Hamburg registrierte vor 50 Jahren 1,859 Millionen Einwohner – so viele wie nie zuvor und bisher auch nie wieder. Axel Tiedemann erklärt die Zahlen.
Die monatlichen Statistischen Berichte zur Bevölkerungszahl der Stadt ließen vor 50 Jahren kaum jemanden aufschrecken. 1964 kletterten die Werte wie seit Jahren schon Monat für Monat stetig an, wenn auch etwas langsamer als vielleicht früher. Mehr Aufregung gab es da schon über die Bundespost, die ihre Gebühreneinheit drastisch von 16 auf 20 Pfennige erhöht hatte. Wie vielerorts in der Republik kündigten erzürnte Telefonnutzer ihren Anschluss. Die Einwohnerzahlen – das war hingegen überhaupt kein Thema. Zum beginnenden Herbst registrierte das damalige Landesamt für Statistik dann rund 1,859 Millionen Einwohner. Was damals keiner ahnen konnte: Es sollte ein Rekordwert werden, der bisher nie wieder erreicht wurde.
Schon Ende 1964 kündigten niedrigere Zahlen einen Schwund an, der sich bis in die 1980er-Jahre gefährlich fortsetzen sollte. Schleichend zunächst, dann aber gravierender. 1985 lag der bisherige Tiefpunkt bei 1,57 Millionen. Heute zählt Hamburg nach der offiziellen Fortschreibung einer Stichproben-Zählung von 2011 wieder etwa 1,72 Millionen Menschen, die in der Hansestadt gemeldet sind.
Hamburg war schon vor 50 Jahren eine der reichsten Städte Europas
Doch was war anders 1964 als in den Folgejahren, was führte zum dem Rückgang der Zahlen, was zu einem Wiederanstieg? Bevölkerungsforscher wie der Hamburger Geograf Thomas Pohl führen die Entwicklung auf die allgemeine demografische Situation, aber auch auf ein besonderes Umzugsverhalten zwischen Großstadt und Umland zurück. 1964 markierte zunächst auch bundesweit einen weiteren Rekord. Gut 1,4 Millionen Kinder wurden in diesem Jahr geboren, in Hamburg rund 28.000. Wer 2014 seinen 50.Geburtstag feiert, darf für sich behaupten, zum geburtenstärksten Jahrgang der Republik zu gehören.
Die Augsburger Puppenkiste, Time-Tunnel oder später der WDR-Rockpalast – solche TV-Ereignisse verbinden mehr Menschen als die Youtube-Helden heutiger Generationen. Derzeit werden in Deutschland nur rund 670.000 Geburten im Jahr registriert. Und Hamburg galt Anfang der 1960er-Jahre bereits wieder als eine der reichsten Städte Europas, wirtschaftlich ging es immer nur voran, man war technikfreudig und optimistisch, die Pille noch nicht auf dem Markt. All das führte zu dem starken Geburtenanstieg. „Familien mit Kindern wohnten da noch vielfach in der Stadt“, sagt Pohl.
Erst später, Ende der 60er-Jahre, in den 1970er- und 1980er-Jahren setzte die große Abwanderung ins Umland ein. Immer mehr Menschen konnten sich in den Dörfern und kleinen Städten ein Reihenhaus leisten, das Auto wurde zum beliebten Verkehrsmittel, das jetzt ebenfalls für breite Mittelschichtkreise, wie Pohl sagt, erschwinglich wurde. Das aber setzte einen weiteren Schub der Abwanderung in Bewegung. „Lärm und Abgase – das waren damals noch ganz andere Werte“, sagt Pohl.
Der zunehmende Autoverkehr, breite Straßenschneisen – das führte dazu, dass es für Familien auch immer unattraktiver wurde, mitten in der Stadt zu wohnen. Ein sich selbst verstärkender Effekt, der von der munteren Baulandausweisung im Umland noch beflügelt wurde. Allerdings verlor Hamburg als Wirtschaftsmetropole an Anziehungskraft, die Werften gerieten in schwieriges Fahrwasser. Für die Stadt wurde ihre Lage am Rande der Republik immer mehr zum Hemmschuh, die Entwicklungsmöglichkeiten waren rar.
Doch dann kam mit dem Fall der Mauer etwas, mit dem wohl wieder kaum jemand gerechnet hatte. Die Stadt gewann ihr Hinterland zurück, und junge Menschen aus Ostdeutschland sahen in Hamburg eine Perspektive. Das wieder beginnende Bevölkerungswachstum wurde daher zunächst vor allem von jungen Ostdeutschen getragen.
Inzwischen ziehen Hamburger Familien mit Kindern immer noch ins Umland, aber nicht mehr in so viele. Auch das ist ein Effekt der Demografie: Es gibt schlicht weniger Menschen zwischen 30 und 45 Jahren, die sich in der Familiengründungsphase befinden, sagt Pohl. Zudem gibt es auch einen gewissen Trend zur „Reurbanisierung“, die Stadt wird als Wohnort wieder attraktiv. Familien wollen innerhalb Hamburgs bleiben, die sanierten Altbauquartiere sind mittlerweile beliebte Wohnviertel – jene Gegenden, die in den 60ern noch eng, dunkel, verfallen und heruntergekommen erschienen.
Gerade in den Bezirken Nord und Mitte hat Bevölkerungsforscher Pohl wieder mehr Haushalte mit kleinen Kindern registriert als in früheren Jahren. Und Hamburg hat sein Bevölkerungswachstum immer noch vor allem einer Zuwanderung jüngerer Leute zu verdanken, die hier studieren oder eine Ausbildung beginnen. Nur sind das nicht mehr überwiegend Ostdeutsche, sondern vor allem Jungerwachsene aus den Umlandkreisen. Die Kinder und Enkel der früher abgewanderten Familien kehren also zurück.
Die Hälfte der Hamburger lebt heute allein in einer Wohnung
Aber sie kehren in ein Hamburg zurück, das sich im Vergleich zu den 1960er-Jahren, als Paul Nevermann Bürgermeister war, drastisch verändert hat, wie Pohl sagt. Die Stadt hat beispielsweise mit etwa 900.000 Wohnungen rund 200.000 mehr als vor 50 Jahren, obwohl damals mehr Menschen in der Stadt lebten. Da mögen die heutigen Sorgen über fehlenden Wohnraum merkwürdig erscheinen.
Doch tatsächlich hat sich die Art der Haushalte völlig verändert. Heute wohnt mehr als die Hälfte der Hamburger alleine in einer Wohnung. Etwa 796.000 Single-Haushalte gibt es, 200.000 mehr als vor 50 Jahren. Und in der Single-Stadt Hamburg beanspruchen die Menschen eben weit mehr Wohnraum pro Person als noch 1964, als viele Hamburger als Folge des Krieges noch immer in Behelfsheimen wohnen mussten.
Gut verdoppelt hat sich seitdem die Fläche, die jeder Hamburger für sich beanspruchen kann. Nicht mehr die fünfköpfige Familie wohnt in einem Altbau in Eimsbüttel, sondern der hippe Doppelverdiener-Haushalt ohne Kinder.
Die durchschnittliche Quadratmeterzahl pro Kopf liegt in Hamburg derzeit bei knapp 40 Quadratmetern. Allerdings höchst unterschiedlich verteilt: Auf der Veddel beträgt die Zahl 25 Quadratmeter, in der HafenCity 80,9.