Aumühle. Vor 70 Jahren attackierten die Briten Schloss Friedrichsruh. Sie hatten dort irrtümlich führende SS-Leute vermutet.
Am 27. April hatten die Bomben das Schloss noch verfehlt. Zwei Tage später, am 29. April vor 70 Jahren, griffen die britischen Tiefflieger erneut an. An jenem Sonntag zwischen 17 und 18 Uhr attackierten sieben bis acht schnelle Kampfflugzeuge das historische Gebäude „mit Splitterbomben und Jagdwaffen“, wie die Presse schrieb. Schloss Friedrichsruh, das Anwesen, auf dem Otto von Bismarck seine letzten Lebensjahre verbracht hatte und wo er am 30. Juli 1898 gestorben war, geriet in Brand und wurde fast völlig zerstört.
Tragisch: Der Schweizer Generalkonsul Adolf Ludwig Zehnder und seine Frau Else kamen bei dem Angriff ums Leben, wenige Tage vor Kriegsende. Ihnen zu Ehren gibt es eine Gedenkplakette am Rathausmarkt. Fast nichts mehr erinnert dagegen an das alte Gemäuer, das einst einer der bekanntesten und meistbesuchten Wohnsitze Deutschlands war. Ein Ort, an dem Politik gemacht und Geschichte geschrieben wurde.
Kaiser Wilhelm I. hatte Bismarck für seine Verdienste nach der Reichsgründung (1871) den Sachsenwald samt Schloss geschenkt. Das weitläufige Gebäude war damals allerdings ein eher schlichtes Ausflugshotel namens „Frascati“, das nach dem langjährigen Pächter in der Gegend auch „Spechts Hotel“ genannt wurde.
In den frühen 1880er-Jahren ließ Bismarck aufwendige Um- und Anbauten vornehmen,
wodurch das alte Anwesen immer kolossaler wurde und schließlich wirklich wie ein Schloss aussah. Die Bismarck-Vertraute Hildegard von Spitzemberg besichtigte 1883 die Räume kurz nach der Fertigstellung und notierte in ihr Tagebuch: „Durch den Neubau ist eine Unmenge Raum gewonnen und lauter große Zimmer und breite helle Gänge. Ein großer Speisesaal ist gegen den Stall zu angebaut, darunter die Küche. Ferner ist im rechten Winkel dazu ein neuer Flügel entstanden, in dessen unteren Räumen der Fürst haust, überm Gang drüben seine Frau (...).“
Das Haus wirkte von außen erschreckend unproportioniert, und der Betrieb konnte nur mithilfe vieler Dienstboten aufrecht erhalten werden. Als Hildegard von Spitzemberg im Dezember 1889 einige Tage in Friedrichsruh weilte, schrieb sie entnervt: „(...) im Zimmer hat es keine 12 Grad, obwohl der Ofen und Kaminfeuer nicht ausgeht. Das Haus ist eben eine Baracke, mit dünnen Wänden und Riesenscheiben ohne Vorfenster.“
Nicht selten leerte der Fürst schon zum Frühstück eine Flasche Portwein
Besucher registrierten irritiert die bunt zusammengewürfelte Einrichtung; Bilder und Teppiche wirkten auf viele Gäste geschmacklos, wie zahlreiche Zeitzeugenberichte belegen. Die Bismarcks ließen die aus der Hotelzeit stammenden Zahlen über den Zimmertüren jahrelang dort hängen – laissez faire pur. Otto von Bismarck gefiel es so. Alles war auf die Bequemlichkeit des Hausherrn ausgerichtet, und was andere über ihn dachten, war ihm schon immer egal gewesen.
Nach seiner Entlassung durch Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1890 hatte er sich grollend nach Friedrichsruh zurückgezogen, seinen letzten Hauptwohnsitz. Fast täglich empfing „der Alte vom Sachsenwald“ Besucher, die meistens mit einem rustikalen Essen bedacht wurden. Zu den unzähligen Zeitungsvertretern, die aus der ganzen Welt zu dem immer noch angesehenen Polit-Pensionär reisten, gehörten auch Redakteure der „Hamburger Nachrichten“, die bis zu seinem Tod Bismarcks journalistisches Sprachrohr waren.
Hier im alten Schloss gab er Interviews, hielt mit bemerkenswerter geistiger Frische politische Vorträge und verstand es, seine Zuhörer zu fesseln und nicht selten zu bezaubern. Und hier diktierte er auch seine Memoiren, die erfolgreichen, dickleibigen „Gedanken und Erinnerungen“.
Bismarck liebte es, sich wie ein pommerscher Landjunker zu geben – und seine grobschlächtigen Söhne taten es ihm gleich. An der schon morgens überreichlich gedeckten Tafel im Speisesaal wurde rund um die Uhr gegessen und getrunken. Nicht selten leerte der Fürst schon zum Frühstück eine Flasche Portwein oder Champagner, vertilgte Braten und Austern. Zeitzeugen erinnerten sich, dass er als 80-Jähriger gelegentlich abgeschlafft wirkte, dann „durch einige Gläser Moselwein“ wieder in Fahrt kam.
Auch wer nicht ins Schloss vorgelassen wurde, kam auf seine Kosten. Die Kette der Liedertafeln, Heimatvereine, Studentengruppen und sonstiger Abordnungen, die dem Altkanzler huldigten, riss nicht ab. Im Gegenteil: Je mehr die deutsche Außenpolitik der Nach-Bismarck-Ära in die Kritik geriet, desto höher stieg sein Ansehen. Bismarck zeigte sich oft auf der Terrasse oder vor dem Tor – und gerne richtete er kurze Ansprachen an seine Fans.
Wie Ulrich Lappenküper, Leiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh bestätigt, war der mit allen Wassern gewaschene Altkanzler im Umgang mit Besuchern „aus dem Volke“ so freundlich-professionell, dass sich niemand zu kurz gekommen fühlte. Bismarck, ein Meister der Selbstinszenierung, wusste, was seine Anhänger von ihm erwarteten. Nicht wenige Besucher fielen fast in Ohnmacht, wenn der weißhaarige Hüne, flankiert von mindestens einer Dogge, mit Schlapphut und Wanderstock unvermittelt aus dem Wald trat und ein paar Worte mit ihnen wechselte.
Die Stimmung dieser Zeit lässt sich am heutigen Schloss in Friedrichsruh nur noch schwer wiederbeleben – zu verändert ist die Atmosphäre, auch weil das heutige Schloss keine äußere Ähnlichkeit mit dem zerstörten und dann abgerissenen Vorgänger hat.
Der Luftangriff von 1945 geht übrigens auf ein Missverständnis zurück: Die Engländer glaubten, dass sich Heinrich Himmler und andere SS-„Größen“ im Schloss aufhielten. Später entschuldigten sich die Verantwortlichen galant bei der Bismarck-Familie.