Hamburg. In der Barclays Arena sang Mick Hucknall wie der junge Mann, der er einmal war. 10.000 andere Best Ager feierten ihn dafür.
Kennen Sie das Gefühl, nicht mehr taufrisch zu sein? Vielleicht haben Sie das ja jeden Morgen, wenn Sie Erwachsenenradio hören und dabei all die Klassiker, die vor 35 Jahren der Sound der Gegenwart waren und jetzt eine nur selten beunruhigende altmodische Angelegenheit sind. Oder Sie haben dieses Gefühl der, ja, nennen wir es doch mal so: biografischen Reife!, wenn Sie mit 10.000 anderen in einer Mehrzweckhalle stehen und die Straße der Erinnerungen abfahren.
Am besten, dem Alter gemäß, sanft wiegend, das Sweetheart im Arm, bloß kein jauchzender Überschwang, eher kontrollierte Ekstase, man ist ja mittlerweile selber ein Klassiker, kein Stürmer und Dränger mehr. Das Konzert von Simply Red, jener vor mehr als 30 Jahren gigantischen englischen Popsoul-Unternehmung, in der Barclays Arena war demgemäß ein fröhliches Klassentreffen von Best Agern, die niemals behaupten würden, das Beste läge bereits hinter ihnen.
Simply-Red-Frontmann Mick Hucknall zeigt sich in Hamburg in Form
Praktischerweise war der wichtigste Mann am Montagabend noch so gut, als wäre er immer noch Mitte 20 und nicht Anfang 60. Mick Hucknalls Stimme (laut eigenem Bekunden trank er nie harten Alkohol, das schont die Stimmbänder) trägt die romantischen Songs immer noch, und auch wenn man dem immer noch rotgelocktesten Mann der Popbranche sein Alter ansehen mag, ist er in Form. Zum Beispiel, um drahtig im dunkelroten Sakko den Signature-Song seiner Band und auch den dieses Abends zu performen.
Auf der „Blue Eyed Soul“-Tour, die derzeit nachgeholt wird und auf der Hamburg als erste von zehn deutschen Städten angesteuert wurde, wird „Holding Back the Years“ schon relativ früh gespielt. Was wäre naheliegender, als dann doch mal all die Jahre auszublenden, die zwischen jetzt und den 80ern liegen? Was wäre vernünftiger, als sich der eigenen würdevollen Ergrauung hemmunglos zu ergeben, ohne über die Vergänglichkeit zu jammern? „I keep holding on“, sangen alle im Chor, mit dezent melancholisch getunter Emphase.
Mit Songs wie dem immer noch famosen „Money’s Too Tight (To Mention)“, „It‘s Only Love“ und „Something Got Me Started” definierten Hucknall und Simply Red nicht unbedingt den Radiopopzeitgeist von Mitte der 80er- bis Anfang der 90er-Jahre. Aber sie spiegelten ihn ziemlich ungebrochen wider. „Fairground“ war 1995 der letzte ganz große Hit der Band; womit sie also ein respektables Jahrzehnt lang an Hitparadenspitzen thronte.
Simply Red wird vor allem vom weiblichen Teil des Hamburger Publikums bejubelt
Simply-Red-Songs waren immer ein wenig zu glatt, um nicht auch als bloße Hintergrundmusik zu taugen, aber eben auch zu catchy, um je übersehen zu werden. Hucknalls Gesang war dabei über alle Zweifel erhaben, seine Fähigkeiten als Womanizer dagegen keineswegs. Für die meisten sicher überraschend offenbarte der bei einem alleinerziehenden Vater aufgewachsene Mann aus Manchester vor etlichen Jahren, nicht stolz auf seinen noch früheren Frauenverbrauch gewesen zu sein. Von drei Sexpartnerinnen am Tag war die Rede. Für seine wilden Jahre entschuldigte Hucknall sich wortreich im „Guardian“. Reife Leistung. Heute mag man sich Groupies an der Hoteltür des glücklichen Familienvaters sowieso nicht mehr vorstellen.
Den Sünden von einst, begegnet man ihnen nicht ab einem bestimmten Alter eh mit Milde? In der Barclays Arena trafen sich jedenfalls Menschen, die längst in der Rotwein-Ära ihrer Biografie angelangt sind. Wobei Bierbecher, es ist halt doch ein Rock-Event, auch bei Simply Red im Zweifel am besten zur Hand waren. Es war, glaubt man, vor allem der weibliche Teil des Publikums, der Hucknalls unverändert vokale Wucht („You Make Me Feel Brand New“) stürmisch bejubelte. Ab „A New Flame“ zog das Tempo an, die Hucknall-Disco war geöffnet.
In den fast vier Simply-Red-Jahrzehnten sind nicht nur einige Hits zusammengekommen, sondern auch jede Menge Bühnenerfahrung. Auch wenn die letzte Tournee schon sechs Jahre her ist. Was das Programm angeht, macht Hucknall auf der aktuellen Tournee alles richtig und ignoriert die jüngeren Platten seiner Band, die praktisch immer wieder neu geboren wurde: Fast 30 Jahre Musikerinnen und Musiker gehörten zum Line Up über all die Jahre, nur der Meister selbst war immer am Start. Hucknall gerierte sich in der Barclays Arena als Elder Statesmen des Pop, mit dem man jederzeit im Pub ein Fußballspiel schauen würde, vielleicht sogar eines von Manchester United, wenn Hucknall einem dafür einen ausgibt.
Als Begleitmusiker hat er übrigens wieder eine gut eingespielte sechsköpfige Truppe (Saxofon! Trompete!) zusammengestellt, und so schnurrte die fast 20 Lieder umfassende Setlist herunter vor meist unaufdringlichen Bildern auf der Bühnenleinwand – manchmal zeigte sie die Musiker in schwarz-weißer Großaufnahme. Geschmackvoll gemacht.
Mit Simply Red ist noch immer zu rechnen
Irritationen gab es jedenfalls keine, auch, weil Hucknall Stücke wie „So Not Over You“ als supersamtene Loungemusik darbot (der Innenraum war bestuhlt, guter After-Work-Komfort also) und den Soul-Evergreen „If You Don’t Know Me By Now“ nicht vergaß. Genau der Song ist übrigens allerbestes „Kuschelrock“-Material (wer in den 90ern groß wurde, kennt bedauerlicherweise die allergrässlichste Ausgeburt aus der Zeit, in der es noch CD-Sampler gab) und deshalb auch immer eine Pein gewesen. Simply Red war halt nie auch nur ansatzweise cool. Aber jede Wette, dass die Bescheidwisser, die damals lieber die Stone Roses, die Smiths oder Oasis hörten, zumindest heimlich immer bei „Holding Back the Years“ mitsummten.
Dass mit Simply Red auch in der Spätphase von Hucknalls Karriere noch zu rechnen ist, lässt sich allein daran ablesen, dass die Barclays Arena so voll war. Mit nicht mehr ganz jungen Leuten, die den smoothen Radiopop einer Zeit, die nie ganz vergehen wird, immer noch goutieren. Und, wer weiß, nach dem Konzert im Keller in der Kiste mit den CDs nach den Romantikboostern von früher kramt und sie danach sogar auflegt. Einen Lektüretipp gibt es von uns frei Haus. Greifen Sie, natürlich, ins Fach der Franzosen, zu „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.