Der Segler Boris Herrmann hält es nie lange ohne große Fahrt aus. Aber wehe, wenn er dann Monate später wieder nach Hause kommt... Ein Porträt von Abendblatt-Redakteur Henrik Jacobs.
Windstille auf dem Atlantik, tropische Zone, kurz vor Südamerika. Boris Herrmann treibt allein mit seiner Segeljolle über den Ozean. Vorwärts kommt er nicht. Meteorologen und Segler nennen das Flaute. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein Blauwal auf. Den Riesen und das Boot trennen nur wenige Meter. Herrmann kann nichts tun, weder ausweichen noch wegfahren. Aber er hat Glück: Der Wal interessiert sich nicht für ihn und dreht ab.
„Das war einer der eindrucksvollsten Momente meines Lebens“, sagt Boris Herrmann. 15 Jahre sind seitdem vergangen. Der Hamburger Hochseesegler war damals erst 18 Jahre alt. „Im Prinzip noch ein Kind“, sagt er. Es war seine erste große Tour. 10.000 Kilometer von Frankreich nach Brasilien. 36 Tage. Auf einem Segelboot. Allein.
Heute ist Boris Herrmann 33. Er sitzt wie so häufig im Café des Feuerschiffs im Hamburger City Sporthafen. Selbst in der Mittagspause zieht es ihn zum Wasser. Die Geschichte mit dem Wal erzählt er mit einer bemerkenswerten Ruhe. Es ist die Ruhe eines Mannes, der früh gelernt hat, mit den Gefahren auf hoher See umzugehen. „Wenn man schon mal um sein Leben fürchten musste, bringt einen nichts mehr so schnell aus der Fassung“, sagt er routiniert.
Herrmann ist einer von drei professionellen Hochseeseglern in Deutschland. Er hat mehrfach die Welt umsegelt, hält den Weltrekord auf der Regatta rund um Amerika – und hat von seinem Sport noch lange nicht genug. Herrmann lebt seinen Traum von der hohen See.
Angefangen hat die Segelgeschichte des Boris Herrmann, als er sechs Wochen alt war. Da nahmen ihn seine Eltern das erste Mal mit auf ein Segelschiff. Mit sechs Jahren saß Herrmann dann in seiner Heimatstadt Oldenburg in einem eigenen Optimisten, dem Segelboot für Anfänger. Seitdem spielt der Sport auf dem Wasser die zentrale Rolle in seinem Leben.
Nach dem Abitur in Oldenburg leistete Herrmann seinen Zivildienst in einer Wohnstätte für psychisch behinderte Menschen in Kiel, dem Segelmekka, wie es Herrmann nennt. Später lebte er in der Bretagne und in Barcelona. Seine Wohnorte müssen immer nah am Wasser liegen, auf dem man segeln kann. Mit seinem Dreitagebart und der Hochseebräune wirkt er wie ein junger Seemann aus einem Kinderbuch.
Aber das Drehkreuz auf dem Weg zu den Meeren war für ihn Hamburg. Heute wohnt er wieder hier, in einer Wohnung auf St. Pauli. „Ich musste mich entscheiden, in welchem Land ich dauerhaft leben will“, sagt Herrmann. „Da ich mich für Deutschland entschieden habe, kam für mich nur Hamburg infrage.“
Schon einmal war die Hansestadt seine Wahlheimat gewesen: Nach seiner großen Brasilientour begann er an der Elbe ein Physikstudium, das er aber bald schon wieder abbrach. „Physik war mir zu modelltheoretisch. Gesellschaftliche Zusammenhänge haben mich mehr interessiert“, erzählt Herrmann. Also wechselte er in die Wirtschaftswissenschaften an die Universität Bremen. Das Fach ermöglichte es ihm, in den Semesterferien ausgiebig zu segeln – was sonst. „In Physik hätte ich die Ferien mit Lernen verbringen müssen“, sagt Herrmann. Sechs Jahre später war er Diplom-Ökonom.
Das Studium hat Herrmann geholfen, nicht nur seinen Traum zu leben, sondern auch bezahlen zu können. Mit den Preisgeldern allein käme der Segelprofi nämlich nicht über die Runden; er braucht Sponsoren. Und die muss er sich selbst suchen. Wann immer Herrmann an einer wochenlangen Regatta teilnehmen will, braucht er spendable Partner. Und das ist nicht immer einfach. Insbesondere für die großen Regatten mit einem bis zu 22 Mann starkem Team muss ein Sponsor mitunter eine Summe im siebenstelligen Bereich investieren.
Derzeit genießt Herrmann das Glück, für Deutschlands berühmtesten Segler zu arbeiten: Jochen Schümann. Der dreimalige Olympiasieger, 60 Jahre alt, ist noch immer als Skipper eines Segelteams auf den Weltmeeren unterwegs. Und Boris Herrmann ist sein Navigator. Das bedeutet: Er kümmert sich auf dem Schiff um den Kurs, die Elektronik und das Wetter, das er immer unter Beobachtung hat. „Irgendwann bekommt man einen steifen Arm, weil man ständig einen Laptop in der Hand hält“, sagt Herrmann. Hochseesegeln sei zwar ein Extremsport, „ansonsten ist die athletische Komponente als Navigator aber eher gering“.
Die großen Herausforderungen auf dem Meer seien andere Dinge, sagt Herrmann. Zum Beispiel die spartanische Lebensweise unter Deck mit Schlafsäcken, die man sich teilen muss, und dehydriertem Essen. Oder auch die vielen, langen Stunden, in denen auf dem Meer nichts passiert. Herrmann versucht dann, in kurzen Phasen zu schlafen. 20 Minuten Tiefschlaf – das hat er geübt, bis es klappte.
Trotzdem vergeht auch viel Zeit, in denen die Gedanken kreisen, an die eigene Zukunft zum Beispiel. Boris Herrmann ist ein reflektierter Mensch, der die Freiheit liebt, aber auch seine Heimat braucht. Die häufige lange Abwesenheit von zu Hause sei eben auch eine besondere Herausforderung. Bis zu drei Monate ist er unterwegs, wenn er um die Welt segelt. „Als Hochseesegler ist man in der Regel sechs Monate im Jahr auf dem Meer“, sagt Herrmann. „Trotzdem lässt sich das mit dem Privatleben vereinbaren. Viele Segler haben eine Familie mit Kindern.“
Mit seiner neuen Freundin Birte zusammen auf Segelweltreise zu gehen kann sich Herrmann vorstellen. Oder auch mit seinem Vater, der gerade – im Alter von 70 Jahren – zum ersten Mal die Welt umsegelt. Auf jeden Fall will er irgendwann das Vendée Globe Rennen fahren, die ruhmreichste Round-the-world-Regatta für Einhandsegler. Herrmann liebt es, auf dem Meer auf sich allein gestellt zu sein, aber genauso die Arbeit mit einer Mannschaft. „Es ist der Gegensatz, der mich reizt“, sagt Herrmann. „Der Gegensatz zwischen der Freiheit und der Einsamkeit als Solosegler sowie dem großartigen Gefühl, mit einer Mannschaft etwas geschafft zu haben.“
Die vielleicht größte Herausforderung im Leben eines Hochseeseglers sei allerdings die erste Zeit nach der Rückkehr von einer langen Regatta. Nicht wenige fallen dann in eine depressive Phase. Ein Zustand, den Boris Herrmann gut kennt. „Man hat jahrelang auf ein Ziel hingearbeitet, und dann ist es vorbei. Ich fühlte mich antriebslos.“
Früher war Herrmann schnell ungeduldig, brauchte stets das neue Ziel. Heute ist er ruhiger geworden. Immer wieder tauchen auch leise Zweifel auf. Dann fragt er sich, ob es wirklich Sinn macht, sich immer nur mit diesem Sport zu beschäftigen, und was er Nützliches zu dieser Gesellschaft beitrage. Doch dann denkt er wieder an die Momente, in denen er auf dem Ozean mit dem Segelboot eine Welle entlangsurft. „Das ist einmalig und kommt nur selten vor. Aber für diese Momente lohnen sich die viele Arbeit und die langen Tage, an denen es grau und nass ist und an denen nichts passiert“, sagt er.
Trotzdem will er nicht immer nur der Extremsportler sein. Auch deswegen hat er mit der Boris Herrmann Racing GmbH eine eigene Firma gegründet. Er hält Vorträge bei Firmen über Themen wie Motivation und Herausforderungen. Er referiert über seine Erfahrungen mit dem Wetter. Und er engagiert sich für den Segelnachwuchs. Als Vorstandsmitglied im Hamburgischen Verein Seefahrt bereitet er Jugendliche auf das Hochseesegeln vor.
Am liebsten würde Herrmann aber seine Segelerfahrungen nutzen, um anderen Menschen den Klimawandel zu erklären. Ein Thema, das ihm am Herzen liegt. Wenn er über die Meere segelt, sehe er die Folgen der Klimaerwärmung mit eigenen Augen. „Wir haben für eine Nonstop-Weltregatta schon mal zehn Tage länger gebraucht, weil wegen des Klimawandels mehr Eis nach Norden getrieben ist“, berichtet Herrmann. „Über dieses Thema würde ich gerne mehr kommunizieren.“
Er steht jetzt im Keller seines Büros am Venusberg. Neben seinem Schlagzeug liegen in einem Regal Bücher über das Segeln. „Gnadenlose See“ von Derek Lundy zum Beispiel. Das Buch habe ihn früh inspiriert. Oder das „Sulla Rotta dell’Oro“ von Giovanni Soldini. Ein Held aus Herrmanns Jugendliteratur. Heute arbeitet er selbst mit dem Italiener zusammen. Ein Segler und Schriftsteller, der Boris Herrmann einst von einem Leben auf hoher See träumen ließ. Heute lebt er diesen Traum.
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Boris Herrmann bekam den Faden von Klaus Neumann und gibt ihn an Kirsten Lehm weiter.