Hannelore Lay, Gründerin der Stiftung Kinderjahre, hat aus Schicksalsschlägen gelernt, wie wichtig es sein kann, an die Hand genommen zu werden.
Erst brauchen die Blumen Wasser. Die Telefonate müssen erledigt sein. Anweisungen gegeben. Ein Transport für den Martin-Luther-Bund nach Rumänien steht an. Der Fahrer wartet bereits. Schnell, ein Taxi rufen. Und vorher die Einladungen zum Charity-Dinner rausschicken. Bloß nicht in Verzug kommen. Die Termine sind eng getaktet, die Verantwortung ist groß. Sie fühlt sich in der Pflicht. Schließlich ist es ihr „Baby“, das versorgt werden muss. Die Stiftung sei wie ein gemeinsames Kind, sagt Hannelore Lay. „Kinderjahre“ heißt sie, wurde vor zehn Jahren geboren und von ihrer Gründerin allein großgezogen. Ihr Mitbegründer Wolfgang Lay starb 2007. Seitdem trägt seine Frau die Verantwortung allein. Es war sein Herzenswunsch, es ist ihre Erfüllung.
Leitgedanke der Stiftung ist es, benachteiligte Kinder zu begleiten, bis sie eigene Entscheidungen treffen können. Es geht um Chancengleichheit im weitesten Sinne, um individuelle Unterstützung, Identitätsfiguren, Schulzeit und Berufsleben und um die Erfahrung von Glück. Schüler besuchen Unternehmen, sie erforschen die Natur, spielen Theater, lernen schneidern und haben das Glück, im Schulunterricht eben dieses zu erlernen. Das Schulfach heißt „Glück“, und Hannelore Lay ist sich sicher, dass nur glückliche Kinder eine soziale Kompetenz aufbauen und ihr Leben positiv gestimmt und selbstbestimmt in die Hand nehmen können.
Sie muss also eine Ausnahme dieser Regel sein. Denn ein Glückskind, nein, das sei sie nicht. Nie gewesen. Es habe glückliche Momente gegeben, ja. Aber ebenso viele traurige. Das fängt in der Kindheit an. Hannelore Lay wird 1949 geboren. Die Lebensverhältnisse sind einfach. Die Mutter ist schwer depressiv. Sie liegt meistens im Bett, wenn die Kinder aus der Schule kommen. Bleischwer hängt die Verzweiflung in der kleinen Wohnung. Zwischen stationären Aufenthalten und Antidepressiva gibt es keine Nestwärme und nur wenige gute Momente: ein Spaziergang im Horner Park, ein Badetag am Lütjensee. Um ihren acht Jahre jüngeren Bruder Hans-Jürgen kümmert sich Hannelore wie eine Mutter. Immer wieder versucht ihre eigene sich selbst zu töten. 1971 erhängt sie sich. Da ist Hannelore Lay 22 Jahre alt und bereits selbst Mutter eines vier Jahre alten Mädchens. Von dem Vater ist sie geschieden. Es ist ihre eigene Großmutter, die das Kind hütet, während Hannelore Lay arbeitet. „Ich bin ein Typ, der das Leben selbst anpackt“, sagt sie. „Ich warte nicht, dass andere mir helfen.“
Und dann kommt doch einer, mit dem das Leben schöner und einfacher wird: Wolfgang Lay. Unternehmer. Auch er ist bereits einmal verheiratet gewesen, hat einen Sohn. Es vergehen Jahre, bis das Paar ein gemeinsames Haus in Hummelsbüttel bezieht. Im Oktober 1981 ist es so weit. „Wir waren eine richtige Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern, einem Hund, Schildkröten und Kaninchen“, erinnert sich Hannelore Lay. Sie gibt ihre Arbeit auf, auch, weil ihre Tochter es sich so sehr wünscht. Und weil ihr Mann zu ihr sagt: „Ich möchte kein Haus bauen, das den ganzen Tag leer steht.“
Es sind gute Zeiten. Zeiten, aus denen sie heute schöpfen kann. Erinnerungen, die den Akku aufladen. Das braucht sie manchmal. Sechs Tage in der Woche ist sie für die Stiftung im Einsatz. Organisiert Unternehmensbesuche für die Schüler, legt mit den Kindern einen Schulgarten an, koordiniert die Einsätze der ehrenamtlichen Helfer, kümmert sich um Spenden, spricht mit Schulleitern und veranstaltet die Gesprächsreihe „Erziehung im Gespräch“, deren Ziel es ist, die Kommunikation zwischen den Generationen zu verbessern. Weil Hannelore Lay der festen Überzeugung ist, dass die Jüngeren von den Älteren lernen können – und umgekehrt. Sie selbst erfährt das immer wieder. Einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben ist Louise. Sie ist 92 Jahre alt und seit 30 Jahren an ihrer Seite. Sie wohnte im Haus nebenan – und war wie eine Mutter für sie da. In glücklichen Zeiten. Und in schweren.
„Die Zeit heilt tatsächlich“, sagt Hannelore Lay, wenn sie davon spricht. „Aber es hat zehn Jahre gedauert.“ Es ist der Silvesterabend am 31. Dezember 1986. Ein neues Jahr steht vor der Tür. Ein Jahr des Aufbruchs. Im Januar will die damals 37-Jährige ein Reformhaus in ihrem Stadtteil Hummelsbüttel eröffnen. Alles ist vorbereitet. Sogar eine Reformfachakademie in Oberursel hat die künftige Ladeninhaberin besucht. Ganz getreu ihrer Devise, die Dinge wenn, dann richtig zu machen. Alles soll nach Plan laufen. Doch das Leben ist nicht planbar. In dieser Nacht stirbt ihre Tochter bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn kurz vor Hittfeld auf dem Weg zu einer Silvesterfeier. „Ich habe nie erfahren, was wirklich passiert ist“, sagt Hannelore Lay.
Wie kann eine Mutter das überleben? Wie kann ein Mensch weiter funktionieren, wenn nichts mehr im Leben einen Sinn zu machen scheint? „Ich weiß es nicht“, sagt Hannelore Lay. „Ich dachte, ich setze mich aufs Sofa und warte, dass ich sterbe.“ Doch dann macht sie weiter. Weil sie weitermachen muss. Das ist Teil ihres Wesens. Der Verantwortung gerecht zu werden, die Pflichten zu erfüllen. „Es gab das Reformhaus, es gab Verträge – und das war gut so“, sagt sie. Sie arbeitet sechs Tage in der Woche. Solange sie im Geschäft ist, kommt sie zurecht. Zu Hause aber bricht sie zusammen. „Mein Mann hat in dieser Zeit viel aushalten müssen und geduldig meine Trauer ertragen. Er war immer da. Einfach nur da.“ Weil sie nicht weggehen mag, kommen die Freunde zu ihr. Jeden Sonntag. Erst nur zwei, dann immer mehr. Es entwickelt sich eine richtige Sonntagsfamilie.
Nicht allein zu sein, zu wissen, dass es da jemanden gibt, dem man wichtig ist. Der sich kümmert und verantwortlich fühlt – das ist es, was Hannelore Lay in diesen Jahren der Trauer erfährt. Und dass Menschen die Gabe besitzen, andere nicht nur zu begleiten, sondern auch an die Hand zu nehmen. Bis sie allein laufen können. Nichts anderes tut sie mit ihrer Stiftung Kinderjahre. Hinschauen zu jenen Kindern, die aus unterschiedlichsten Gründen benachteiligt sind. Sich für sie interessieren, ihnen die Welt mit ihren Möglichkeiten zeigen und sie stark machen, diese Möglichkeiten für sich zu erfassen. Denn genau das hatte ihr Mann im Sinn, als er die Entscheidung traf, eine Stiftung zu gründen, die sich um Kinder kümmert, die in unsicheren Familienverhältnissen aufwachsen, die keine Ziele haben und keine Vorbilder kennen.
2004 gründen die Lays ihre Stiftung. Wenig später erfahren sie, dass Wolfgang Lay unheilbar an Krebs erkrankt ist. Statt um Krankheit und Therapie dreht sich das Leben jedoch um die Stiftung. Um das, was im Entstehen ist. Im Juni 2007 stirbt ihr Mann.
Weit über 15.000 Schulmittagessen hat die Stiftung seitdem Jahr für Jahr finanziert. Derzeit gibt es Kontakt zu 32 Partnerschulen und vier Kitas unter dem Dach „Schulfach Glück“. Und gerade erst wurde ein 250 Quadratmeter großes Textillager in Steilshoop errichtet, um Kinder mit Kleidung zu versorgen. Die Stiftungsfamilie – derzeit, im Jubiläumsjahr, sind es 25 Personen – wächst weiter, wie damals die Sonntagsfamilie. Und mittendrin sitzt Hannelore Lay. Ein Glückskind? „Nein“, sagt sie. „Aber ein zufriedener Mensch.“
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Hannelore Lay bekam den Faden von Thomas Sampl und gibt ihn an Björn Lengwenus weiter.