Vor 30 Jahren feierte der HSV den größten Erfolg seiner Vereinsgeschichte mit dem Sieg im Europapokal der Landesmeister gegen Turin. Kai Schiller und Peter Wenig trafen den Architekten der Erfolgsmannschaft.

Die Stunden nach dem größten Triumph seiner Karriere als HSV-Manager am 25. Mai 1983 verbringt Günter Netzer in einem kleinen fensterlosen Raum in den Katakomben des Athener Olympiastadions. Während die Fans noch im Stadion ihre HSV-Stars feiern, euphorisiert ob des 1:0-Sieges im Endspiel um den Europapokal der Landesmeister gegen Juventus Turin, überwacht Netzer eine Dopingprobe der ganz besonderen Art. Lars Bastrup, dänischer Stürmer in Diensten des HSV, hockt neben ihm, nach einem doppelten Kieferbruch kaum noch in der Lage zu sprechen. Und vis-à-vis sitzt der ebenfalls zum Dopingtest ausgeloste Turiner Claudio Gentile, der Bastrup im Spiel ungestraft mit einem brutalen Faustschlag niedergestreckt hatte.

"Ich musste da mit rein, denn Lars hatte angekündigt: ,Ich bring den Gentile um'", erinnert sich Netzer. Als er nach der anschließenden Untersuchung Bastrups im Krankenhaus endlich zur großen Party ins Mannschaftshotel eilt, haben die Spieler längst einen uneinholbaren Promillevorsprung.

"Mir hat das alles nichts ausgemacht. Solche Momente gehören der Mannschaft", sagt Netzer 30 Jahre später in der Lobby des Hamburger Hotels Vier Jahreszeiten. Die blonden Haare sind noch genauso lang wie früher, von Bauchansatz keine Spur. Und es braucht kaum Fantasie, sich vorzustellen, wie er einst mit wehender Mähne in Mönchengladbach eine Art Kulturrevolution im Fußball auslöste. Mit Traumpässen aus der Tiefe des Raums, mit Kombinationsspiel abseits des Arbeiter-Fußballs. Kaum zu glauben, dass er im nächsten Jahr seinen 70. Geburtstag feiern wird. Und dass der letzte ganz große Triumph des HSV nun auch schon drei Jahrzehnte zurückliegt.

Vergessen wird er diesen Tag nie, wie auch. Juve kam als haushoher Favorit nach Athen, die Sieger-Wimpel waren bedruckt, die Lokalitäten für das große Fest schon gebucht. Doch dass der krasse Außenseiter an diesem Tag ein kleines Fußball-Wunder vollbringen kann, wird Netzer spätestens bei der Ankunft im Athener Olympiastadion klar. Auf Anraten von Einheimischen, die vor einem gigantischen Stau warnen, ist der Mannschaftsbus mit der Raute drei Stunden vor dem Anpfiff gestartet. "Doch dann kamen wir ganz schnell durch und waren viel zu früh da. Das Stadion war noch abgeschlossen", erinnert sich Netzer.

Ein Albtraum für Leistungssportler, die vor dem größten Spiel ihrer Karriere zu einer Zwangspause verurteilt werden. "Aber die Spieler haben es ganz locker genommen und weiter ihre Späße gemacht. Da wusste ich, dass wir an diesem Abend Großes schaffen können." Netzer ist der Architekt dieser Mannschaft. In fünf Manager-Jahren hat der Nationalspieler, der eigentlich nur die Stadionzeitung für den HSV machen wollte, ein Team mit herausragenden Fußballern wie Felix Magath und knochenharten Kämpfen wie Ditmar Jakobs geformt.

Im Athener Stadion sitzt Netzer neben seiner Frau Elvira im VIP-Bereich. Er jubelt, als Felix Magath in der 8. Minute das 1:0 erzielt. Und er bangt, als Juventus in der Schlussphase auf den Ausgleich drängt: "Ich habe nur gedacht: Bitte pfeif doch ab." Als dann endlich der Triumph perfekt ist, geschieht etwas sehr Ungewöhnliches. Günter Netzer weint. "Das ist etwas, was ich beim Fußball ganz selten erlebt habe, ich habe mich nicht wiedererkannt. Da habe ich gemerkt, dass die Anspannung doch viel größer war, als ich gedacht hatte."

Die Tage danach werden zu einem einzigen Triumphzug, zumal der HSV auch noch die deutsche Meisterschaft erringt - entsprechend überschwänglich ist der Empfang an der Moorweide. Doch als Netzer die Fotos in der Zeitung sieht, ist er selbst erschrocken: "Von Freude in meinem Gesicht war nichts zu sehen." Netzer hat das Lachen verloren, zu groß ist schon im Augenblick des allgemeinen Jubels die Sorge, wie man diesen Erfolg konservieren kann. Netzer ahnt, dass auch dieser doppelte Triumph keine Zeitenwende in Hamburg auslösen wird. Denn Mitte der 80er-Jahre hat der Fußball noch nicht annähernd die gesellschaftliche Bedeutung wie heute, die unwirtliche Volkspark-Betonschüssel ist nur bei Top-Spielen gut gefüllt, die Sponsorensuche extrem mühsam. Und während die Tickets zum deutschen Champions-League-Finale in Wembley im Internet seit Wochen zu Fantasiepreisen gehandelt werden, schickte der HSV damals mehrere Tausend der bestellten 15.000 Endspiel-Karten zurück an die Uefa.

Umso mehr ärgert es Netzer, dass sein Verein im Mittelmaß versunken ist. "Eigentlich kann das nicht sein", sagt er, "mit diesem wunderbaren Stadion, diesen großartigen Fans und einer wirtschaftlich so prosperierenden Stadt." Vor ein paar Jahren wollten sie ihn mal zurückholen, als Aufsichtsratsmitglied sollte er seine Kompetenz einbringen. Aber Netzer wollte nicht: "Ich bin ein konsequenter Mensch, der eine einmal getroffene Lebensentscheidung nicht einfach revidiert." Zudem hätte es auch inhaltlich nicht gepasst: "Ich bin nicht geeignet, Mitglied eines elfköpfigen Gremiums zu sein, das ohne die nötige Fachkompetenz zentrale Entscheidungen treffen soll. Ich bin keiner, der sich gern ausbremsen lässt."

So also bleibt die Erinnerung an den größten Triumph der Vereinsgeschichte. An den feinen Techniker Magath, das Kopfball-Ungeheuer Horst Hrubesch, den grantelnden Erfolgstrainer Ernst Happel. Und an Günter Netzer, den erfolgreichsten Manager des HSV. Das große Spiel hat Netzer übrigens nie wieder in voller Länge gesehen, in seinem Haus in der Schweiz gibt es keine Devotionalien aus seiner großen Zeit: "Ich bin nun mal kein Mensch, der sich ein Museum anlegt und in der Vergangenheit lebt."