Hamburg. Studie: Betroffene berichten von Anfeindungen. Polizeipräsident: „Wir haben beim Thema Sicherheitsgefühl noch einiges zu leisten.“

Menschen jüdischen Glaubens in Hamburg sind offenbar in einem hohen Maße von Herabwürdigungen, Anfeindungen und Hasskriminalität betroffen – darauf deutet eine sogenannte Dunkelfeldstudie hin, die Forschende um Prof. Eva Groß von der Akademie der Polizei Hamburg und Prof. Joachim Häfele von der Polizeiakademie Niedersachsen durchgeführt haben. Die am Montag im Joseph-Carlebach-Haus der Jüdischen Gemeinde vorgestellte Untersuchung liefert Erkenntnisse zu einem wissenschaftlich in ganz Deutschland bisher kaum untersuchten Komplex: Antisemitismus aus der Perspektive von Betroffenen.

Bisher war der Forschungsstand zu den Formen und der Verbreitung von Antisemitismus in Hamburg lückenhaft. Er beruhte hauptsächlich auf Daten der Polizei, die allerdings nur Straftaten erfasst, und auf anekdotischen Schilderungen von jüdischen Betroffenen. Zu vermuten war, dass es ein großes Dunkelfeld des Antisemitismus in der Hansestadt gibt. Diese Annahme erhärtet sich nun durch die neue Studie, die von Gleichstellungssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) und dem Hamburger Antisemitismusbeauftragten Stefan Hensel in Auftrag gegeben worden war.

Antisemitismus-Studie: Großer Teil der Befragten hat zuletzt Anfeindungen erlebt

Fegebank sprach von „besorgniserregenden Ergebnissen“. Die Untersuchung bestätige „leider unsere Befürchtungen, dass Antisemitismus nicht nur ein Phänomen ist, das man eher dem Extremismus zuordnet, sondern auch eines ist, das vielen Jüdinnen und Juden im Alltag begegnet, überall in unserer Stadt: am Arbeitsplatz, bei öffentlichen Veranstaltungen, aber auch im Bekanntenkreis“.

Kern der Studie ist eine zum Teil online von November 2023 bis Februar 2024 durchgeführte schriftliche Befragung, mit der 548 Jüdinnen und Juden in der Hansestadt erreicht wurden. Die meisten von ihnen sind Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Hamburg. Das Durchschnittsalter der Studienteilnehmer liegt bei 65 Jahren. Insgesamt leben in Hamburg schätzungsweise 5000 bis 8000 Menschen jüdischen Glaubens.

Von den Befragten gaben 77 Prozent an, in den zwölf Monaten vor ihrer Befragung antisemitische Vorfälle unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit erlebt zu haben. Etwa 55 Prozent berichteten von strafrechtlich relevanten antisemitischen Vorfällen, wobei verbale und psychologische Angriffe wie Beleidigung und Bedrohung online und außerhalb des Internets mit 55 Prozent häufiger angegeben wurden als körperliche Übergriffe, Belästigung oder Verfolgung (13 Prozent).

Die meisten Betroffenen zeigten antisemitische Vorfälle nicht an

Von den Befragten, die nach eigenen Angaben von Antisemitismus betroffen waren, hat nur weniger als die Hälfte (49 Prozent) das Gefühl, dass sie ihre Religion uneingeschränkt ausüben kann; 28,7 Prozent gaben an, in der Öffentlichkeit ihre Identität nicht offen zu zeigen. Dies deute auf „soziale Mechanismen der Desintegration und des Rückzugs als Folge der Antisemitismuserfahrungen hin“, schreiben die Autoren der Studie.  „Das Judentum verschwindet aus dem öffentlichen Raum, aus dem öffentlichen Leben“, sagte Philipp Stricharz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde. „Das kann so nicht bleiben.“

Viele befragte Juden führen Antisemitismus auf Nahostkonflikt zurück

Die Studienteilnehmer wurden gebeten, eine erlebte Tat auszuwählen, die sie persönlich als am schlimmsten empfanden. Darauf antworteten 154 von insgesamt 548 Befragten. Als häufigste Tat (24 Prozent) wurde angegeben, im Internet oder in sozialen Medien persönlich beschimpft, bedroht oder beleidigt worden zu sein. Rund 17 Prozent nannten abfällige Äußerungen über die eigene Person oder die jüdische Gemeinde; 10,4 Prozent gaben als schlimmste Tat an, außerhalb des Internets persönlich beschimpft, bedroht oder beleidigt worden zu sein.

Befragt nach dem Bereich, aus dem der Täter oder die Täterin stammte, gaben 7,5 Prozent der 154 Antwortenden an, dass es sich um Arbeitskolleginnen oder -kollegen gehandelt habe. Als zweithäufigster Bereich wurde der Bekanntenkreis genannt (7,2 Prozent), gefolgt von der Schule oder Hochschule, mit der die Betroffenen zu tun haben. Die meisten Befragten konnten allerdings keine Angaben zu der Frage machen. Von denjenigen, die angaben, dass sie einen Vorfall als besonders schlimm empfanden, brachten nach eigenen Angaben nur 19 Prozent diese antisemitischen Vorfälle zur Anzeige – ein Großteil der Taten wurde der Polizei also nicht bekannt.

Mehr als die Hälfte der Befragten (64,7 Prozent), die nach eigenen Angaben eine antisemitische Diskriminierung erlebt haben, führen dies auf den Nahostkonflikt zurück. Die Autoren der Studie schreiben, dies spiegele die offiziellen Zahlen diverser Stellen wider, wonach es infolge des Überfalls der Terrorgruppe Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der Gegenangriffe des jüdischen Staates in Deutschland zu einem deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle kam.

Anstieg antisemitischer Straftaten in Hamburg seit dem 7. Oktober

Wie berichtet war es zuletzt auch in Hamburg verstärkt zu Hass und Hetze gegen Menschen jüdischen Glaubens gekommen: Im vergangenen Jahr hatte die Polizei 132 antisemitische Straftaten in der Hansestadt registriert. Es war ein Anstieg um mehr als 80 Prozent gegenüber dem Vorjahr: 2022 verzeichneten die Beamten 73 antisemitische Straftaten in Hamburg. Im ersten Quartal des laufenden Jahres erfasste die Polizei in Hamburg 21 antisemitische Straftaten, fünf mehr als im ersten Quartal 2023. In der Mehrheit der Fälle handelte es sich um Volksverhetzungen.

Hamburgs Antisemitismusbeauftragter Stefan Hensel hatte dem Abendblatt schon im April gesagt, viele Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Hamburg seien vorsichtiger geworden, um „ihre Angriffsfläche zu reduzieren“, wie er es ausdrückte. „Einige Jüdinnen und Juden in Hamburg, die ihre Davidsterne früher öffentlich trugen, tun das nun nicht mehr.“ Die Autoren der Dunkefeldstudie schreiben nun: „Die massiven Auswirkungen antisemitischer Diskriminierung auf das freie Ausleben jüdischer Identitäten in Hamburg kann als deutliches Warnsignal gedeutet werden für die Gefährdung der Stadtgesellschaft als Integrations- und Teilhabekraft.“

Mehr als die Hälfte der Befragten fühlen sich unwohler in Hamburg

Der Dunkelfeldstudie zufolge gaben knapp 64 Prozent der Befragten an, dass sie sich in Hamburg unwohler fühlen als zwölf Monate vor dem Zeitpunkt ihrer Befragung; 34,3 Prozent berichteten, dass sie sich ungefähr gleich wohl fühlen; 1,8 Prozent gaben an, sich als Jüdin oder Jude in Hamburg wohler zu fühlen. Von den Befragten, die einen Zusammenhang zwischen antisemitischen Erfahrungen und dem 7. Oktober und seinen Folgen sehen, fühlen sich 90 Prozent unwohler in Hamburg.  

Was aus Sicht der Studienautoren besonders alarmierend ist: Aus den Daten gehe hervor, dass sich infolge einer antisemitischen Erfahrung in Hamburg bei den Betroffenen das Vertrauen in öffentliche Institutionen verringere, insbesondere wenn die Befragten erlebten Antisemitismus in Verbindung mit dem Nahoskonflikt bringen. Nur etwa ein Drittel derjenigen, die angaben, antisemitisch diskriminiert worden zu sein, und die denken, dass das Erlebnis mit dem Israel-Gaza-Krieg zu tun hat, vertraut gegenwärtig öffentlichen Institutionen.

Der stärkste Effekt in dieser Gruppe betrifft das Vertrauen in die Polizei: Nur 32 Prozent haben der Studie zufolge ein hohes Vertrauen in die Beamten. Von den Befragten, die keine Diskriminierung erlebten, haben dagegen 71 Prozent ein hohes Vertrauen in die Polizei. „Das deutlich reduzierte Vertrauen in Polizei und Gerichte unter Jüdinnen und Juden, die Antisemitismuserfahrung gemacht haben, muss als besonders problematisch eingestuft werden, zumal dieses Vertrauen eine zentrale Grundlage für den Glauben an deren Legitimität darstellt“, schreiben die Autoren.

Polizeipräsident: „Haben beim Thema Sicherheitsgefühl noch einiges zu leisten“

Die Forschenden um Eva Groß und Joachim Häfele empfehlen, die Aus- und Fortbildung von Beamten zu erweitern. Eine „stärkere Sensibilisierung und Professionalisierung bezüglich Antisemitismus bei den Sicherheitsbehörden und der Justiz“ könne „dazu beitragen, das Vertrauen in diese Institutionen zu erhöhen“.

Hamburgs Polizeipräsident Falk Schnabel betonte, der Schutz des jüdischen Lebens habe für Hamburgs Polizei „höchste Priorität“. Angesichts der aktuellen Studie werde „allerdings deutlich, dass wir im Hinblick auf das Vertrauen in die Ermittlungsbehörden und beim Thema Sicherheitsgefühl noch einiges zu leisten haben“. Er appellierte an Betroffene: „Zögern Sie nicht, zur Polizei zu gehen und nach Schutz und Hilfe zu verlangen!“

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Gleichstellungssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) sagte: „Die Studie zeigt, dass wir noch eine große Aufgabe vor uns haben.“ Sie verwies unter anderem auf die geplante Antisemitismus-Strategie der Stadt, die noch in diesem Jahr vom rot-grünen Senat und der Bürgerschaft verabschiedet werden solle. Im Kampf gegen Antisemitismus seien alle Behörden und die Bezirke gefordert. Der geplante Wiederaufbau der von den Nazis zerstörten Bornplatzsynagoge werde dazu beitragen, jüdisches Leben in der Stadt besser sichtbar zu machen.

Philipp Stricharz, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, forderte: „Antiisraelische Hetze im öffentlichen Raum beeinträchtigt, wie die Studie zeigt, die Teilhabe jüdischer Hamburger am öffentlichen Leben. Dieser Hetze muss Hamburg nunmehr entschieden entgegentreten und deutlich die Verantwortung der Hamas für das Leid in Israel und in Gaza betonen.“