Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort räumt auf mit dem Glauben an eine unbeschwerte Kindheit. Wo er selbst neue Kraft tankt.
Hör mir auf mit Bullerbü. Das schwedische Dorf, bekannt geworden durch die Geschichten von Astrid Lindgren, stellt für Michael Schulte-Markwort kein Idealbild einer Kindheit dar, im Gegenteil: „Das wird vielleicht ein paar Leser verschrecken, aber die romantisierte, rückwärtsgewandte Idee von einer unbeschwerten Kindheit, die in Bullerbü angeblich gelebt wurde, die gibt es nicht. Bullerbü war eine Form der Verwahrlosung, eine Kindheit ohne Erwachsene. Die Kinder aus Bullerbü würden in unserer heutigen Welt nicht überleben können.“ Denn das Leben ist kein Ponyhof, auch nicht für die Kleinsten, nein, gerade für die nicht.
Michael Schulte-Markwort kennt die Realität. Als ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und des Altonaer Kinderkrankenhauses schaut er tief hinein in die Seelen der Schüler, der Jugendliche; ja, sogar Kindergartenkinder und Säuglinge trifft er in seinen Sprechstunden. Der Spruch „Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen“ scheint nicht mehr zu gelten.
Heute steht die maximale Sorge den Eltern schon pränatal ins Gesicht geschrieben. Wie kann ich mein Kind optimal fördern? Schon Vierjährige werden zu ihm gebracht mit der Bitte, bei ihnen einen IQ-Test durchzuführen. Könnte ja sein, dass man eine Hochbegabung nicht rechtzeitig erkennt. Das klingt jetzt nach Luxusproblemen, nach Helikopter-Eltern, aber in diese Kerbe will Schulte-Markwort überhaupt nicht schlagen. Ihm geht es um etwas anderes. Der 59-Jährige ist besorgt, alarmiert geradezu.
Wenngleich er nicht so wirkt. Was er sagt und wie er auftritt, das steht in einem Gegensatz. Der Arzt sitzt in seinem Büro im UKE auf einem gemütlichen Sessel, er trägt eine Fliege („neuerdings ganz gerne“), hinter ihm hängt ein Bild mit Regenbogenfisch, gemalt von den Mitschülern seines inzwischen erwachsenen Sohnes. Fische strahlen Ruhe aus. Das Puppenhaus in der Ecke vermittelt Wärme, die Schleich-Tiere auf dem Konferenztisch verbreiten Harmonie. Eine Affenmama trägt ihr Baby, ein Pinguin blickt seinem Nachwuchs tief in die Augen. Auf dem Bücherregal ein 50 Jahre alter Steiff-Trecker, geschenkt vom Vater des Kinder-Experten. Irgendwie sieht es hier doch nach Ponyhof aus, oder? Der Professor lächelt. Seine Hände fast unbeweglich, seine Stimme wie ein Samtkleid von Marc Jacobs. Möchte man sich reinkuscheln und nie wieder ausziehen.
Doch seine Worte: „Wir sitzen alle in der Falle. Die Eltern von heute leiden unter einem Zwang zur Optimierung, einer Spirale der Maximierung von Leistung und Entwicklung, der sich kaum jemand entziehen kann.“ Das Bild, das sich vor dem Professor durch seine täglichen Erfahrungen aufbaut, sieht düster aus. Alles andere als Regenbogenfisch. „Hinter der glücklichen Fassade sind wir so müde“, hat eine Mutter letztens zu ihm in der Sprechstunde gesagt, und dieser Satz drückt die Stimmung einer ganzen Elterngeneration aus.
Getrieben von dem Gedanken, alles richtig machen zu wollen, verlässt sich fast niemand mehr auf seine Intuition bei der Erziehung. „Ich beobachte, dass Eltern heute zu Trainern ihrer Kinder geworden sind, die die Performance ihrer Zöglinge protokollieren und total unter Stress stehen, weil die anderen Trainer-Eltern ihnen suggerieren, dass ihr Kind schon viel weiter sei“, sagt Schulte-Markwort.
Ganze Familien litten unter diesem Erziehungsehrgeiz, und die Folge davon seien nicht nur erschöpfte Eltern, sondern auch Kinder, die sich oftmals „wie Marshmallows“ eindellen und verbiegen lassen, nur um ihren Eltern zu gefallen. Viele können die hohen Erwartungen erfüllen. Doch wem ist damit gedient, wenn Kinder überformt werden zu hyperangepassten Leistungsträgern, die in der Tiefe ihres Herzens unglücklich sind? Eine rhetorische Frage, Michael Schulte-Markwort muss das „Niemand“ nicht mehr aussprechen, man versteht ihn auch so.
Ja, die Stimme stelle sein wichtigstes Arbeitsinstrument dar, gibt er zu. Wie er die Kinder anspricht, mit welcher Tonlage, mit welchen Worten – das entscheidet darüber, ob sich ein Patient ihm öffnet, ihm sein Seelenleben offenbart, ihm erlaubt zu helfen. In den inzwischen 28 Jahren seiner beruflichen Tätigkeit hat der Arzt eines gelernt: immer auf Augenhöhe bleiben. Früher, da dachte er noch hierarchisch: dass er als Experte dem Kind etwas beibringen müsse. Heute hört er erst einmal ganz lange zu. Seine Arztbriefe schreibt er direkt an die Kinder statt an die Eltern, und er kommuniziert mit seinen Patienten per WhatsApp.
Schulte-Markwort hat festgestellt, dass selbst sehr junge Menschen sich schon ihre eigenen Diagnosen stellen können: „Die Kinder von heute sind extrem reflektiert. Sie sind es gewohnt, einbezogen zu werden, mitbestimmen zu dürfen. Die Gespräche, die ich heute führe, wären vor 20 Jahren noch nicht möglich gewesen.“ Der Professor hat einen Namen für dieses Phänomen entwickelt: Superkids. So lautet auch der Titel seines neuen Buches. Den Begriff „Superkids“ will er in mehrfacher Hinsicht gedeutet wissen. Zum einen seien die Kinder von heute tatsächlich super. „Keine Generation vorher war so umsorgt, so selbstbewusst, doch andererseits müssen sie auch die beständig optimierten Superkids sein. Egal was sie tun, sie sind immer noch nicht super genug, noch nicht optimal!“
Eine Kindheit als Arbeitsprozess. Insgesamt seien die jungen Menschen heute ernsthafter, aber das liegt nicht nur am Perfektionszwang, sondern an der allgemeinen politischen Lage. „Wir präsentieren unseren Nachkommen eine Welt, die uns Erwachsene ja auch ängstigt“, sagt Schulte-Markwort. Er selbst hat eine Tochter und einen Sohn, beide studieren schon und wohnen nicht mehr im Haus der Familie in Othmarschen, aber wichtig für eine gute Beziehung findet der Experte nach wie vor, Kraftquellen zu definieren. Dinge, die eine Familie gemeinsam unternimmt und die verbinden. Bei ihnen habe es je nach Alter der Kinder eine Schwimmbad-, eine Film- und eine Kochphase gegeben: „Gemeinsames Essen wird leider total unterschätzt.“
Schulte-Markworts persönliche Kraftquellen sind Sport (dreimal die Woche geht er ins Fitnessstudio) und Theaterbesuche. Das Ehepaar hat Abonnements sowohl vom Thalia Theater als auch vom Schauspielhaus. „Es ist wohltuend, Aspekte des eigenen Lebens so unmittelbar vorgespielt zu bekommen. Theater hält die Seele gesund“, findet der Arzt.
Anders als im Kino oder beim Fernsehen gehe es im Theater um den Moment, um das Authentische. Gegen die neuen Medien an sich hat Michael Schulte-Markwort allerdings nichts: „Diese Verdammung der Technik ist meiner Ansicht nach unbegründet. Unsere Kinder kommunizieren nun mal anders als unsere Generation, es handelt sich lediglich um leise Abgrenzungsversuche.“ Früher hätten die Eltern auch die Musik der Beatles verteufelt. Demnach sind die Smartphones die Beatles von heute. „Die Vermutung, die nachfolgende Generation wird immer schlimmer, ist übrigens so alt wie die Menschheit“, sagt der Psychiater und schaut auf die Uhr.
Bei Schulte-Markwort einen Termin zu bekommen ist fast schwerer, als Olaf Scholz zu einer Sauftour über den Kiez zu überreden. Patienten warten bis zu sechs Monate, ein Zustand, den der Professor selbst als „unethisch“ empfindet. Es müssten viel mehr Ärzte zu Kinder- und Jugendpsychiatern ausgebildet werden, sagt der Professor, dessen Zwölf-Stunden-Tag exakt getaktet ist. Permanent pendelt er zwischen seinen beiden Einsatzorten, dem UKE und dem Altonaer Kinderkrankenhaus. Immer unterwegs im Smart, damit er schneller einen Parkplatz findet. Die zehn Minuten, die er vom Parkhaus bis zu seinem Büro bräuchte, die wären für ihn schon zu viel, so viel Zeit hat der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie einfach nicht.
Nach dem Interview wird er zum nächsten Termin sogar rennen, immer und überall warten Leute auf ihn. Der Arzt, der vor einer Erschöpfung der Superkinder und Supereltern warnt, versucht selbst, allen jeden Tag gerecht zu werden und Perfektion abzuliefern. „Hmm“, antwortet er, als man ihn nach diesem Widerspruch fragt. Ein Superarzt.
Am 1. März um 20.30 Uhr liest Michael Schulte-Markwort in der Buchhandlung Heymann in der Osterstraße 134 aus seinem neuen Buch „Superkids“ und berichtet von Beispielen aus seiner Praxis. Eintritt 12 Euro.