Hamburg. 75 Jahre Grundgesetz: Symposium über die Verfassung, ihre Bedrohung, TikTok und Lösungsstrategien im Umgang mit Rechtspopulisten.
Alles Gute, Grundgesetz! Seit 75 Jahren ist es in Kraft, aber wie steht es momentan um Deutschlands Verfassung? Rechtsextremismus, Islamismus und Antisemitismus: Die Demokratie sei unter Druck. Zu dieser Einschätzung kamen Innensenator Andy Grote (SPD), der ehemalige saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) und der Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz, Torsten Voß, am Mittwoch bei einem Symposium des Senats im Hamburger Rathaus. Sie sprachen über die inneren und äußeren Bedrohungen unserer Verfassung und warum ein Verbot der AfD schwierig umzusetzen sei.
Das Grundgesetz sei die „entscheidende Grundlage für viele Jahrzehnte Frieden“, sagte Grote vor rund 150 Gästen aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Kultur, Medien und Gesellschaft im Rathaus. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes sei 1949 eine enorme rechtsschöpferische und zivilisatorische Leistung gelungen. „Diese Demokratie ist stark und wird auch den aktuellen Bedrohungen widerstehen“, betonte der Innensenator.
Hamburgs Innensenator Andy Grote über Parteiverbote: immer die „Ultima Ratio“
Dennoch erlebe die Demokratie aktuell eine Vertrauenskrise. „Wir sehen ein Erstarken rechtsradikaler Kräfte.“ Politiker erleben verbale und physische Gewalt. Durch den Nahost-Konflikt gäbe es außerdem eine Welle an Antisemitismus. In Thüringen könnte die Regierung im äußersten Fall in die Hände eines „ausgewiesenen Rechtsextremisten“ fallen, sagte Grote. Am 1. September sind Landtagswahlen in Thüringen. Laut Umfragen könnte die AfD mit Spitzenkandidat Björn Höcke stärkste Kraft werden.
Grote höre die Forderungen nach Verboten, das sei aber immer die „Ultima Ratio“. „Extremismus als solcher ist nicht verboten.“ Das Grundgesetz schütze auch die Freiheit solcher Meinungen, die damit unvereinbar sind. „Das heißt auf der anderen Seite keinesfalls, dass es dem Grundgesetz an Wehrhaftigkeit fehlt – im Gegenteil.“ Allen voran der Verfassungsschutz sei die „Alarmanlage und erste Verteidigungslinie unserer Demokratie“, sagte der Innensenator. Darüber hinaus seien wir es selbst, die entscheiden, wie stark unsere Demokratie ist. Hamburgs Innensenator verweist auf die Europa- und Bezirkswahl am 9. Juni.
Torsten Voß: „TikTok-isierung des Islamismus“ durch Gruppen wie „Muslim Interaktiv“
Laut Torsten Voß werde das Grundgesetz „von innen und außen bedroht“, wie der Hamburger Verfassungsschutzchef sagte. In der Pandemie habe sich ein neuer extremistischer, verschwörungstheoretischer Phänomenbereich gebildet, der nicht leicht dem Links- oder Rechtsextremismus zuzuordnen sei. Von außen agiere Russland mit allen Mitteln aggressiv gegen den Westen. Islamisten würden eine pauschale Muslimfeindlichkeit unterstellen. Torsten Voß sprach von einer „TikTok-isierung des Islamismus“, die Gruppen wie „Muslim Interaktiv“ auf sozialen Netzwerken geschickt betreiben würden.
Die Behauptung, der Verfassungsschutz sei untätig, lässt Torsten Voß nicht gelten. So sei die salafistische Vereinigung „Lies“ verboten worden. Man werde auch künftig „den Islamisten auf den Füßen stehen“. Spionage- und Cyberabwehr würden in Zukunft massiv an Bedeutung gewinnen. Auch menschliche Quellen seien weiterhin ein unverzichtbares Mittel nachrichtendienstlicher Arbeit. Aufgeklärte Bürger seien der beste Schutz für unsere Demokratie.
Peter Müller über AfD-Verbot: „Ein Höcke allein genügt nicht“
Peter Müller hält die Umsetzung eines Verbots der AfD für schwierig. Ein solches Verfahren sei enorm aufwendig. Bis ein Antrag gestellt ist, würden bereits Monate vergehen. Für die kommenden Landtagswahlen spiele ein Parteiverbotsverfahren also keine Rolle mehr. Außerdem müsse der AfD nachgewiesen werden, dass sie nicht auf dem Boden der Verfassung steht, was nicht einfach sei. „Ein Höcke allein genügt nicht. Ein Maximilian Krah allein genügt nicht“, sagte Peter Müller. Er selbst habe sich das Parteiprogramm durchgelesen. „Da werden Sie über Remigration nichts finden.“
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Die beste Strategie gegen die AfD sei gute Politik. „Wir müssen Lösungen aufzeigen“, sagte Müller. Die Mehrheit der Deutschen wolle nicht raus aus der Nato oder dem Euro. Müller kritisierte Übergriffe auf Polizeibeamte und Rettungskräfte. „An der Stelle habe ich den Eindruck, dass wir ziemlich hilflos sind.“ Die Schuldzuweisung nach rechts stimme jedoch häufig nicht. Bei Gewaltdelikten gegen Politiker seien vor allem AfD-Politiker die Opfer. Peter Müller fand aber auch lobende Worte. Dass der Verfassungsschutz aufgestockt wird, sei ein Schritt in die richtige Richtung.
Grundgesetz heute in guter Verfassung – neun von zehn Punkten
Im Anschluss folgte eine Podiumsdiskussion, moderiert von Lars Haider, dem Chefredakteur des Hamburger Abendblatts. Neben Peter Müller nahm unter anderem Anja Domres, stellvertretende Leiterin des Hamburgischen Verfassungsschutzes, daran teil. Aus der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass vor allem die innere Sicherheit in den nächsten Jahren zunehmend ein Problem werden könnte sowie das Thema Datenschutz. Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion waren sich jedoch einig: Das Grundgesetz ist eine gute Verfassung. Auf Nachfrage von Lars Haider geben sie dem Grundgesetz neun bis zehn von zehn möglichen Punkten. Dann auf die nächsten 75 Jahre.