Hamburg. Am Zukunftstag sollen Mädchen und Jungen in geschlechteruntypische Berufe hineinschnuppern. Am Angebot scheiden sich aber die Geister.

Seit mehr als 20 Jahren gibt es ihn einmal im Jahr in Hamburg, den Girls‘- und Boys‘-Day. Und der fühlt sich für einige so an, wie die alljährliche Einladung zu Tante Hedwigs Geburtstag: Will man da überhaupt hin oder besser Grippe vortäuschen? Allerdings war es dann immer sehr nett, wenn man da war, und Kuchen mit Sahne schmeckten auch immer herrlich.

Hin- und hergerissen, so die Gefühlslage zum sogenannten „Zukunftstag“. Einst unter anderem vom Bundesfamilienministerium ins Leben gerufen, um Kinder und Jugendliche ab Klasse 5 in geschlechteruntypische Berufsfelder hineinschnuppern zu lassen.

Girls‘- und Boys‘-Day in Hamburg – wichtig oder in dieser Form sinnlos?

Auch in diesem Jahr – genauer gesagt am Donnerstag – geben wieder viele Hamburger Unternehmen, Behörden, Forschungs- und andere Einrichtungen dem Nachwuchs Einblicke. Manche von ihnen gestalten den Tag sogar mit einem richtigen Programm für die Girls und Boys.

Doch funktioniert das Konzept und führt tatsächlich dazu, dass sich bei der Berufswahl mehr Absolventen grundlegend anders entscheiden als ohne dieses Mini-Praktikum? Es gibt Zweifel daran, ob das Konzept noch zeitgemäß ist, wer sich eigentlich als „Girl“ oder „Boy“ angesprochen fühlt oder ob dies einfach nur ein Tag zum Rumchillen ist. Die Verantwortung für die Art der Ausführung liegt nämlich bei den Schulen. Die begleiten das Projekt – mal mehr und mal weniger euphorisch. Auch in unserer Redaktion gibt es zwei Meinungen.

Contra Girls‘- und Boys‘-Day:

Landespolitik-Ressortleiterin Insa Gall positioniert sich gegen den Girls‘- und Boys‘-Day in dieser Form.
Landespolitik-Ressortleiterin Insa Gall positioniert sich gegen den Girls‘- und Boys‘-Day in dieser Form. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Junge Menschen an die Berufswelt heranzuführen, ist natürlich eine gute Sache. Einen Tag lang können Girls und Boys am Donnerstag ins Arbeitsleben hineinschnuppern. Viele Hamburger Unternehmen, Behörden und Einrichtungen bieten richtige Programme an diesem Tag.

Die weiterführenden Schulen richten sich in unterschiedlichen Jahrgangsstufen auf den Girls‘- und Boys‘-Day ein – einige nur in der siebten und achten Klasse beispielsweise, andere von Jahrgang fünf bis zehn. Im Idealfall bekommen Kinder und Jugendliche also in bis zu sechs Jahren sechs Einblicke in ganz unterschiedliche Arbeitsfelder – eine Entscheidungshilfe für die eigene Zukunft.

So weit die Theorie.

In der Praxis lässt die Umsetzung aber an vielen Schulen sehr zu wünschen übrig. Der Ausflug in die Berufswelt wird im Unterricht kaum vor- und die Erfahrungen zu wenig nachbereitet. Dies ist den einzelnen Schulen überlassen und die wenigsten betten den Aktionstag in ein umfassendes Konzept zur schulischen Berufsorientierung ein. So bleibt es den Kindern und Jugendlichen überlassen, ob sie sich voll reinhängen oder eben nicht.

Für alle, die gezielt nach attraktiven Angeboten suchen in Arbeitsfeldern, die sie sich gut für sich selbst vorstellen könnten, ist dieser Tag ganz sicher ein Gewinn. Das passende Angebot müssen sich die Schülerinnen und Schüler aber vielfach selbst suchen, und nicht wenige greifen auf die Firma des Onkels, die Praxis der Patentante oder den Arbeitsplatz der Mutter zurück, die sie an diesem Tag eben mal begleiten.

Das ist einmal interessant, zweimal weniger und beim dritten Mal dann überhaupt nicht mehr. Wohin also im nächsten Jahr? Oder einfach nicht mehr mitmachen?

Von den Kindern, die nicht über gute Kontakte verfügen, mal ganz abgesehen. 2001 war der Girls‘-Day eingeführt worden, um Mädchen für zukunftsträchtige Berufe zu interessieren, in denen sie noch stark unterrepräsentiert waren. Um der Gleichberechtigung willen zog man zehn Jahre später mit dem Boys‘-Day nach, der Jungen an Berufe jenseits gängiger Rollenbilder heranführen sollte. Dieser Aspekt geschlechterübergreifender Berufswünsche spielt heute in der Praxis dieses Aktionstages nur noch weniger eine Rolle.

Der Girls‘ and Boys‘ Day ist an sehr vielen Hamburger Schulen unterrichtsfrei. Vielfach finden Lehrerkonferenzen statt. Ob die Kinder an dem Tag der Arbeitswelt einen Besuch abstatten oder nicht, wird zumeist nicht kontrolliert. Das gilt nicht für alle Schulen, aber für viele. Für viele Schülerinnen und Schüler ist der Girls‘ and Boys‘ Day einfach ein schulfreier Tag.

Ein Zukunftstag – ja, aber dann auch richtig ausgestalten und besser begleiten.

Pro Girls‘ und Boys‘-Day:

Camilla John ist Redakteurin im Ressort Landespolitik und befürwortet den Girls‘ und Boys‘ Day.
Camilla John ist Redakteurin im Ressort Landespolitik und befürwortet den Girls‘ und Boys‘ Day. © Unbekannt | Unbekannt

Einen Tag lang Stundenplan und Whiteboard entkommen und ins echte Leben reinschnuppern – was für eine Bereicherung für Hamburgs 10- bis 16-Jährige. Mehr als 160.000 Plätze wurden im vergangenen Jahr bundesweit angeboten. Der Girls‘- und Boys‘ Day vereint seit seiner Gründung im Jahr 2001 für die Mädchen und die Jungen ein Jahrzehnt später zweierlei: einen Blick dahin, wofür im besten Falle gebüffelt wird, in die Arbeitswelt. Dazu wird mit dem zugrundeliegenden Gedanken – die noch immer deutlich vermehrt gewählten geschlechterspezifischen Berufsfelder aufzubrechen – ein für unsere Zeit unverzichtbares Thema sichtbar gemacht: Rollen- und Geschlechterklischees sind überholt und haben in einer modernen, diversen Gesellschaft keine Zugehörigkeit.

Das kann nicht oft genug thematisiert werden, und weil bloßes Zuhören definitiv von eigener Erfahrung getoppt wird, brauchen Hamburgs Schüler diesen besonderen Tag weiterhin. Wenn polemisch darüber gesprochen wird, dass Mädchen dann zum Metallbauer müssen und Jungs in die Kita, und dies als Argument gegen den Girls‘ and Boys‘ Day verwendet wird, dann zeigt sich nur eines: dass noch zu wenig in den (erwachsenen) Köpfen passiert ist. Der Blick weit über den Tellerrand hinaus, er ist nicht nur für unsere Kinder unverzichtbar.

Ja, der Grundgedanke war, dass Mädchen explizit Berufe oder Studienfächer kennenlernen, in denen der Frauenanteil unter 40 Prozent liegt. Das sind die sogenannten MINT-Berufe beispielsweise in den Bereichen IT, Handwerk, Naturwissenschaften und Technik. Da dann auffiel, dass das andere Geschlecht damit diskriminiert wurde, kam das gleiche Konzept für die Jungs hinzu. Gut so! Was für eine Chance, mit wenig Aufwand, Unterstützung der Schule, Gesprächen mit den Eltern unkompliziert einen Tag zu sehen, wie es im Café, auf einem Reiterhof, einem Verein, einer Kanzlei im Alltag läuft.

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Oder auch in Berufsfeldern, an die man nicht sofort denkt. Denn wie das Bundesfamilienministerium verlauten lässt, begrenzen sich die Heranwachsenden selber: Mehr als die Hälfte der Mädchen wählt innerhalb zehn von insgesamt 330 dualen Ausbildungsberufen, darunter sei kein einziger gewerblich-technisch. Recht ähnlich bei den Jungen, hier wählen mehr als die Hälfte unter nur zwanzig immer gleichen Ausbildungsberufen.

Wer einen positiven Eindruck beim Minipraktikum bekommen hat, bei dem greift übrigens der Klebeeffekt: 42 Prozent der Girls‘-Day-Teilnehmerinnen und 36 Prozent der Boys‘-Day-Teilnehmer können sich vorstellen, in das Unternehmen für ein Praktikum oder eine Ausbildung zurückzukehren.

Der (gut vorbereitete) Girls‘ und Boys‘ Day kann somit mehreres leisten und wird dann seinem Namen gerecht: Zukunftstag.

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