuferin der norwegischen Reederei Hurtigruten unterhielt bereits eine Linienverbindung zwischen dem norwegischen Festland und Spitzbergen. Im heutigen Longyearbyen entstand ein kleines Hotel. Bade war nicht der Erste, der bezahlte Reisen in den arktischen Norden anbot, als er ab 1894 im Jahresrhythmus ein oder zwei Schifffahrten im Jahr veranstaltete, mit jeweils festen Programmpunkten.
Und doch: Man kann Wilhelm Bade als „Begründer der Polartouristik“ bezeichnen, wie Sandra Walser schreibt. „Er war der Erste, der Arktis-Schiffsreise regelmäßig veranstaltete, ihren Expeditionscharakter herausstrich, für die Erkundung der polaren Destination mehr als nur eine Stippvisite von zwei oder drei Tagen einplante und auch großen Wert legte auf die Wissensvermittlung durch Experten.“ An diesem Konzept orientieren sich auch die vielen Expeditionskreuzfahrten unserer Tage.
Wir erreichen den 80. Breitengrad
Die Härten, die die 52 Polarkreuzfahrer bisweilen auf sich nahmen, als sie am 17. Juli 1896 von den St. Pauli Landungsbrücken im Hamburger Hafen aus in See stachen, waren allerdings mit heutigen Reisen nicht zu vergleichen: Das begann mit der schrecklichen Übelkeit, die praktisch alle Gäste auf See befiel, reichte über den Gestank zerlegter Wale an den Küsten Spitzbergens bis hin zu den Mühen, das kleine Schiff durch das dichter werdende Eis zu manövrieren.
Wir erreichen den 80. Breitengrad an einem späten Abend bei der Insel Moffen vor der Nordküste Spitzbergens – 1000 Kilometer entfernt vom Nordpol. Alle versammeln sich an Deck. Es ist fast Mitternacht, als dann doch noch die Sonne durchbricht. Zwischen April und August geht sie hier im Norden niemals unter.
Hamburgerin Pauline studiert in Longyearbyen, der nördlichsten Siedlung der Welt
Der Winter hingegen ist lang und vollständig dunkel. Pauline lebt trotzdem gern auf Spitzbergen. Die Hamburgerin studiert seit einem Jahr hier in Longyearbyen und hat uns nach unserer Ankunft in der nördlichsten Siedlung der Welt herumgeführt. Über das Erasmus-Programm ist sie in der Uni Tromsö eingeschrieben und lernt und forscht vor Ort im Universitätszentrum. Longyearbyen zählt rund 2400 Einwohner, hauptsächlich Forscher und Tourismus-Beschäftigte.
Die bunten Häuser stehen auf Stelzen, die im Permafrost verankert sind. Es gibt eine Handvoll Geschäfte, die an einer Art Hauptstraße aufgereiht sind. Die meisten Ansässigen bleiben ein paar Jahre und ziehen dann weiter, so wie Pauline. „Ich habe unheimlich viel gesehen und gelernt – es ist eine einzigartige Chance, hier in der Arktis zu studieren“, sagt die angehende Biologin, die im Studentenwohnheim lebt. Am Ortsrand warnt ein Schild vor Eisbären. An den Eingängen der Geschäfte hängt der Hinweis: „Es ist verboten, in Longyearbyen geladene Waffen zu tragen.“
In den kühlen Felskammern des Bergs Platäberget ganz in der Nähe werden im größten Saatgutspeicher der Welt mehr als eine Million Samen verschiedenster Nutzpflanzen aus aller Welt verwahrt – wie eine Art Arche Noah der Pflanzenwelt für den Fall, dass Katastrophen sie ansonsten unwiederbringlich vernichten würden.
Nirgendwo ist die Erderwärmung so stark wie in der Arktis
Überall begegnen einem die Veränderungen, die der Klimawandel gerade in diesem fragilen Ökosystem anrichtet. Die Gletscher gehen zurück, viele Fjorde frieren seltener zu. Die Arktis erwärmt sich sehr viel stärker als andere Regionen. Schon innerhalb des nächsten Jahrzehnts könnte sie im Sommer komplett eisfrei sein – erheblich früher als bisher angenommen. Und die Eisdecke wird dünner und dünner. Die Erwärmung berührt nicht nur die fragilen Ökosysteme der Arktis selbst. Das Meereis spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung des weltweiten Klimas, da die weiße Fläche den größten Teil der Sonnenenergie reflektiert, während die größer werdende dunkle Wasseroberfläche die Wärme speichert, was wiederum die Eisschmelze beschleunigt. Wissenschaftler nennen diese „polare Verstärkung“ den Albedo-Effekt.
So treibt manche Polarreisende wohl auch der Wunsch in den Norden, diese unvergleichlichen Eislandschaften noch einmal zu sehen, bevor sie verschwinden – auch wenn das mit rund 10.000 Euro für eine neuntägige Reise inkl. Flug seinen Preis hat. Es ist paradox: Je mehr das Eis zurückgeht, desto besser wird die Arktis für die Schiffe erreichbar. Gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Polartourismus stark gestiegen. Immer mehr Kreuzfahrtschiffe steuern die Gewässer vor Spitzbergen an. Allein 2017 brachten sie 46.000 Kreuzfahrer, hinzu kamen 13.000 in den kleineren Expeditionskreuzfahrten wie unsere. Vor 20 Jahren gab es auf Spitzbergen rund 20.000 Übernachtungen pro Jahr; 2019 waren es schon mehr als 160.000. Die „Association of Arctic Expedition Cruise Operators“ (AECO) setzt sich seit 2003 für den Schutz der polaren Natur und Tierwelt ein. Angeschlossene Reiseveranstalter verpflichten sich zu einem möglichst nachhaltigen Tourismus und zur Einhaltung eines umfassenden Regelwerks.
Kreuzfahrt: Polarreisende werden sensibilisiert für Schutzbedürftigkeit der Arktis
Schädlich sind die Polarreisen natürlich trotzdem. Da sind die Emissionen der Flugzeuge, Schiffe (auch wenn spätestens 2029 endgültig kein Schweröl mehr benutzt werden darf) und Schlauchboote, die Gefahr einer Havarie, die Schall- und Druckwellen, die die Tiere stören.
Auf der anderen Seite hat der Polartourismus aber auch Vorteile, wie es in einem Papier des Deutschen Arktisbüros am Alfred-Wegener-Institut heißt. Er ist Einnahmequelle für die lokale Bevölkerung. Tourismusunternehmen haben ein Interesse daran, dass die Natur besuchenswert bleibt und unterstützen Umweltprojekte. Und schließlich lernen die Reisenden viel über die Einzigartigkeit der Landschaft und werden für ihre besondere Schutzbedürftigkeit sensibilisiert.
Am vorletzten Tag unserer Spitzbergen-Umrundung ankern wir in einem Fjord auf der Westseite der Hauptinsel und erkunden in Schlauchbooten die Gletscher. Plötzlich taucht rund 50 Meter von uns entfernt etwas Dunkles aus dem Wasser auf. Ein Buckelwal! Schwarz und glänzend kommt er an die Oberfläche. Wasser spritzt in Fontänen nach oben. In einem eleganten Schwung verschwindet die Schwanzflosse wieder im Meer. Andächtige Stille. Was für ein bewegender Moment.
Diese Reportage entstand mit Unterstützung von HX Hurtigruten Expeditions.