Islamwissenschaftlerin Irmgard Schrand ergründet für das Landeskriminalamt Hamburg die Propaganda islamistischer Netzwerke.

Was bringt Männer zu Pegida? Um dieser Frage praktisch nachzugehen, ist Irmgard Schrand kürzlich mit ihren beiden Söhnen, 20 und zehn Jahre alt, montags nach Dresden gefahren. „Ich wollte einen Eindruck davon bekommen, wie die Stimmung wirklich ist. Und herausfinden: Was machen diese Kundgebungen mit den Leuten?“

Gleich nach ihrer Ankunft kam sie mit einem Mann mittleren Alters ins Gespräch, grauer Zopf, gepflegte Kleidung. „Vielleicht selbstständiger Handwerker“, dachte sie. Also genau die Art Mensch, die Untersuchungen als typischen Pegida-Teilnehmer identifiziert haben. Er schwenkte eine Fahne. „Was ist das für eine Fahne?“, fragte Irmgard Schrand. „Das ist die Fahne des antifaschistischen Widerstandes“, lautete die Antwort. Und: „Wissen Sie denn überhaupt, wer Stauffenberg ist?“

Darauf muss man erst einmal kommen – die getöteten Widerständler gegen Hitler und die Nazis sowie deren Fahne für die eigene fremden- und demokratiefeindliche Propaganda zu missbrauchen. Schrand lächelt fast ein bisschen zynisch. „Wir brauchen wohl eine klare Definition für antifaschistischen Widerstand“, sagt sie dann. „Ich plädiere sowieso für ein kulturelles Wörterbuch.“

Ihre Theorie dazu: Wenn sich unterschiedliche Kulturen besser kennen und verstehen lernen sollen, und dazu gehören 25 Jahre nach dem Mauerfall offensichtlich auch noch manchmal Ost- und Westdeutschland, dann geht dies nur über Sprache, Sprachverständnis und über ein gemeinsames Verständnis für das kulturelle Fundament einer neuen Gesellschaft. Stichwort: Subtext. „Fragen Sie heute mal einen Jugendlichen nach dem Grenzschützer an der Mauer. Oder woher der Ausspruch kommt: Arbeit macht frei. Vielen ist das kein Begriff mehr. Wie sollen sich erst die vielen Jugendlichen aus den arabischen Ländern bei uns zurechtfinden?“

Kümmere dich um die Schwachen, schütze Minderheiten

Mit dieser ambitioniert diskutierenden Frau nur ein lockeres Gespräch zu führen ist schwierig. Das wird gleich beim ersten Zusammentreffen im Restaurant in der BallinStadt deutlich, das sie sich als Treffpunkt gewünscht hat. Zu banal erscheint das Anliegen im Angesicht ihrer inneren Mission. Irmgard Schrand, 55, Doktorin der Islamwissenschaften, Oberregierungsrätin und Beraterin des Landeskriminalamtes mit Schwerpunkt Staatsschutz und Extremismus, ist ein politischer Mensch. Als solcher hat sie den Auftrag ihres Vaters von einst nicht nur verinnerlicht, sondern immer auch beruflich mit Inhalt gefüllt: Kümmere dich um die Schwachen, schütze Minderheiten. Verteidige die Demokratie. „Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem viel über den Nationalsozialismus und seine Ursachen gesprochen wurde, darüber, wie Menschen zu Ungeheuern wurden“, erzählt sie. „Besonders meinen Vater, der in den letzten Kriegstagen als Jugendlicher verschüttet wurde und ein Kriegstrauma hatte, hat dieses Thema lebenslang umgetrieben.“

Mit Folgen besonders für die jüngere der beiden Töchter. Sie war erst fünf, als er sie zu einem Besuch im nahe gelegenen Konzentrationslager Esterwegen im Emsland mitnahm, einem der ersten Gefangenenlager im Zweiten Weltkrieg. 1965 war das Moorgebiet noch nicht zur Gedenkstätte hergerichtet. Stattdessen suchten Vater und Tochter auf dem mit Unkraut und Hölzern überwachsenen Gelände nach dem sogenannten Hungerturm. „Mein Vater war überzeugt davon, dass alle über die Verbrechen des NS-Regimes Bescheid wussten“, sagt Schrand. „In unserem Dorf Sögel, dort, wo ich geboren bin, gab es wie überall in Deutschland erkennbar Täter und Opfer.“

Ihr Kriminalroman war „politisch zu korrekt“

Dass die Einser-Abiturientin, Vielleserin und durch die Auseinandersetzungen mit dem Vater im gesellschaftskritischen Diskurs geschulte Analytikerin mal Islamwissenschaften studieren würde, war eigentlich nicht geplant. Medizin hätten die Eltern gern gesehen, Psychologie und Romanistik wählte die Tochter, als sie der dörflichen Enge mitsamt den römisch-katholischen Moralvorstellungen nach Hamburg entflohen war. Dort holte sich die 17-Jährige ihre erste Portion Großstadterfahrung in einem Wohnprojekt mit Prostituierten, die aussteigen wollten, einem Sozialpädagogen und einem angehenden Pastor. „Eine schräge Zeit.“ Das Psychologiestudium mit den so nicht erwarteten Schwerpunkten Statistik und Naturwissenschaften vernachlässigte sie zugunsten praktischer Arbeit im Frauenhaus.

Danach ging sie für ein Jahr zum Studium nach Granada, erlebte das Nachklingen der spanischen Franco-Diktatur und kam über die Beschäftigung mit der Geschichte der Alhambra in Kontakt mit arabischer Lebensart und Kultur. Zurück in Hamburg schrieb sie sich für Islamwissenschaften ein. 1983, da war sie 23 Jahre alt, ging sie mit einem Touristen-Visum nach Kairo, wo sie erst für den ägyptischen Rundfunk arbeitete und sich später, als sie perfekt Arabisch sprach, als Dolmetscherin selbstständig machte und für viele Institutionen wie beispielsweise die Friedrich-Ebert-Stiftung, arbeitete. Ihre Magisterarbeit, da war sie wieder zurück in der Hansestadt, verfasste sie über die verfolgte Minderheit der koptischen Intellektuellen in Ägypten.

1999 reiste sie mit ihrem damals vierjährigen Sohn noch einmal für einen zweijährigen Aufenthalt nach Kairo. Im Rahmen eines Forschungsauftrages beschäftigte sie sich mit dem Judentum in Ägypten. Nebenbei schrieb sie unter Pseudonym einen Kriminalroman mit dem Titel „Lichter von Kairo“. Reich geworden ist sie damit nicht. Im Gegenteil. „Das Buch war kein großer Erfolg“, sagt sie spöttisch: „Politisch zu korrekt.“ Damals fühlte sie sich gut aufgehoben in der ägyptischen Gesellschaft, die sie als warm und großherzig wahrnahm. „Es war leicht, dazuzugehören.“ Gutes Benehmen hieß für Frauen seinerzeit nicht, Kopftuch und langärmlig zu tragen.

„Wir haben keine Flüchtlingswelle, sondern eine Einwanderungswelle“

Zurück in Deutschland, war die Wissenschaftlerin mit ihren sprachlichen und kulturellen Kenntnissen nach den Terroranschlägen von 2001 eine gesuchte Beraterin für die Hamburger Polizei. Die Sonderkommission Rasterfahndung, der sie zugeteilt war, sollte herausfinden, ob es außer der sogenannten Hamburger Zelle noch mehr Leute gab, die an den Anschlagsszenarien beteiligt und weiterhin radikalisierend tätig waren. „Wir wollten ­verstehen, wie es sein kann, dass ein Mohammed Atta, der aus einer mittelständischen, nicht streng religiösen Familie stammte und dessen beide Schwestern wie er studierten, diesen Weg in den Terrorismus ging. Warum er keine Zugehörigkeit zur westlichen Gesellschaft entwickelte.“

Bei vielen Menschen lösen die aktuellen Integrationsprobleme von Flüchtlingen Ängste aus, weil sie solche Geschichten im Kopf haben. „Stopp!“, sagt Irmgard Schrand. „Wir haben keine Flüchtlingswelle, sondern eine Einwanderungswelle. Deshalb wollte ich mich mit Ihnen in der BallinStadt treffen. Diese Menschen, die damals gingen, hatten ähnliche Ängste und Pro­bleme wie die Menschen, die heute zu uns kommen und bleiben.“

Die Welt retten, zumindest im Gespräch, macht durstig. Eine zweite Runde Kaffee muss her. „Ich rede viel, ich weiß“, sagt Schrand und lächelt fast vergnügt. Vielleicht ein bisschen Privatleben zur Entspannung? Falsches Thema. Sie sei alleinerziehend, und ihre Söhne hätten ein gutes Verhältnis zu ihren Vätern, sagt sie spröde. Mit denen sie nicht zusammenleben konnte oder wollte? „So habe ich das nie gesehen. Ich liebe meine Kinder. Und ich verbringe viel Zeit mit ihnen. Sie sind mir wichtig.“ Eine Nachbarin habe zu ihr gesagt, als sie das zweite Mal schwanger war: „Sie haben aber Lebensmut, Frau Schrand.“ Direkter Blick in die Augen. „Ich bin nicht nur mutig, sondern auch optimistisch. Ich liebe das Leben.“ Kürzlich hat sie Darjusch, ihren Ältesten, gefragt, ob er eine Führungsfigur, ein männliches Vorbild, vermisse. „Nein“, war die Antwort. „Ich glaube, viele wären gern wie du.“

„Verstehen, verbünden, vorbeugen“

Gespräche mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen über die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Miteinander sind auch ihr Thema beim LKA. 2008 wurde unter ihrer Leitung ein Team zusammengestellt, das Strategien gegen islamischen Extremismus entwickeln sollte. Unter dem Motto „Verstehen, verbünden, vorbeugen“ bildete sich ein Netzwerk aus Lehrern, Imamen und Sozialpädagogen, das eine Gegenstrategie zur Propaganda der Anwerber entwickeln sollte. Im Fokus standen junge Menschen, die dafür anfällig schienen. Mit ihrem Präventionsteam besuchte sie jahrelang Schulen, Jugendzentren, Moscheen, Sportvereine. „Wir wollten zeigen, wir interessieren uns für euch. Es lohnt sich, in unserer Gemeinschaft zu leben“

Privat ist es ihr ein Anliegen, ihren Söhnen Werte wie Verantwortung für die Gemeinschaft zu vermitteln. „Ich sage aber auch, dass sie Frauen nicht nur respektieren, sondern sich ritterlich verhalten sollen – ohne zu denken, dass die Frau deshalb schwächer sein muss als sie selbst.“ So sollte es sein.