Es braucht gar keine Trekkingtour in Alaska. Das kleine Glück des Sichgehenlassens, findet Axel Tiedemann, beginnt nämlich schon auf dem Heidschnuckenweg vor den Toren Hamburgs – einige Stationen mit der S-Bahn entfernt
Eben noch war da Vorstadt: Siedlungshäuser, eine Bushaltestelle, die viel befahrene Bundesstraße 73, die hier aus Hamburg heraus führt. Ganz am Ende der Straße Scharlbarg in Fischbek schließlich ein schmaler Pfad mit unscheinbarem Hinweisschild. Und dann, als ginge man durch eine Art Schleuse, ist man schon mitten drin. In der Heide!
Ein Sandweg schlängelt sich hier durch eine Landschaft, die man eher viel weiter weg in der Lüneburger Heide vermuten würde: Sanfte Hügel, weite Täler, jetzt – im Frühling – noch bräunliche Heideflächen liegen da unvermittelt vor uns. Die norddeutsche Heidelandschaft ist eben sehr viel größer als nur das Vorzeigestück bei Wilsede. Seit 2012 führt ein durchgängiger Wanderweg hier durch. 223 Kilometer lang von Fischbek bis in die Südheide nach Celle ist der Heidschnuckenweg. Er gilt als einer der 15 besten Wanderwege des Landes, weil er fast nur durch die Natur verläuft: In diesem Jahr ist er vom „Wandermagazin“ zur Wahl des schönsten Wanderwegs Deutschlands nominiert worden. Die Entscheidung soll im Juli fallen – wir wollen den ersten Teil direkt vor der Haustür schon jetzt testen.
Wandern in der Heide – das klang für uns vor nicht all zu langer Zeit noch nach Knickerbockerhosen, Hermann-Löns-Kitsch und Freizeitgestaltung, der heftiger 50er-Jahre-Muff anzuhaften schien. Eine Zeit, als unsere Väter noch mit bravem Pfadfinderscheitel ihre Schwarz-Weiß-Fotos schossen. Wir waren eher auf Trekkingtour, auf dem Chilkoot-Trail oben in Alaska, auf dem West-Coast-Trail von Vancouver Island, im Abel Tasman-Park auf Neuseeland. Wandern mit Fluganreise, wenn man ehrlich ist. Zu Fuß gehen, gemächliches Reisen, die Entdeckung der Langsamkeit: All das, was Wandern ausmacht, war dabei – nur eben mit Tausenden Kilometern Anreise. Erst sehr viel später kamen wir darauf, dass diese Faszination auch sehr viel einfacher zu erleben ist. Nicht auf dem Umweg mit Boeing oder Airbus, sondern schlicht mit der S-Bahn zu erreichen.
Von der S3 in Fischbek bis zum Start des Heidschnuckenwegs sind es nur etwa 20 Minuten Fußmarsch. Nach den ersten Heide-Kilometern führt der Weg immer tiefer in den Wald des Forsts Rosengarten im Landkreis Harburg. Hund Calle, der treue Begleiter auf den vielen Wegen bisher, schnüffelt hier und dort. Wir folgen den Hinweiszeichen, einem kleinem „H“, das oft nur auf eine Kiefer gepinselt ist. Nach einer Stunde erreichen wir die Siedlung „Tempelberg“. Mitten im Wald an der Landesgrenze stehen einige Häuser in einer Gegend, wo Menschen schon vor 4000 Jahren ihre Toten begruben.
Hügelgräber säumen den Weg, plötzlich aber nicht mehr die richtigen Zeichen. Statt „H“ ist da plötzlich ein „KA“ am Baum zu sehen. Das müsse wohl „keine Ahnung“ heißen, bemerkt Herrchens Frauchen, während Hund Calle unbeeindruckt ist. Doch wozu die Erfahrung aus Alaska? Wir versuchen es mit der Himmelsrichtung – bis sie in entgegengesetzter Richtung doch wieder ein „H“ entdeckt.
Immer weiter geht es über die Hügel, die die Eiszeit hinterlassen hat, durch den Wald bis zum Karlstein, wo der Legende nach der Frankenkönig Karl mit seinem Pferd einen Hufabdruck hinterlassen haben soll. Weiter würde der Heidschnuckenweg jetzt bis Buchholz und dann bis ins Herz der Lüneburger Heide führen.
Für uns ist heute erst einmal Schluss. Knapp 15 Kilometer sind wir gewandert und lassen uns abholen. Ob das schon Wandern ist – oder noch Spazieren gehen? „Der Weg ist das Ziel“, heißt es oft. Aber es gibt doch einen Unterschied: Ein Spaziergang verläuft meist im Kreis, beim Wandern geht es um die Überwindung von Distanz zwischen zwei Orten. Aber eben nicht nur, denn sonst könnte man die Strecke auch schneller schaffen. Nein, freiwillig und mit Genuss bewegen wir uns langsam fort: ohne aus der Puste zu kommen, aber doch so, dass man hinterher angenehm ermattet ist. Mit viel Zeit, um rechts und links Landschaften und Dörfer wahrnehmen zu können. Die Seele muss mitreisen können, hieß es angeblich bei nordamerikanischen Indianern, denen schon die schnelle Fahrt in den alten Dampfloks suspekt war. Oder war es Ghandi, der es sagte? „Wer nur drauf ausgeht, sein Ziel zu erreichen, mag mit der Post fahren, wer aber reisen will, muss zu Fuß gehen.“, schrieb Rousseau. Treffend formulierte es der 1933 gestorbene Essayist und Kritiker Josef Hofmiller: „Wandern ist eine Tätigkeit der Beine – und ein Zustand der Seele.“
Zwar war das Zu-Fuß-Gehen noch vor 200 Jahren die Fortbewegungsart des kleinen Mannes, nur Fürsten ritten hoch zu Ross, später nahmen Wohlhabende die Kutsche. Überliefert ist dennoch meist Genussvolles zum Reisen per pedes: „Das Wandern ist des Müllers Lust“, heißt ein altes Volkslied. „Hans im Glück“ war – natürlich – zu Fuß unterwegs. Vermutlich ist es einfach die natürlichste Art, um Voranzukommen. Und selbst wenn es völlig ohne eigentlichen Sinn ist, scheint das Wandern derart tief in den Hirnregionen verankert zu sein, dass man es heute als pures Freizeitvergnügen betreibt. Man kann auch vom Sichgehen-lassen im positive Sinne sprechen, das diesen Lustgewinn ermöglicht.
Die Gedanken schweben so sanft dahin, wie sich die Landschaft verändert. Man riecht den Wald, die Wiesen, man spürt den Windhauch im Gesicht. Wandern kann pures Glück sein, ohne dass man viel nachdenken muss, warum. „Wanderlust“ ist ein alter deutscher und sehr schöner Begriff. Und die erlebt man eben auch an einem schönen Frühlingstag. In der Heide, gleich um die Ecke von der S-Bahn-Station.