Hamburg . Benthe Müller hilft als Sozialpädagogin auf Achse obdachlosen Jugendlichen zurück in die Spur. Aber erst, wenn die es wollen.

Straßenkinder, da denkt man an Kriegsgebiete oder Megastädte, in denen zerlumpte Minderjährige in Pappkartons hausen und von gewissenlosen Banden zum Stehlen abgerichtet werden wie in „Oliver Twist“. „So extrem ist es zum Glück bei uns nicht“, sagt Benthe Müller. Aber als sie bei Off Road Kids anfing, musste auch sie erst mal umdenken: 9000 bis 20.000 junge Menschen schlagen sich in deutschen Großstädten auf der Straße durch, schätzen Hilfsorganisationen. „Wie muss es zu Hause gewesen sein, dass jemand es vorzieht, unter einer Brücke oder auf einer Matratze im Zelt zu leben, bei jedem Wetter? Jeden Abend neu zu überlegen: Wo kann ich hin?“

Solche Fragen hat sie im Hinterkopf, wenn sie mit einem Kollegen oder einer Kollegin ihre Rundgänge macht. Hauptbahnhof, Altonaer Bahnhof, Schanze, Rote Flora, Reeperbahn – das sind in Hamburg die Hotspots für junge Leute zwischen 14 und 25, die auf der Straße gelandet sind. Benthe Müller fackelt nicht lange. Sie geht auf die Gruppen zu und fragt die Jugendlichen, woher sie kommen, wo sie schlafen, wie sie zurechtkommen oder auch nicht. Für viele ist die 38-Jährige außer den Straßenkumpels der erste Mensch, der sich dafür interessiert.

Nicht alle wollen gleich von sich erzählen. Vielleicht beim nächsten Mal. Bei anderen ist die Haut schon dünn wie Papier. Die Lagerfeuerromantik ist weg, Handy oder Personalausweis sind gestohlen worden. Der neue Freund, der zuerst den Charme des Abenteurers verströmte, ist meistens zugedröhnt. Das Geld reicht nicht mehr, und alles nervt: die dreckigen Klamotten, die Aussicht auf eine weitere Nacht im Regen, auf das Betteln für ein Abendessen oder eine kostenlose Dusche oder irgendwas zum Betäuben. In solchen Situationen ist die Frau mit dem frechen blonden Haarschnitt eine gute Zuhörerin. „Ich bin wie eine Art große Schwester“, sagt Benthe Müller. „Ich mache keine Vorwürfe, ich sage: Komm doch mal bei uns vorbei, dann können wir in Ruhe besprechen, was anliegt und wo es brennt.“

Vielleicht wirkt es auf Jugendliche vertrauenerweckend, dass Benthe Müller Tattoos hat. Auf der Innenseite ihres linken Arms steht „Liebe ist alles“, auf dem rechten Arm „You got to get up and try“. „Andere wollen Bilder und Blüten“, sagt sie und lacht, „aber für mich sind das Sätze, die mir viel bedeuten und die auch mit Personen zu tun haben.“

„Ich wollte aber gern etwas bewegen“

Zu ihrer Mutter hat sie noch heute eine liebevolle Beziehung. Geboren ist sie in der Finkenau, aufgewachsen aber in einem Dorf bei Wedel. Nach dem Realschulabschluss lernte sie zuerst Erzieherin, studierte danach Sozialpädagogik in der Saarlandstraße. Schon während des Studiums sammelte sie Erfahrung in der Jungerwachsenenbildung und der Drogenhilfe, arbeitete zwei Jahre lang im Nachtcafé des DrobInn in St. Georg mit schwerst Drogenabhängigen. „Ich hatte oft das Gefühl, dass ich dort nicht mehr viel bewirken kann. Ich wollte aber gern etwas bewegen.“ Deshalb fühlte sie sich sofort angesprochen, als die Münchner Stiftung Off Road Kids auch in Hamburg eine Station plante. 2005 baute sie sie auf. Zum Team gehören heute vier Mitarbeiter/innen, dazu kommen häufig Praktikanten.

Zu ihrem Job gehört viel Beinarbeit. Streetworker suchen ihre Klienten auf, aber entscheidend ist, dass die Jugendlichen die Hilfe auch wollen. „Jeder Schritt ist freiwillig. Wenn jemand dreimal nicht zum Termin kommt, kommt er eben beim vierten oder fünften Mal. Ich kann sagen: Ich warte. Bis du kommst und sagst: ,Heute müssen wir meinen neuen Ausweis beantragen.‘ Oder: ,Wir müssen doch etwas gegen meine Sucht machen, ich will da raus.‘ Bis zu dem Moment halte ich die Füße still. Aber wenn du kommst, sind wir hier Feuer und Flamme.“

Pro Monat betreut das Team im Schnitt 40 Jugendliche und junge Erwachsene. Begleitet sie zu Ämtern, hilft beim Beantragen von Geldern, bei der Suche nach einer Wohnung oder einer Ausbildung, vermittelt auch im Verhältnis zu deren Eltern, wenn die Klienten das wünschen. „Jeder im Team hat fünf bis sechs sehr intensive Fälle, für die man manchmal über Wochen aktiv sein muss“, sagt Benthe Müller.

Was veranlasst junge Menschen, auszubrechen und das Elternhaus zu verlassen? „Alles“, sagt Benthe Müller bündig. Manchmal sind es Misshandlungen oder Missbrauch in der Familie, weit häufiger aber die Trennung der Eltern und Konflikte mit den neuen Partnern von Vater oder Mutter. Auch Probleme in der Schule oder mit Gleichaltrigen spielen eine Rolle, zuweilen auch psychische Erkrankungen. „Wir haben viele junge Menschen, die schon früh aus der Familie herausgenommen und in Pflegefamilien gegeben wurden, eine Jugendhilfekarriere hinter sich haben und dann mit 18 aus der Jugendhilfe herausfallen. Und die erst später bei uns landen, weil sie ja vorher in einem System waren, das helfen sollte.“ Sie lernt ihre Klienten erst kennen, wenn das Kind im Brunnen beziehungsweise auf die Straße liegt.

der Preis für das Leben auf der Straße ist hoch

Für „Straßenkinder“ sind Metropolen ein Magnet. Viele kommen vom Land. Auch in der tiefsten Provinz spricht sich herum, wo man in Hamburg oder Berlin Gleichgesinnte trifft. Aber der Preis für das Leben auf der Straße ist hoch. Kleiderläuse sind noch das geringste Problem. Zur Verwahrlosung kommen oft schwere körperliche Leiden. Off Road Kids ist gut vernetzt, arbeitet mit Ärzten und Zahnärzten zusammen, mit Jobcentern, anderen Hilfeeinrichtungen. „Unsere Stiftung ist unabhängig und allein spendenfinanziert. Das gibt uns eine große Freiheit, schnell und unbürokratisch helfen zu können.“

Vorrangiges Ziel ist allerdings nicht, die jungen Menschen um jeden Preis wieder nach Hause zu verfrachten, sondern: die bestmögliche Perspektive für sie zu finden. „Wenn das die Familie ist, unterstützen wir das und holen die Eltern mit ins Boot, wenn das gewünscht wird. Wenn jemand aber schon lange von den Eltern getrennt und die Beziehung zerrüttet ist, braucht es oft auch einen langen Weg, wieder zueinanderzufinden.“ Was Benthe Müller immer wieder anrührt, ist das geringe Selbstwertgefühl ihrer Schützlinge. „Sie denken: Ich bin nichts wert. Ich bin rausgeflogen, werde nicht mehr geliebt.“ Der Ausbruch, der oft mit Frust und Aggression begann, endet in der Depression.

Muss eine Sozialarbeiterin denn eine Alles-Versteherin sein? Sie lacht. „Nein.“ Mit welchem Begriff würde sie ihre Art der Begleitung beschreiben? „Mit ,herzliche Strenge‘. Ich bin sicher streng, aber auch emotional sehr greifbar. Ich glaube nicht, dass man eine bessere Sozialarbeiterin ist, wenn man selbst mal auf der Straße gelebt hat, drogen- oder alkoholabhängig gewesen ist. Ich verstehe auch nicht, warum jemand sehenden Auges immer wieder die gleichen Fehler macht. Aber wer mit mir arbeitet, bekommt eine Fachfrau, die weiß, wie man da wieder herauskommt.“

„Das Leben ist ein Wimpernschlag“

Sie hat in elf Jahren viele Schicksale kennengelernt. Ein junger Klient starb an einer Überdosis. Eine 15-Jährige, die „immer in den falschen Straßengruppen landete“, hat sie über neun Jahre begleitet. Heute ist die junge Frau 24, hat eine Ausbildung gemacht, fiel wieder in ein Depressionsloch. „Wir sind all die Jahre über in Kontakt geblieben. Auch wenn sie noch viel für sich tun muss: Sie hat viel eigene Kraft entwickelt.“ Benthe Müller stellt immer wieder fest, wie viel Potenzial junge Menschen haben. „Trotz aller Schwierigkeiten und Sackgassen bringt jeder für sich viel mit, mit dem ich arbeiten kann. Und irgendwann ist ein Punkt erreicht, wo er wieder allein stehen kann, ein Teil der Gesellschaft wird. Das ist das Tolle an meinem Job.“

Wer den ganzen Tag so intensiv mit Menschen zusammenarbeitet, braucht privat seine Rückzugsorte. Benthe Müller wohnt auf St. Pauli, aber „ich bin gern in der Natur“, sagt sie. In Sülldorf hat sie eine Reitbeteiligung – „ein guter Ausgleich, bei einem Pferd darf man nicht hektisch sein“. Oder sie ist mit ihrem Hund unterwegs, einer 17 (!) Jahre alten spanischen Mischlingsdame namens Maya. Oder sie schaltet in ihrem Kleingarten ab, „ein eher wilder Garten, er wächst uns ein wenig über den Kopf“.

Auf ihrem Bein hat sie noch ein Tattoo: „Das Leben ist ein Wimpernschlag“. Sie trägt die Botschaft an ihre Klienten buchstäblich auf der Haut: „Man muss auf sich aufpassen und sich schützen. Das Leben ist so kurz, und wir haben nur eins.“