Da braut sich was zusammen: Ausgerechnet mit Ideen aus Amerika versuchen kleine Brauer in Hamburg neue Biertrinker zu gewinnen. Matthias Iken über jahrhundertealte Traditionen und was die jungen Revolutionäre damit vorhaben.
Bierbauch, Bierdunst, bierernst, Bierleiche – man könnte mit diesem Text schnell fertig sein. Denn der Deutschen liebstes Getränk war zuletzt nicht unbedingt gut beleumdet. Doch etwas ist in Bewegung geraten, alles ist im Fluss. In der Hansestadt, die als „Brauhaus der Hanse“ jahrzehntelang gerühmt wie berühmt wurde, hat eine leise Revolution eingesetzt, die nicht weniger als die Neuerfindung des Biers verspricht.
Einer dieser Revolutionäre ist Axel Ohm. Der ehemalige Deutsche Meister im Surfen hat als Wassersportler seine Liebe zum Bier entdeckt („Surfer trinken Unmengen“) und im vergangenen Jahr seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Gemeinsam mit Patrick Rüther betreibt er das Alte Mädchen in den Schanzenhöfen, das sich als Kraftzentrum der neuen Bierbegeisterung versteht. Gleich nebenan in den Alten Viehhallen wird Ratsherrn gebraut, in Wurfweite liegt ein eigenes Spezialitätengeschäft, das 320 verschiedene Biere feilbietet. Und im Braugasthaus zelebrieren die Macher eine Mischung aus deutscher Tradition und weltläufiger Offenheit, zur Hackepeter-Stulle gibt es ein englisches Pale Ale, zum Sonnenuntergang auf der Schanze wird ein Sorachi Ace der Brooklyn Brewery aus New York serviert. Ohm hat die Welt bereist, zunächst als Surfer, dann hat er Jahre mit seiner Familie in Südafrika gelebt und ist dort auf Craft Beer gestoßen. So beschreibt der amerikanische Berufsverband „kleine, unabhängige, traditionelle“ Brauereien. Und so wollen auch Hamburgs neue Brauer sein.
Die Hamburger Jungs Fiete und Olli stehen für diese Bewegung. Mit bürgerlichem Namen heißen sie Friedrich Matthies und Oliver Wesseloh. Beide haben nach einer Weltreise in Sachen Bier die vielleicht spektakulärste Mission angetreten: Hamburg mit Biersorten zu versorgen, die es bislang hier nicht gab oder die in Vergessenheit geraten sind. Passenderweise haben sie ihre Brauerei Kehrwieder getauft und das gleich aus mehreren Gründen. „Die Vielfalt soll zurückkehren“, sagt Wesseloh, „weltweit gibt es 140 verschiedene Bierstile. Nur ein Bruchteil wird in Deutschland gebraut.“ Kehrwieder, so hieß auch der Gruß in Hamburg, mit dem zur See fahrende Männer von ihren Familien verabschiedet wurden. Die Brauer Fiete und Olli haben sich in die Welt gewagt und sind in der Heimat angekommen. „Wir sind Hamburger“, lautet die knappe Antwort auf die Frage, warum es sie dann doch zurück an die Elbe gedrängt hat. „Am Ende landen sie alle hier“, sagt Matthies.
Für Brauer ist die Stadt an der Elbe traditionsreicher Grund. Die ersten Biere – gekeimtes Getreide wird in Wasser gekocht und mit Hopfen versetzt – sollen hier vor über 1000 Jahren im Schatten der Hammaburg gebraut worden sein. Auch der grandios gefälschte Freibrief des Kaisers Barbarossa, der den Aufstieg der Stadt zur Metropole ermöglichte, erwähnt bereits Strafen für falsche Biermaße. Schon 1270 wurde nachweislich Bier aus Hamburg nach Norwegen und Gotland exportiert. In der Blütezeit der Branche, der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, waren unter 8000 Einwohnern 457 Brauer oder Bierexporteure. War am Ende der ehrbare Kaufmann ein ehrbarer Brauer?
Störtebeker soll vier Liter ohne Absetzen getrunken haben
Der Freibeuter Klaus Störtebeker, dessen Trinkfestigkeit legendär war, soll vier Liter ohne Absetzen getrunken haben. Auch durch seine Kehle dürfte Hamburger Bier gerauscht sein – immerhin war die Stadt das Brauhaus der Hanse. Noch heute kündet der Stadtplan von alten Geschäften: Am Hopfenmarkt wurde selbiger seit 1353 gehandelt, es gibt den Brauerknechtgraben, den Brauhausstieg, die Brauhausstraße. An Alster und Fleeten waren die Brauer zu Hause, sie konzentrierten sich auf dem Cremon und der Grimminsel. Auch der Hafen wäre ohne den Gerstensaft kaum denkbar – das wichtigste Exportprodukt war lange Zeit Bier. Im 14. Jahrhundert dürften pro Jahr mehr als 100.000 Hektoliter Bier die Stadt auf großen „Koggen“ gen Flandern, Holland, Skandinavien oder ins Baltikum verschifft worden sein.
Auch für die Hanseaten war das aus verdrecktem Fleetwasser gebraute Gesöff Grundnahrungsmittel. Provisionsabrechnungen setzten etwa für Klosterfrauen oder Ritterordensbrüder zehn Liter täglich an. Bier, genannt das flüssige Brot, kam in verschiedenen Formen auf den Tisch, als Brei, Suppe oder Sauce. Entsprechend streng war das Braurecht. Allein von 1410 bis 1697 wurden mehr als 240 Brauordnungen erlassen. Der Niedergang der Hanse ab dem 15. Jahrhundert, der Dreißigjährige Krieg und die Überregulierung drehten der Branche den Gerstensaft ab – so setzte sich das Reihebrauen durch, wonach jeder erst sein Kontingent produzieren durfte, wenn der Vorgänger seines abgesetzt hatte. Der Strukturwandel schluckte am Ende eine Hamburger Tradition; Kaffee und Tee, aber auch Wein und Branntwein wurden immer wichtiger. Damit wurde auch der Handel mit diesen Waren lukrativer, die Kaufleute machten aus Brau- Lagerhäuser. Die Bier- wandelte sich zur Handelsmetropole.
Da verwundert es wenig, dass die größten Missionare der Bierbewegung fern der Heimat bekehrt wurden. Auch Wesseloh fand in der Fremde die Liebe zum Bier, beim Schüleraustausch in Kanada. „Wann immer das Gespräch auf Deutschland kam, war vom Bier die Rede“, erinnert er sich. „Als die Kanadier bei uns in Hamburg waren, wollten sie zwei Dinge – die Reeperbahn sehen und deutsches Bier trinken.“ Er entschied sich, Brauer in Kanada zu werden. 1993 ging er zum Studium an die Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin, die er mit dem Diplom-Ingenieur für Brauereiwesen abschloss. Deutsche Brauer sind weltweit gesucht, Wesseloh ging in die Karibik, zog durch Süd- und Nordamerika. 2012 kehrte er nach Hamburg zurück, um eine eigene Brauerei aufzubauen. Wesseloh suchte einen Mitstreiter, traf auf Diplombraumeister Fiete und holte ihn mit an Bord.
Fehlt in Deutschland die Vielfalt?
Eher kritisch sehen die beiden Brauer die „Reinheitsgebots-Apostel“ und die Verengung hierzulande auf extrem wenige Biersorten. Natürlich sei die Qualität des Pilseners unbestritten – „dann ist auch ein Oettinger gut“. Aber die Vielfalt des Bieres sei in Deutschland verloren gegangen. „Beim diesjährigen World-Beer-Cup in Denver haben wir 95 Bierstile bewertet“, erzählt Jurymitglied Wesseloh. Hierzulande finde man nur noch einen Bruchteil – die bekanntesten: Schwarzbier, Kölsch, Weizen, Maibock, Altbier und Pils.
„Alles, was natürlich und ein Genussmittel ist, kann ins Bier passen“, sagt Wesseloh – weltweit wird vieles ausprobiert, es gibt Kreationen mit Austern oder Kaffee, mit Hummern oder Schokolade, mit Gewürzen oder Früchten; nur Fette und Öle scheiden aus. „Einige Mikrobrauer versuchen, das Abgefahrenste zu machen“, sagt Matthies. „Wir wollen ein Genussmittel herstellen, das uns Spaß macht.“ In Deutschland ist das nicht ganz einfach. „Uns steht die Tradition im Weg“, sagen die beiden, „Hier galt lange Zeit ja schon das Weizenbier als große Innovation. Wir müssen uns neu erschließen, was Bier alles bieten kann.“ Ihnen schwebt ein kultureller Re-Import vor – über die Vereinigten Staaten sollen alte deutsche Schätze gehoben werden. Die „Craft-Beer-Bewegung“ hatte ihren Ursprung in den USA. Vor 35 Jahren lag dort die Bierkultur am Boden, nur noch 80 Brauereien waren übrig geblieben. In der großen Krise reisten findige Gründer nach Europa, suchten sich alte Bierstile und belebten sie neu. Inzwischen sind in den USA 2500 Brauereien am Markt, weitere 1700 in Planung: „Der Markanteil der Kreativbiere ist noch nicht einmal bei zehn Prozent, aber er wächst“, sagt Wesseloh. „Wenn wir hierzulande mittelfristig auf fünf Prozent kommen, wäre das grandios.“ Noch liegt man im Promillebereich.
Auf Ideen-Importe ging auch die zweite Hamburger Bierseligkeit zurück: 1835 kam zum ersten Mal untergärig gebrautes helles Lagerbier aus Bayern in die Stadt. Die Brautechnologie machte damals entscheidende Fortschritte – Dampf- und Kältemaschinen erleichterten die Herstellung, neue Messmethoden sorgten für die Genauigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse wie die eines Louis Pasteurs erweiterten die Produktpalette. Plötzlich war Bier wieder en vogue – nicht nur das weit verbreitete obergärige Braunbier. Doch kleine Hausbrauereien kamen in der schönen neuen Bierwelt nicht mit, kapitalkräftige Industriebetriebe erschlossen das Geschäft. Die Einführung der Gewerbefreiheit 1865 brachte einen Schub, viele Aktienbrauereien schossen aus dem Boden. Es war Gründerzeit in Deutschland. Am 24. Mai 1879 konstituierte sich eine Gründungsversammlung für eine besondere AG, nicht einmal vier Monate später wurde der Grundstein für die Holsten-Brauerei in Altona gelegt. Ihr Warenzeichen: ein Ritter auf schwarzem Ross.
Um 1900 wurde in 15 Aktienbrauereien und einigen kleineren Privatbetrieben Bier gebraut. 1906 wurde das Reinheitsgebot an der Elbe verbindlich eingeführt. Die Vielfalt schwand, der Ausstoß stieg. Die Hansestadt hatte für die Brauer einige entscheidende Standortvorteile: Hamburg und Altona wuchsen stürmisch, immer neue Arbeiter drängten an die Elbe, die Zielgruppe vervielfachte sich. Zugleich profitierte Hamburg vom Hafen und begann früh, Bier für den Export nach Amerika und England herzustellen. Noch in Südamerika und Afrika kündeten die Botschafter in Flaschen von norddeutscher Braukunst und entwickelten später mitunter ein bizarres Eigenleben. St. Pauli Girl, ein Pils aus St. Lewis, etwa wirbt bis heute mit einer drallen Deern im Dirndl. In Nigeria trinkt man weiterhin Bergedorf Beer.
Mit dem Ersten Weltkrieg endete der Boom schlagartig – Exportmärkte brachen weg, Rohstoffe fehlten, die Belegschaften mussten an die Front, die meisten Braustätten wurden stillgelegt. Viele wie Hansa, Hammonia oder Teutonia kamen nie wieder. In den 1920er-Jahren blieben in Hamburg neben Holsten, Bavaria und St. Pauli sowie der Elbschloss-Brauerei nur noch die kleinen Brauhäuser Bill und Winterhuder Brauerei sowie Deetjen und Schröder auf der Veddel. Mit dem Zweiten Weltkrieg fiel alles in Trümmer.
„Bier ist Teil der DNA dieser Stadt“, sagt Ohm. „Ausgerechnet in einer so traditionsreichen Stadt wie Hamburg haben das nur alle komplett vergessen.“ Zum Alten Mädchen kam Ohm nicht, weil er Bier brauen wollte, sondern wegen des Landwerthofs, eines Ökoprojekts am Greifswalder Bodden. „Ich habe in Südafrika die Entscheidung getroffen, mit meinem Ernährungsverhalten die Welt etwas besser zu machen.“ Ihm ging es um einen ganzheitlichen Ansatz, gute Rohstoffe, ehrliche Qualität. Dann hörte er von den Herausforderungen bei Ratsherrn und traf auf Brauer, die „wieder Handwerker sein wollten, nicht nur ein Bier brauen“. Ohm spürt, dass in Zeiten der Globalisierung zugleich das Bedürfnis nach Regionalität zunimmt. „Vertrauen in die Produkte und Hersteller wird wichtiger. Die Menschen stellen Fragen nach Herkunft und Heimat.“ Diese Rückbesinnung mache das Produkt Bier lauter, junger, frischer. Denn zugleich wächst das Angebot, weil sich Idealisten in kleinen Betrieben ihren Traum verwirklichen.
Reinheitsgebot eher ein „poetischer Marketingbegriff“
So wie Wesseloh und Matthies. Ihr Meisterstück ist das „Prototyp“ – ein in Handarbeit gebrautes schmackhaftes Werk. Das starke, kalt gehopfte Lager-Bier erinnert im Geschmack an Mango und bringt einen Alkoholgehalt von 5,8 Prozent mit. „Das ist unsere Einstiegsdroge“, lacht Wesseloh. Für die SHIPA-Serie (Single Hop India Pale Ale), angelehnt an alte Biere für Indien, experimentieren sie mit unterschiedlichen Sorten und versuchen, alles aus dem Hopfen herauszuholen. Dabei wird immer nur eine Sorte verwendet. So ändert sich der Geschmack des SHIPA jedes Mal radikal: Mal erinnert es an Erdbeere, dann schmeckt es nach Litschi oder bekommt eine Zitrusnote. Im vergangenen Jahr haben sie frisch geernteten Hopfen direkt vom Feld zu einem Pale Ale gebraut, es „feuchter Traum“ genannt und gleich den Silver Award beim Dublin Craft Beer gewonnen.
Für Pilstrinker mag es wie ein Albtraum klingen, aber das Reinheitsgebot ist für die beiden Brauer eher ein „poetischer Marketingbegriff“ denn ein Ziel. „Das Reinheitsgebot erlaubt Dinge, die wir dem Bier niemals antun würden, etwa Hopfenextrakte hinzuzugeben oder das Bier zu filtrieren. Die Filtration ist eine Vergewaltigung des Bieres“, sagt Wesseloh. Ihnen geht es eher um ein „Natürlichkeitsgebot“. Die Berliner Weiße, mit Waldmeister- oder Himbeersirup versetzt, gilt heute als Gruselbier, ist aber gut gebraut und ohne Sirup eine wirkliche Spezialität. „Wir haben gerade unsere Weltmeisterweiße im Stil der traditionellen Berliner Weiße gebraut und das Bier anschließend in Spätburgunderfässern auf Himbeeren gelagert. So bekommt man auf natürlichem Weg einen wunderbaren Geschmack.“
Ein gutes Bier ist wie eine gute Schokolade oder ein guter Wein – man sollte bereit sein, mehr auszugeben. Drei Euro für eine 0,3-Liter-Flasche sind im Fachhandel ein normaler Preis. Dafür wird Bier vom Durstlöscher zum Genuss. Wenn man mit Wesseloh und Matthies über Bier spricht, spürt man die Leidenschaft für das Produkt. „Entsprechend sollte der Umgang mit dem Bier sein. „Das beginnt bei der Lagerung. „Ein Pils sollte man schnell nach der Abfüllung trinken“, sagt Matthies. „Dunkelbiere hingegen kann man mehrere Jahre liegen lassen. Bier reift wie ein Wein.“
Wesseloh ist sogar Weltmeister der Sommeliers für Bier. Die Feinschmecker schwenken ihr Bier wie Wein, betrachten Farbe und Schaum, riechen am Aroma, aber spucken das Getränk nicht aus. „Alkoholgehalt und Aromen spüre ich erst im Hals.“ Auch das richtige Glas ist wichtig. Julia Wesseloh, als Gattin längst ins Bierbusiness eingestiegen, beschreibt es so: „Ihr habt mich versaut – ich kann kein Kistenpils mehr trinken.“ Industriebier hat in der Branche der Tüftler, Brauer und Macher nicht den allerbesten Ruf.
Großbrauereien prägten die Stadt nach dem Krieg. Die Stunde null war auch ein Neuanfang für die Brauereien. Aller Anfang ist schwer – die Produktionsanlagen waren vielfach zerstört, es fehlte an Rohstoffen, sodass die Brauer in ihrer Not sogar auf Molkebier setzten, mit Rückständen der Milchverarbeitung. Gerade Holsten wurde zu einem Kind des Wirtschaftswunders und lebte den Lehrsatz „Wachsen oder weichen“. Die Aktiengesellschaft schluckte in einem atemberaubenden Tempo Konkurrenzbrauereien und erweiterte ihren Horizont. Die Germania-Brauerei aus Bremen 1954, die Bill-Brauerei 1956, die Moravia braute, Kaiser aus Hannover (1972), Krone aus Lüneburg (1974), Feldschlösschen aus Braunschweig (1989), Lübzer (1990), Licher (1999) und schließlich König (2000). In den 90ern verloren auch die letzten verbliebenen Hamburger Traditionsunternehmen ihre Unabhängigkeit. Elbschloss in Nienstedten mit den Marken Ratsherrn und Dübelsbrücker Dunkel ging 1996 in der Bavaria- und St. Pauli-Brauerei auf. Nur zwei Jahre später wechselte auch die Kiezgröße den Besitzer: Astra & Co. gehörten erst der Stadt Hamburg und alsbald der Konkurrenz in Altona – damit ist Holsten der letzte heimische Großbrauer und bringt es auf mehr als zehn Millionen Hektoliter Ausstoß.
Wo früher Pils gebraut wurde, tummelten sich schnell die Immobilienentwickler: Elbschloss an der Elbchaussee wurde zur Senioren-Residenz, das Bavaria-Quartier auf St. Pauli verwandelte sich in die Hafenkrone. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass 2004 schließlich auch Holsten seine Unabhängigkeit verlor – geschluckt vom dänischen Carlsberg-Konzern. Der Mehrheitsaktionär der Hamburger Brauerei, der New Yorker Christian Eisenbeiss, soll später an einer Bar gesagt haben, der Verkauf der Holsten AG sei sein größter Fehler gewesen.
„Erst waren wir Täter, dann Opfer“, erinnert sich Udo Franke, der von 1988 bis 2007 Sprecher der Holsten AG war. Der Konzentrationsprozess hat einen tieferen Grund: Der Bierkonsum sinkt beständig, Kneipen sterben, der Handel drückt die Margen, das Dosenpfand traf Holsten hart. „Wir waren die größte Brauerei Deutschlands, aber wir sind nicht schnell genug gewachsen, um auf dem Weltmarkt Erfolg zu haben.“ Er erinnert sich an bewegte Zeiten der großen Hamburger Brauerei. „Mit Duckstein haben wir eine Bierneuheit erfolgreich an den Markt gebracht – ein rotblondes Obergäriges auf Buchenholz gereiftes Bier. Das hatte ursprünglich einen Champagnerverschluss und war für Sterne-Restaurants gedacht.“ Werber schwärmen bis heute von der genialen Astra-Kampagne „Was dagegen?“. „Damit haben wir genau den Geschmack der Leute getroffen“, sagt Franke.
In seiner Brust schlagen zwei Herzen. „Ich wünsche mir, dass die Regionalbiere wie Lübzer und Holsten noch lange bleiben“, sagt er. Zugleich freut er sich über eine „fantastische Entwicklung“: „Der Bier-Markt ist in Bewegung geraten. Ich bin froh, dass ich das noch erleben darf.“ Er bezeichnet sich selbst als Bierverrückten, der Freunde zu Bierproben nach Hause einlädt und ihnen besondere Spezialitäten näherbringt. „Ganz wichtig ist das Glas“, sagt auch Franke. „Das beste Glas für ein Holsten-Pilsener ist das Jahrgangs-Champagnerglas von Riedel. Der erste Schwall des Bieres muss auf der richtigen Stelle der Zunge auftreffen.“ Das Problem mit dem Kelch: Er kostet rund 60 Euro, da winken alle Wirte ab. Franke trinkt Bier übrigens nur aus dem Glas und empfiehlt zum Verkosten immer Weinkelche.
In der Hansestadt sind neben Holsten längst neue Brauereien aktiv: Ratsherrn, Gröninger, Joh. Albrecht, Block Bräu, Kuddelbier, Elbpaul, Kehrwieder – und mit Buddelschiff und Engel stehen zwei weitere Mikrobrauer in den Startlöchern. „Der Standort Hamburg muss sich seiner Tradition bewusst werden, zu seiner Historie zurückfinden“, sagt Wesseloh. „Hier ist vieles möglich.“ Die Ratsherrn-Brauerei belebt nicht nur die alte Marke aus Nienstedten neu, sondern will auch mit Geschichte punkten. Ende der 70er war die Marke das erfolgreichste Premium-Pils an der Elbe und knüpft nun an alten Ruhm an. „Wir haben uns mit Historikern die vielschichtige Biergeschichte der Hansestadt angeschaut“, sagt Gründer Oliver Nordmann. Er setzt auf Geschmack, gute Rohstoffe und Vielfalt: Neben dem Pilsener hat Ratsherrn ein Rotbier, ein Pale Ale, ein Lager, Weißbier und Summer Ale aus der Micro Brauerei im Programm. In den Schanzenhöfen wird Bier zum Ereignis – im gläsernen Sudhaus können Neugierige den Ratsherrn-Machern über die Schulter schauen, bei Festivals präsentierten kreative Brauer ihre Spezialitäten. Die Konkurrenz in Altona schläft nicht. Holsten bietet mit seiner Brauwelt an der Holstenstraße ebenfalls Craft-Biere an, schult Neugierige bei Bierseminaren und lädt zum Brauen ein.
Der Markt ist in Bewegung geraten. Mutige, geschmacksstarke Kreationen muss man nicht mehr wie Sauerbier anbieten. Die Umsätze wachsen, Gastronomen nehmen Kreativbiere auf die Karte, Supermärkte erweitern ihr Angebot, sogar spezielle Bier-Geschäfte etablieren sich. BraufactuM, ein Craft-Beer-Händler, stellt in immer mehr Hamburger Geschäften Kühlschränke auf, in denen er Spezialitäten mit umfangreichen Informationen anbietet. „Wir haben gelernt, wie Bier schmeckt“, sagt Franke. „Nun müssen wir noch lernen, dass jeder Schritt weg von den ausgetretenen Pfaden ein Gewinn ist.“ Die Belgier könnten da ein Vorbild sein, die schon jetzt bereit sind, für eine Flasche Bier zwölf Euro zu bezahlen. „Dann wird man das Bier wertschätzen wie den Wein.“
Wesseloh und Matthies wollen expandieren
Wesseloh und Matthies wollen wachsen und suchen nach passenden Räumen, mindestens 200 Quadratmeter groß, hohe Decken, laugefester Boden. „Die Immobiliensuche hier ist schwierig. Wir haben uns im Oberhafen beworben, sich aber leer ausgegangen.“ Am liebsten würden die beiden Brauer nach Wilhelmsburg gehen. Sogar eine Belohnung haben die beiden ausgesetzt – wer Räume vermittelt, bekommt ein eigenes Glas in der Brauerei, das einmal pro Tag gefüllt wird, solange die Kehrwieder Brauerei besteht. Momentan brauen die beiden in fremden Hallen, die ersten Biere haben sie in Dänemark kreiert. Skandinavien liegt beim Craft-Beer-Trend weit vorn, in Belgien sind Spezialbiere traditionell besonders ausgeprägt. Auch in der deutschen Hauptstadt ist die Szene schon weiter – hier tummeln sich etliche Mikrobrauer. „Berlin hat im Vergleich zu Hamburg derzeit die Nase vorn“, sagt Wesseloh.
Das soll sich ändern. Ein konkretes Vorhaben steckt in der Pipeline. Die Brauer von Block Bräu, Joh. Albrecht, Gröninger, Kehrwieder Kreativbrauerei und Ratsherrn arbeiten seit Ende 2013 an der Rezeptur eines neuen Senatsbocks. In der Nachkriegszeit war der Anstich dieses dunklen Doppelbocks zur Faschingszeit eine skurrile Mischung aus Oktoberfest und Matthiae-Mahl, bei der – so formulierte es die Deutsche Wochenschau 1959 – „die steifen Hanseaten einigermaßen aus dem Häuschen gerieten“. Nach einem gemeinschaftlichen „Hummel, Hummel – Mors Mors“ stach der Biermeister das Fass an und reichte dem Bürgermeister den Silberpokal voller Braunbier. Den Schlachtruf „Die Herzen auf, die Kehlen weit zur diesjährigen Senatsbockzeit“ nahmen die Hamburger wörtlich. Es folgte ein „feucht-fröhlicher Herrenabend“, bei dem sich die Honoratioren zu vorgerückter Stunde unterhakten, ihre Zylinder kreisen ließen und Stimmungslieder schmetterten – heute würde jeder Drogenbeauftragte dazwischengehen und jede Opposition auf die Barrikaden.
Das neue Senatsbock-Fest versteht sich so eher als Gegenentwurf zum bajuwarischen Oktoberfest. „Wir kommen über den Genuss, nicht den Alkohol“, sagt Ohm. „Hamburg muss sein großes Potenzial nutzen – wir liegen in Reichweite des Alten Landes mit seiner Obsttradition, der Vier- und Marschlande als Gemüsehochburg und unweit der Nordsee mit ihren Spezialitäten. Wenn es uns dann gelingt, regionale Speisen auf Bier abzustimmen, könnte Hamburg wieder werden, was es war: die Bierstadt.“