Christiane Hollander ist Mietrechtsanwältin auf der Schanze und dem Kiez. Aber eine ohne Betroffenheitsdidaktik, die stattdessen helfend zupackt, wie sie es im bürgerlichen Elternhaus auf dem Lande gelernt hat. Von Alexander Schuller

Klischees haben häufig die Eigenschaft zu stimmen. Wer hauptberuflich dafür sorgen, arbeiten und nicht selten auch kämpfen will, dass ein Stadtteil sich möglichst moderat entwickelt, damit die alteingesessenen Bewohner nicht aus ihm vertrieben werden; wer hierfür ein abgeschlossenes juristisches Studium aufweisen kann und außerdem in einem halben Dutzend Stadtteilinitiativen und -beiräten und -gremien mitmischt; wer seit über 25 Jahren am Millerntor in der Gegengerade für den FC St. Pauli bibbert und darüber hinaus die obligatorischen schwarzen Klamotten trägt – den könnte man normalerweise mit Vorurteilen überschütten. Eins davon wird sicherlich zutreffen.

Doch Christiane Hollander, die Mietrechtsspezialistin aus dem Schanzenviertel, wo sie beim Verein Mieter helfen Mietern an der Bartelsstraße als eine von insgesamt neun Juristen fest angestellt ist, lässt es gar nicht erst so weit kommen. Freundlich lächelnd bietet sie Kaffee an, wirkt offen, neugierig und irgendwie unverdächtig. Nichts ist von moralinsaurer Verklemmtheit des überengagierten Gutmenschen zu spüren, der irgendwann einmal in einer sozialpädagogischen Betroffenheitsdidaktik stecken geblieben ist (um ein Klischee zu bedienen). Eigentlich würde sie jetzt auch gerne eine rauchen, erklärt sie, verkneift es sich dann aber doch, denn ein verqualmtes Büro wäre gegenüber ihren Mandanten nicht nett. Nett sei sehr wichtig, sagt sie, und bestimmt meint sie nicht nett wie Nett, den kleinen Cousin von Sch..., sondern eben richtig nett. Um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, was keine unwichtige Sache ist, vor allem wenn es um nicht weniger als Existenzen geht.

Gerade hat sie 40 neue Mandanten bekommen, 40 jener Mietparteien, die in der Nacht zum 15. Dezember 2013 binnen weniger Minuten ihre vom Einsturz gefährdeten Wohnungen in den Esso-Häusern auf dem Kiez verlassen mussten. „Der Schock darüber sitzt bei manchen von ihnen noch immer tief, vor allem bei den Älteren. Einige merkten erst in der Notaufnahme in der Turnhalle Königstraße, dass sie ihre Medikamente in der Wohnung vergessen hatten“, sagt sie.

An jenem Dezemberwochenende, kurz vor Weihnachten, weilte Christiane Hollander in Otterndorf, „im Nordseebad Otterndorf“, sagt sie lachend, wo die bekennende „Altersangabenverweigerin“ vor etwa einem halben Jahrhundert zur Welt kam, als Tochter eines Bauleiters und einer Hausfrau, konfrontiert mit einem älteren Bruder. Hineingeboren in eine klassische, bürgerliche Durchschnittsfamilie auf dem platten Land, wo es zum guten Ton gehört, dass Nachbarn gegenseitig auf sich aufpassen, mit anpacken, mitfühlen, tratschen und mindestens ein Ehrenamt bekleiden. Ihre Mutter wirkte 40 Jahre beim Deutschen Roten Kreuz, ihr Vater engagierte sich im Deichschutz. Christiane Hollander vermutet, dass sie dadurch ebenfalls geprägt wurde, sich fürs Gemeinwohl im Allgemeinen und das Schicksal von Einzelnen im Besonderen zu interessieren. Eine Anfangskonditionierung, gewissermaßen.

Das gute Verhältnis zu ihren Eltern bekam, wenn auch nur vorübergehend, einen Knacks, als sie nach Hamburg zog, um Jura zu studieren, und sich auf St. Pauli in eine Studenten-WG einnistete, „weil es das war, was ich mir leisten konnte“. Für ihren Vater brach damals eine Welt zusammen: Nicht nur, dass seine Tochter jetzt in diesem verruchten, verdreckten Stadtteil lebte: Christiane hatte sich zu allem Überfluss auch noch für einen Beruf entschieden, in dem es darauf ankommt, Menschen beim Streiten zu unterstützen, öfter auch mal zum Streiten anzuhalten. „Mein Vater hätte es dagegen gerne gesehen, wenn ich etwas Schönes studiert hätte, etwas mit Büchern und Sprache, nur halte ich mich handwerklich und künstlerisch für eine Nullbegabte“, sagt Christiane Hollander, „aber denken, ja, das kann ich.“

Im Nebenfach studierte sie zunächst Kriminologie und Jugendstrafrecht. „Doch das habe ich letztlich nicht ausgehalten. Diese Fälle berührten mich häufig zu sehr, ich konnte keinen oder zu wenig Abstand gewinnen. So rutschte ich während der Referendariatszeit ins Mietrecht, das zwar eine Nische ist, aber eine, in der ich mich bis heute sehr wohlfühle.“

Christiane Hollander wurde per SMS über die Zwangsevakuierung der Esso-Häuser informiert. Sie wusste sofort: „Ich muss zu meinen Leuten!“ 28 Jahre Leben auf dem Kiez prägen. Da kann man schon mal „meine Leute“ sagen. So fuhr sie noch in derselben Nacht aus Otterndorf nach Hamburg zurück. Weil hier – so wie in der Schanze, da unterscheiden sich die beiden benachbarten Quartiere nicht sonderlich – die Worte Nachbarschaft, Menschlichkeit und Solidarität gelebt werden. Andernfalls sei man allerhöchstens Gast, manchmal sogar Schmarotzer.

„Die Situation war einfach nur furchtbar, und für viele ist sie das auch jetzt noch“, sagt sie, macht aber sofort deutlich, dass es ihr als juristischem Beistand der 40 ehemaligen Esso-Häuser-Bewohner nicht in erster Linie darum gehe, die Bayerische Hausbau anzuprangern, die gerade verlauten ließ, dass der beabsichtigte soziale Bebauungsplan finanziell so nicht zu stemmen sei. „Meine Aufgabe ist es jedoch, dafür zu sorgen, dass es den Menschen wieder gut geht. Dass sie berechtigte Ansprüche durchsetzen können, dass sie nicht auf Kosten sitzen bleiben, dass sie wieder eine feste Übergangswohnung bekommen – dass sie eben einfach gut versorgt sind.“ Alles andere sei erst einmal nebensächlich. Später könne man sich ja immer noch weitere Schritte überlegen: Die Mieter wollten ja schließlich wieder zurück an ihren angestammten Platz. „Deshalb muss natürlich sozialer Wohnungsbau an den Spielbudenplatz“, sagt Christiane Hollander, „und es braucht eine Rückkehrgarantie.“

Es sind immer die Schicksale der Einzelnen, die zusammengenommen die innere, gewachsene Struktur dieser Quartiere bestimmen, die schon immer etwas unangepasster gewesen sind. Unbequem, aufmüpfig, bunt, schrill, grundverschieden, laut und nicht immer frei von Gewalt. Trotz allem versteht man, wenn sie sagt, dass sie mittlerweile häufig das Gefühl habe, sie selbst (und die Bewohner natürlich auch) seien häufig bloß noch Statisten in einer folkloristischen Kulisse für ein großes Wirtschaftsspiel. Was natürlich dafür sorgen könnte, dass die Schanze und der Kiez schon bald wieder unattraktiv werden, wenn die Karawane der Vergnügungssüchtigen und Spekulanten erst einmal weitergezogen ist. Um dann vielleicht zurückfallen zu können in ihre einstige urbane, fast schon kleinbürgerliche Tradition. „Ach, das haben wir doch schon gedacht, als die HafenCity gebaut worden ist“, sagt Christiane Hollander, „aber mir geht es doch gar nicht darum zu verhindern, dass Stadtteile sich verändern. Stillstand wäre doch langweilig.“ Doch die vielen Gäste, vor allem diejenigen von außerhalb, die an den Wochenenden in Divisionsstärke die Quartiere einnehmen, sollten sich gefälligst benehmen: „Man pinkelt einfach nicht in fremde Hauseingänge“, sagt sie, „und man macht auch keine Leute dumm von der Seite an: Da werde ich dann sauer.“

Aus beinahe all ihren Sätzen lässt sich ein bisher nicht gestillter Wunsch nach Harmonie und gegenseitigem Verständnis heraushören, nach einem Miteinander auf Augenhöhe, zumindest was Stadtentwicklung betrifft. Christiane Hollander selbst will offenbar durch konsequentes, glaubhaftes Vorleben dazu beitragen, dass die beinahe schon inflationär geführte Diskussion über Stadtteilentwicklung ihre verbohrte Kopflastigkeit verliert.

Dazu gehört, dass sie sich seit 14 Jahren sportlich engagiert, auf Funktionärsebene, beim SC Sternschanze, wo ihr Sohn John seit seinem fünften Lebensjahr kickt. „Dies ist kein Quartier, in dem die Kinder auf der Straße spielen können“, sagt sie, „also haben mein Mann und ich nach einem Sportverein gesucht. Damals waren es gerade mal 30 Kinder, die beim SC Fußball spielten, und die Eltern hatten beschlossen: ‚Jedes Kind spielt, die Eltern dürfen nicht reinbrüllen, und Cola macht die Knochen kaputt!‘ Klar, da wollten wir mitmachen!“ So wurde Christiane Hollander die typische Fußballmutti, „Trikots waschen, die Kinder zu Auswärtsspielen karren, Grillfeste und Vereinsleben – das volle Programm eben!“ Dass die Fußball-Jugendabteilung inzwischen gut 600 Mitglieder hat, die auf einem Kunststoffrasen trainieren und spielen können, dürfte sicherlich auch ihrem Engagement zu verdanken sein.

Sie macht jedoch kein großes Gedöns um die Tatsache, dass sie sich, parallel zu ihrem reichen Arbeitsleben, inzwischen viele Stunden in der Woche ehrenamtlich im Vorstand des Vereins um die Jugendabteilung kümmert. Aber sie strahlt, wenn sie auf „ihre Jungs“ zu sprechen kommt, die U-23-Mannschaft, die seit ihren Kindertagen zusammen spielt und geschlossen in den Erwachsenenbereich herüberwechselte. „Das war ein großer Schritt!“, sagt sie stolz und deutet auf das Mannschaftsfoto auf der Wand hinter ihrem Schreibtisch. „Beim Fußball muss man möglichst dicht an seinem Gegenspieler dran sein“, sagt sie.

Und genau das gelte auch für die Leute im Viertel. „Denn diejenigen, die hier wohnen, gehen kaum aus dem Quartier raus, wenn sie was benötigen“, stellt sie nüchtern fest, „aber wie blöd ist das denn, wenn es ihnen dann wie neulich durch ein von der Polizei festgelegtes Gefahrengebiet erschwert wird, eben mal kurz Butter, Milch oder Zigaretten einzukaufen?“ Die Geschichten mit der Petersilie oder den Klobürsten seien ja vielleicht noch komisch gewesen. „Wenn dann aber eine Freundin klingelt und fragt: ‚Ey, Christiane, kommste mal runter auf ’nen Kaffee?‘, wie das eben in unseren Vierteln funktioniert, und man geht dann runter auf die Straße, steht einer Gruppe Polizisten gegenüber, und plötzlich fällt einem ein: ‚Verdammt, du hast einen Zehner eingesteckt, auch deine Zigaretten und die Schlüssel, aber dein Portemonnaie mit dem Personalausweis liegt oben auf dem Schreibtisch. Das macht dann wütend.“ Mehr machen, mehr bewegen, Lösungen erarbeiten und finden: Das treibt sie an. Fast schon begeistert erzählt Christiane Hollander von den verschiedenen Schichten, Typen, Szeneleuten, aus der sich ihre Mandantschaft im Verein zusammensetzt. „Letztlich gibt es aber nichts Besseres als ein gutes Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter: Wenn beide ihre Ruhe haben, wenn die Mieter sorgfältig mit den Wohnungen umgehen, die Vermieter für den vernünftigen Zustand ihrer Wohnungen und Häuser sorgen – und wenn dann auch noch die Miete bezahlbar ist und bleibt, ist es doch prima.“

Doch sie hat festgestellt, dass die Vermieter vom alten Schlag längst ziemlich dünn gesät seien, leider. „Wenn plötzlich Erbengemeinschaften dran sind, wenn Fondsgesellschaften ins Spiel kommen und wenn Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt werden sollen, müssen sich die Mieter häufig wohl oder übel wehren.“ Notfalls vor Gericht, wo man sich, wie auf hoher See, jedoch leider immer bloß in Gottes Hand befinde (um ein weiteres Klischee zu bedienen). Sie selbst darf als angestellte Juristin nicht für ihre Mandanten vor Gericht streiten. Das übernehmen externe Anwälte. „Doch vorher gucke ich mir die Mandanten ganz genau an und frage mich, ob derjenige es auch schafft, ein Gerichtsverfahren bis zum Ende durchzuziehen. Dann entscheiden wir gemeinsam: Denn Mietrechtsprozesse werden häufig erst in der zweiten Instanz endgültig entschieden.“

Vielleicht will sie noch einmal selbst mit eigener Kanzlei tätig werden. „Später, im Alter dann!“, sagt sie und lacht. Die werde sie dann, wenn überhaupt, auf dem Kiez eröffnen. Oder in der Schanze, wo auch sonst.

Denn da kommt man wohl einfach nicht mehr freiwillig raus.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Christiane Hallander bekam den Faden von Michael Joho und gibt ihn an Rolf Weilert weiter