Hamburg. Ein Hamburger Grünen-Abgeordneter über die berührenden Erfahrungen seiner Familie – und was für Betroffene besser werden muss.
Zum ersten Mal bemerkte Dennis Paustian-Döscher vor sechs Jahren, dass mit seiner Großmutter etwas nicht stimmte. Wie alle paar Wochen besuchte der Hamburger Grünen-Politiker damals seine Oma Edith in Oldenburg in Holstein, wo er auch selbst aufgewachsen ist. Aber diesmal hatte sich etwas verändert.
Als beide zusammensaßen, fragte ihn seine Großmutter plötzlich, wie es denn in der Berufsschule so laufe. Dabei war es damals schon zehn Jahre her, dass der heute 43 Jahre alte Bürgerschaftsabgeordnete die Berufsschule abgeschlossen hatte. Auch seinen Bruder wähnte die Großmutter noch in der Schule, so als habe sie in ihrem Kopf einen großen Schritt zurück in die Vergangenheit gemacht.
Alzheimer: Warum Hamburger Grünen-Politiker die Geschichte öffentlich macht
Und tatsächlich war dies nur der erste von vielen weiteren Schritten, die in den nächsten Monaten und Jahren folgen sollten. „Die Erinnerungen und das Leben meiner Oma fand ab jetzt in der Rückwärtsreise durch ihr Leben statt“, erzählt der Grünen-Politiker heute. „Jeder Besuch markierte wieder einen Schritt zurück. Personen, die schon lange gestorben waren und die ich zum Teil gar nicht mehr kennenlernen durfte, waren für sie wieder lebendig.“
Nicht nur, weil er so sehr an ihr hängt, hat sich Dennis Paustian-Döscher zusammen mit seiner Familie entschlossen, die Geschichte seiner Großmutter Edith Paustian und ihrer Demenz öffentlich zu machen. „Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, wie schwierig es für die Betroffenen und ihre Familien noch immer ist, schnell adäquate Hilfe zu bekommen“, sagt der Abgeordnete, der sich in der Bürgerschaft für die Grünen um die Haushaltspolitik kümmert. „Und ich habe gemerkt, dass Demenz noch immer ein großes Tabu ist, auch in den Familien. Beides muss sich ändern, vielleicht kann die Geschichte meiner Oma dabei ein klein wenig helfen.“
„Demenz ist noch immer ein großes Tabu, das muss sich ändern“
Als er 2017 zum ersten Mal den Verdacht hegte, seine damals 81-jährige Großmutter könnte an einer beginnenden Demenz leiden, stieß er auch in seiner Familie zunächst auf Widerstand, erinnert sich Paustian-Döscher. Ach was, hieß es dann, die Oma wirke doch bloß manchmal tüdelig, weil sie so schlecht höre.
„Allein das Ansprechen des Themas führte zu der einen oder anderen heftigen Auseinandersetzung“, berichtet der Grünen-Politiker. „Demenz ist noch immer ein Thema, worüber man besser schweigt.“ Auch nach außen hielt die Fassade, obwohl die Krankheit über die Monate kontinuierlich voranschritt. Weder mit Freunden noch mit Nachbarn wurde über die langsame Reise zurück in ihre Kindheit gesprochen, die Edith Paustian nun angetreten hatte. Sogar vor dem langjährigen Hausarzt hielt man die Erkrankung geheim.
Alzheimer-Erkrankung erinnert Dennis Paustian-Döscher an Inge-Meysel-Film
Enkel Dennis Paustian-Döscher fühlte sich beim Blick auf seine geliebte Großmutter in jenen Monaten an die Verfilmung des Kinder- und Jugendbuchs „Die blauen und die grauen Tage“ mit Inge Meysel erinnert. An den blauen Tagen könne sie ganz klar denken, erklärt die unter Demenz leidende Oma Lotte in dem Film ihren Enkelinnen. An den grauen aber wisse sie kaum, wer und wo sie sei und irre verloren durch die Stadt. Und leider nehme die Zahl der grauen Tage bei dieser Erkrankung mit der Zeit zu.
Ähnlich erlebte es Paustian-Döscher bei seiner Oma Edith. „Die grauen Tage nahmen immer weiter überhand“, erinnert er sich. „Es begannen nun langsam auch die kompletten Aussetzer, bei denen sich meine Großmutter vollständig verwandelte. Zunächst nur für Minuten, daraus wurden aber bald schon Stunden und immer öfter ganze Tage. Es kam die Zeit, da saß sie nur noch teilnahmslos auf ihrem Stuhl und nickte. Und noch immer wurde in der Familie und im Umfeld über die nun gar nicht mehr zu übersehende Erkrankung der Großmutter geschwiegen.“
Alzheimer: Nach 60 Jahren Ehe verließ seine Frau ihn, ohne fortzugehen
Vielleicht hatte das auch mit Horst Paustian zu tun. Mehr als 60 Jahre war der gelernte Maler mit seiner Edith schon verheiratet, als die Krankheit bei ihr ausbrach. Womöglich wollte er nicht wahrhaben, was mit seiner geliebten Frau geschah, seiner Jugendliebe, die zu seinem Lebensmenschen geworden war. Dass sie ihn langsam verließ, ohne fortzugehen.
Rührend und rund um die Uhr habe sein Großvater seine Frau betreut, berichtet Dennis Paustian-Döscher. Beide waren etwa gleich alt. „Auch durch normale altersbedingte Beschwerden wurde die Pflege intensiver. Mein Großvater hat sich aufopferungsvoll um sie gekümmert“, so Paustian-Döscher. „Sie waren so eng zusammen wie immer in den mehr als sechs Jahrzehnten ihrer Ehe. Es war die erste große Liebe, die ein ganzes Leben hielt. Und heute weiß ich: Die Angst vor dem Loslassen und dem Alleinsein war gerade zu dieser Zeit immer größer.“
Alzheimer: Und dann traf der zweite Schlag die Familie
Mit den Jahren aber wuchs nun auch die Sorge um den Großvater, denn auch Horst Paustian, der Jahrzehnte lang als Hausmeister gearbeitet hatte und sich also bestens aufs Organisieren verstand, wurde ja nicht jünger. „Als ich die beiden im Juli 2022 besuchte, hatte meine Großmutter einen ihrer letzten sehr klaren Momente und sagte zum Abschied, dass sie nicht mehr leben möge. Und dass sie sich schäme für ihre Krankheit“, erinnert sich der Enkel heute.
Wenig später habe sein mittlerweile 87-jähriger Opa Horst ihn noch einmal angerufen und ihm alles Gute für sein Steuerberaterexamen gewünscht, erzählt der Grünen-Abgeordnete. „Es war das letzte Mal, dass ich ihn hörte.“ Zwei Tage danach bekam er einen Anruf seines Vaters, morgens um halb neun, mitten im Vorbereitungskurs für das Examen. „Mein Großvater war plötzlich unter der Dusche zusammengebrochen und ist sofort gestorben.“
Demenz: Der Verlust löste bei Edith Paustian einen Schub aus
Der plötzliche und so überraschende Tod von Horst Paustian traf alle in der Familie tief und unvorbereitet. Für Edith aber war der Verlust ihres Mannes vollends unerträglich. Denn die Welt wurde ihr ja durch ihre Krankheit schon immer fremder – und nun war auch noch der Mensch gegangen, der ihr vertrauter war als jeder andere.
„Der Tod meines Großvaters löste bei meiner Großmutter einen schweren Schub aus“, sagt Dennis Paustian-Döscher. „Seit diesem Tag habe ich fast keinen klaren Moment bei ihr mehr erlebt.“
Alzheimer: Es gab weder eine Diagnose noch einen Pflegegrad
Was die nun für alle ganz neue Situation an Herausforderungen auch für ihn persönlich bedeuten sollte, sei ihm im Sommer 2022 „zum Glück nicht bewusst gewesen“, sagt Paustian-Döscher im Rückblick. „Ob ich es sonst geschafft hätte – ich weiß es nicht.“
Die Fassade habe über all die Jahre der Erkrankung „so gut gehalten, dass keiner etwas wusste, nicht einmal eine Diagnose gab es, von einem Pflegegrad ganz zu schweigen“, erzählt der Enkel. „Alleine konnte man meine Großmutter nicht mehr lassen, deswegen kam sie zunächst bei meinem Vater unter. Eine 24-Stunden-Betreuung konnte dort aber auch nicht geleistet werden.“
Sie erkannte niemanden und legte Unterwäsche in den Kühlschrank
Dabei hatte der Zustand von Edith Paustian sich zuletzt dramatisch verschlechtert. Nun sprach sie kaum noch, erkannte kaum einmal jemanden und legte schmutzige Unterwäsche in den Kühlschrank. Längst war sie auch eine Gefahr für sich selbst.
„In einem Kraftakt musste als erstes eine Diagnose her, eine Betreuung angeordnet und die Pflegestufe beantragt werden“, erinnert sich Edith Paustians Enkelsohn an die Wochen im Sommer 2022. „Aber schon ein Schnellverfahren für die Pflegestufe hätte mehrere Monate gedauert.“
Nach dem Tod des Großvaters begann der Kampf mit den Behörden
Die Diagnose Alzheimer kam dann immerhin schnell, aber auch erschütternd eindeutig: Bei einem entsprechenden Test, bei dem man 100 Punkte erreichen kann und schon ab 60 Punkten der Demenzbereich beginne, habe Edith Paustian ganze vier Punkte erreicht, sagt ihr Enkelsohn. „Jetzt war klar: Wenn man meiner Oma nicht sofort hilft, besteht Lebensgefahr.“
Nun begann für die Familie der Kampf mit den Behörden. „Nach Dutzenden Stellen, die sich selbst jeweils nicht, aber immer andere Stellen für zuständig hielten, konnten wir endlich eine Amtsärztin für die Einweisung in eine Klinik gewinnen“, so Paustian-Döscher. „Denn nur so konnte man eine Eil-Einstufung für die Pflegestufe organisieren. Und ohne diese wäre ja eine Pflege überhaupt nicht möglich gewesen.“
Nach sechs fordernden Wochen gibt es endlich eine Lösung
Nach sechs extrem fordernden Wochen habe er dann endlich wieder durchatmen können. „Meine Großmutter war in Sicherheit, die Diagnose gestellt, die Einstufung kam auch sehr schnell, und dank des Sozialdienstes haben wir schnell einen bezahlbaren Heimplatz gefunden.“
Die Geschichte seiner Großmutter habe ihm aber sehr deutlich gezeigt, wie groß die Schwächen bei der Versorgung von Demenzkranken in Deutschland noch immer seien, sagt der Grünen-Politiker im Rückblick. „Wir bräuchten viel mehr Demenz-WGs, damit diese Menschen möglichst lange selbstbestimmt, aber sicher leben können. Man muss viel offener mit den Betroffenen, aber vor allem auch mit den Angehörigen reden und sie stärken. Ganz häufig werden sie völlig allein gelassen. Man sollte nicht darauf warten, bis etwas passiert.“
Demenz: Was der Grünen-Politiker sich für Betroffene und deren Familien wünscht
Festgestellt habe er auch etwas anderes: Vorsorgevollmachten seien zwar eine extrem gute und wichtige Sache. „Aber man muss auch vorher mit den Menschen sprechen, die sie eines Tages umsetzen sollen. So kann man sich und seinen Angehörigen viel Leid und Bürokratie ersparen.“
Und die Pflege? „Hier wäre eine Reform dringend angebracht“, glaubt der Bürgerschaftsabgeordnete. „Meine Großmutter hat lange als Verkäuferin selbst gearbeitet, sie hat eine gute Witwenrente. Durch den Verkauf des Hauses an mich wurde sie nun kein Sozialfall. Das geht aber vielen Menschen ganz anders, sodass auch ordentliches Vermögen schnell schon durch die Pflege eines Jahres aufgezehrt ist.“
Das Wichtigste aber sei für ihn: „Schweigen wir nicht vor dieser Krankheit, sondern nehmen wir die Erkrankten als Menschen mitten im Leben wahr! Das würde schon enorm weiterhelfen.“
Sie ist jetzt in einer anderen Welt, aber sie scheint glücklich zu sein
Bis heute lebe seine Oma Edith in einem Heim in Oldenburg, sagt Paustian-Döscher. Seine eigene Rolle sei jetzt eine ganz andere geworden, so sei eben der Lauf der Welt. „Als ich klein war, passte sie auf mich auf, weil meine Mutter schon früh arbeiten gehen musste. Sie war immer für mich da, auch wenn es natürlich auch mal Streit gab. Heute helfe ich ihr dann schon mal beim Essen und Trinken, damit sie es nicht vergisst.“ Wenn er ihre Hand nehme, werde seine Großmutter meistens ganz ruhig und sehe glücklich aus. „Dann bin ich es auch“, sagt der Enkel.
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„Ich glaube sowieso, dass meine Oma jetzt meistens glücklich ist“, sagt Paustian-Döscher. „Auch wenn sie nun in einer ganz anderen, eigenen Welt lebt, mittlerweile in ihrer Kindheit auf einem kleinen Dorf. Dort ist sie in Sicherheit. Und sie freut sich noch immer, wenn sie Besuch bekommt.“
Demenz: Und dann gibt es sie plötzlich doch noch, diese Momente des Lichts
Ganz selten gibt es sie dann doch noch mal, diese verblüffenden Momente des Lichts. Dann erkennt Edith Paustian ihren Besucher urplötzlich, als sei sie wieder ganz bei sich, als sei alles wie früher, als sei eine blaue Minute angebrochen. Und dann, wenn sie ihren Enkel Dennis völlig überraschend sogar beim Namen nennt, fließen auch mal Tränen des Glücks.