Die 39-Jährige hat in Indien eine Sportschule eröffnet und fünf Schülern einen Aufenthalt in Hamburg arrangiert. Ihr Ziel: Kindern zu ermöglichen, Bildung und Sport vereinen zu können.

Hamburg. Bei dem Gedanken, warum sie sich das alles antut, hat sich Andrea Thumshirn schon oft ertappt. Wenn die Zweifel kommen, denkt sie gern an den Spruch zurück, den ihr Vater machte, als sie den Eltern ihre Pläne offenbarte, in Indien eine Hockeyschule zu eröffnen. „Du bist nicht Mutter Teresa“, hatte er gesagt, und vielleicht waren es diese Worte, die ihr die trotzige Kraft gaben, an ihr Vorhaben zu glauben. Und wenn sie auf die vergangenen Jahre blickt, dann konstatiert sie zufrieden: „Wir haben es geschafft!“

Es war tatsächlich ein beschwerlicher Weg, der die 39-Jährige mit fünf ihrer Schüler aus dem indischen Bundesstaat Rajasthan nach Hamburg führte, „von der Lehmhütte in die Alstervilla“, wie sie es formuliert. Und wenn Thumshirn davon erzählt, dann brechen Zuhörer schon mal in Tränen der Rührung aus oder in ungläubiges Kopfschütteln, und auch sie selbst kann manchmal nicht fassen, was sie erlebt hat, seit sie sich im Jahr 2009 bei ihrem ersten Besuch in das staubige 5000-Einwohner-Dorf Garh Himmat Singh verliebte.

Damals war sie Reiseunternehmerin und suchte einen Ort, um Touristen auf deren Weg von Agra nach Jaipur einen interessanten Zwischenstopp anbieten zu können. Was sie vorfand, war ein Ort, an dem jeglicher Fortschritt vorüberzugehen scheint, an dem es maximal sechs Stunden täglich Strom und auch nicht regelmäßig Wasser aus der Leitung gibt. Sie sah Kinder, die in den Dorfschulen auf dem Steinboden saßen, die selten von einem Lehrer betreut, aber dafür umso öfter geschlagen wurden. Diesen Kindern wollte sie helfen.

Andrea Thumshirn, aufgewachsen im fränkischen Schwabach, Mutter Kindergärtnerin, Vater Lehrer, ist eine resolute Frau, die sich als „Einzelgängerin“ und „Alphatier“ beschreibt. Schon in ihrer Jugend hatte die Hockeyspielerin, die während ihrer Studienzeit für den Berliner SC in der Bundesliga auflief, Kinder trainiert, „das Lehrer-Gen haben meine Eltern mir mitgegeben.“ Garh Himmat Singh ermöglichte ihr, ihre Leidenschaften zu kombinieren: Hockey, Lehren und Abenteuerlust.

Im Oktober 2011 brach sie ihre Zelte in Deutschland ab, verkaufte ihre gesamte Habe und steckte ihr Geld in den Aufbau des Hockey Village India. Ihr Ziel: Kindern zu ermöglichen, Bildung und Sport vereinen zu können. „Bislang ist in Indien nur eins davon möglich“, sagt sie. Im Haus von Chandu, einem Cousin ihres indischen Geschäftspartners, der als Übersetzer fungierte, baute sie sich zwei Zimmer zu einer kleinen Wohnung aus. Mit Sponsorengeldern, die sie über die zu dem Zweck gegründete Stiftung einwarb, konnte die Schule im Juli 2013 ihren Betrieb mit 130 Schülern aufnehmen. Kinder, deren Eltern das Schulgeld nicht aufbringen können, haben Schulpaten aus diversen deutschen Hockeyclubs. Volontäre aus Deutschland helfen vor Ort mit. Dennoch ist das Geld immer knapp, Thumshirn lebt von der Hand in den Mund, wenn es ganz arg wird, helfen die Eltern mit Finanzspritzen.

Die Widrigkeiten, die auf sie warteten, umschiffte Thumshirn mit einer Mischung aus Beharrlichkeit und Langmut. Weil sie sich anfangs in der Landessprache Hindi nicht verständigen konnte, brachte sie ihren Schülern eben Englisch bei. Weil Hockey, obwohl Traditionssport in Indien, in Garh Himmat Singh völlig unbekannt war, zeigte sie den Schülern den Bollywood-Film „Chakde India“, in dem Schauspielidol Shahrukh Khan die indische Damenhockeyauswahl zum Weltmeister macht. Thumshirn denkt nicht in Problemen, sie hat Lösungen und erarbeitete sich so den Respekt von Schülern und Eltern.

Dennoch stand sie im Frühjahr vor den Trümmern ihrer Arbeit. Chandu, ihre größte Vertrauensperson, hatte über Monate Spendengelder veruntreut. Als Andrea Thumshirn das herausfand und sich von ihm trennen wollte, hetzte er das Dorf gegen sie auf, ließ die Schule schließen und versuchte, mit den von ihr aufgebauten Strukturen ein eigenes Projekt zu starten. Einen Kunstrasen, den sie aus Bremen organisiert hatte, durfte sie trotz Genehmigung nicht verlegen, weil ein 300-Mann-Mob sie daran hinderte und mit rassistischen Parolen einzuschüchtern versuchte. Die schlimmen Fälle von Massenvergewaltigungen auch ausländischer Frauen haben Indien jüngst in Verruf gebracht, doch Andrea Thumshirn sagt, sie habe nie Angst verspürt. „Ich mache das für die Kinder“, sagt sie, „ich werde auf jeden Fall bleiben!“

Eine befreundete Lehrerin hat sie im Nachbardorf Jatwara in ihr Haus aufgenommen, gemeinsam haben sie dort eine neue Schule eröffnet. Ihre Schüler stehen zu ihr, fünf von ihnen im Alter von 13 bis 16 Jahren durften sie während der laufenden indischen Sommerferien nach Hamburg begleiten, wo sie sieben Wochen lang in Gastfamilien lebten, zur Schule gingen und beim Klipper THC und im Club an der Alster in Jugendteams spielten. „Dass mir Eltern, deren Kinder das Dorf nie verlassen hatten, ihre Jungs anvertraut haben, war ein toller Vertrauensbeweis“, sagt sie. Heute geht es zurück nach Indien, in die Heimat, wie Andrea Thumshirn sagt. Sie wird weiter um Sponsoren und Volontäre werben und für ihre Schüler kämpfen. Sie ist nicht Mutter Teresa – aber helfen, die Welt ein Stück besser zu machen, kann sie trotzdem.