Diese Insel ist ein Mythos, geliebt und verfemt, besungen und verspottet. Matthias Iken ist vom Ellenbogen bis Hörnum gewandert und hat ein Eiland entdeckt, das auf 40 Kilometern Länge mehr Landschaft, mehr Abwechslung und mehr Überraschungen bietet als ganze Regionen der Republik.
So muss das Ende der Welt aussehen. Kein Mensch, nirgends. Nur ein Dreiklang aus Sand, Horizont und Meer. Es ist das Ende einer Welt, die Deutschland heißt. Hier fällt die Nordspitze der Insel Sylt weich ins Watt, dahinter liegt Dänemark. Hier beginnt die 45-Kilometer- Wanderung über eine Insel, die stets etwas Besonderes war: Insel des Jetsets, Königin der Nordsee, Sehnsuchtsort. Und die noch immer etwas Besonderes ist.
Schon die Anreise nach Sylt hat etwas Amphibisches. Es ist ein seltsames Gefühl, mit einem Zug ab Altona auf eine Insel zu fahren. Die Nord-Ostsee- Bahn lässt sich aufreizend Zeit, als bedürfe es dreier Stunden, Hektik und Stress der Großstadt hinter sich zu lassen. Der Bummelzug windet sich auf seiner Strecke gen Norden in atemberaubende Höhen, einem Flugzeug gleich, über den Nord-Ostsee-Kanal, um fortan an jeder Milchkanne zu halten. Manche Stationen scheinen für sich allein ins Niemandsland gestellt, sie heißen Lunden oder Langenhorn und klingen nach Nirgendwo. Hinter Klanxbüll grüßt ein letzter Wald von Windrädern, dann löst sich Nordfriesland in Wasser auf. Ich fahre über den Hindenburgdamm, den der Zeitgeist noch nicht politisch korrekt umdeuten konnte, wir verlassen das feste Land und emigrieren in das Reich der Sommerfrische. Marsch rechts, links Watt – und plötzlich ist sie da: die Insel.
Der Ellenbogen hat sich touristischer Erschließung stets verweigert
Meine Wanderung beginnt dort, wo Sylt am schönsten ist: auf dem Ellenbogen. Der Nehrungshaken, der sich im Norden um die Insel legt, gilt als bekanntester „Geheimtipp“ der Insel. Hier wachsen die Dünen höher, der Strand wirkt breiter, der Sand weicher, die Brandung rauer. Aufgrund gefährlicher Tiefenströmungen ist das Baden selbst für geübte Schwimmer gefährlich. Vereinzelt warnen Verbotsschilder – sie wirken in dieser verlassenen Welt wie ein ferner Gruß aus der Zivilisation. Wer Ruhe sucht, wird sie hier finden. Wer dem Ursprünglichen nachspürt, wird es hier entdecken. Wer das Unverbaute will, wird es erleben, wird Teil einer besonderen „Ellenbogen-Gesellschaft“. Der Ellenbogen ist anders als der Rest der Insel – er hat sich der touristischen Erschließung stets verweigert. Und macht es bis heute sehr geschickt.
Wer die Privatstraße bis zum Ellenbogenberg im Osten befahren möchte, muss zahlen. Kirsten Asmussen sitzt, Hündin Susi auf dem Schoß, in einer kleinen roten Bude und kassiert bei Autofahrern fünf Euro, bei Wohnmobilen acht Euro. Schon jetzt, in der Vorsaison, bilden sich vor der Mautstation mitunter kleine Blechschlangen. Doch der Lister Erbengemeinschaft, welcher der Ellenbogen gehört, ist daran nicht gelegen – sie strebt nicht nach Reibach und Rendite, sondern nach Ruhe und Rettung des Idylls. Sie sind Ellenbogen- Schoner. „Wir mögen das nicht so gern, wenn hier viel los ist“, sagt die Inselfriesin, die von Föhr stammt. „Wir wollen nicht zu viel Reklame machen.“ Der Ausverkauf der Insel, der in den 60er-Jahren einsetzte, soll sich hier nicht fortsetzen. Asmussen hat den Wandel auf der Insel erlebt. Zuletzt sei Sylt „bürgerlicher, ein bisschen normaler geworden“. Nur manchmal müsse sie sich über Besucher ärgern, deren Hunde Schafe reißen und deren Herrchen die Überreste in den Dünen vergraben. „Das ist hier ein Naturschutzgebiet.“ Ihr Wunsch, und dabei blickt sie auf die Straße, das Vorland und den Königshafen, ist bescheiden: „Die Leute sollen hier bitte nicht so schnell fahren.“
Warum auch? Einen Grund, zu hetzen, gibt es nicht. Gen Süden führen mehrere Wege – über List, das ich leider links liegen lassen muss. Über den Strand, an dem die Strandhalle wie ein Außenposten des Tourismus steht. Oder über die alte Inselbahntrasse Richtung Kampen. Es ist die beste Wahl – denn hier präsentiert sich Sylt als eine bizarre Zwischenwelt aus Wüste, Gebirge und Heide. Es bedarf nicht vieler Biere in der gemütlichen alpenländischen Stube „Bei König am Weststrand“, um wie Gerhart Hauptmann zu fantasieren. Der schwärmte 1915 beim Anblick der Lister Wanderdünen: „Es ist hier wie auf den Gletschern eines Hochgebirges.“
Die Wanderdünen werden meine Begleiter, mächtige Sandwälle, die sich mehrere Hundert Meter lang am Horizont erstrecken. Ist das noch Deutschland oder schon Marokko? Es ist die Lister Sahara. Während die Heide in diesen frühen Maitagen noch karg und braun ist, wirkt das Weiß der Dünen makellos. Keine Pflanze wurzelt im Sand, pro Jahr wandern die Dünen mehrere Meter ostwärts.
Ich ziehe südwärts, weiter auf der alten Inselbahntrasse, die von Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1970 List mit Westerland verband. Nun ist es eine holprige Piste durch herrliche Natur – die ich mir leider mit überraschend vielen Autos und noch mehr Radlern teilen muss. Wanderer gibt es hier keine. Der Mai ist für Sylt eine Übergangszeit, langsam bevölkert sich die Insel und erwacht aus dem Winterschlaf; die Bohlenwege und Strandtreppen sind frisch verlegt oder repariert, das helle Holz weder von der Sonne verfärbt noch vom Regen zerfurcht. Während erst langsam zartes Grün durch das vorherrschende Braun bricht, die Syltrosen noch unscheinbar da liegen, brennt die Maisonne vom Horizont, als heiße sie August.
Immer wieder führen offizielle Wege und inoffizielle Trampelpfade zum Meer. Im Westen lockt die See, in Osten diese fremdländische Landschaft.
Sylt war immer – nicht nur geografisch – der plumpen Deutschtümelei entrückt. Sylt träumte sich lieber in hitzeflirrende Sommer südwärts. Seine Strände heißen Abessinien, Samoa, Sansibar – und auch sonst ging es dort freizügig zu. An den Weststränden der Insel fielen die letzten Hosen, an den FKK-Stränden Abessinien oder Samoa beschleunigte sich die sexuelle Revolution der 60er-Jahre. Vom Mythos des heißen Strand- und Lotterlebens an „Buhne 16“ zehrt Kampen bis heute.
Nach etlichen Kilometern durch die „Sahara des Listlandes“ grüßt Westerheide aus der Ferne – die ersten Dächer tauchen am Horizont auf, die Häuser thronen auf Dünen wie auf Warften.
Bis dahin ist es noch ein Stück. Und die Dramaturgie macht die Beine schwerer. Sylt beginnt mit einer rauschhaften Ouvertüre, einem dramatischen ersten Satz und ebbt dann langsam ab, wird ruhiger. Heide, Dünen, Hecken. Dünen, Sträucher, Dünen, Hecken, Schritt für Schritt. Auch das Schöne kann eintönig werden; das Auge verlangt Abwechslung, sonst wird es stumpf. Max Frisch spottete einst über Sylt: „Hin und wieder kippe ich einen Steinhäger bei so viel leerem Himmel.“
Ich kippe nicht, ich wandere weiter. Längst habe ich die befestigte Straße verlassen und bewege mich auf einem Fuß- und Fahrradweg fort, viele Räder rollen vorüber.
Im Klappholttal stoße ich auf einen Vorposten der Zivilisation. Die „Akademie am Meer“ wurde 1919 als Volkshochschule gegründet und ist bis heute eine Mischung aus Landschulheim und Oase, Aussteiger- und Künstlerdorf. Der Treffpunkt der Akademie ist der kleine Kiosk, in dem Margot Dohmen arbeitet. Sie verkauft Süßes, Kaffee und Postkarten. „Die Akademie ist eine eigene Welt“, sagt die Listerin. „Hierher kommt eine besondere Klientel, die die Ruhe sucht“. Ein Gast, der gerade einen Kaffee kauft, fügt hinzu: „Wer ins Klappholttal kommt, lässt die Zivilisation hinter sich“. Kleine wie schlichte Ein- oder Mehrbetthäuschen ducken sich zwischen den Dünen, der Geist des Wandervogels weht durch das Stranddorf. Der Hamburger Knud Hermann Friedrich Ahlborn hatte das ehemalige Kriegslager 1919 entdeckt und dort bis zu seinem Tode 1977 gewirkt. Bis heute ist man im Klappholttal stolz darauf, „noch keinem Zeitgeist hinterhergelaufen zu sein“.
Ich laufe nun Kampen entgegen. An machen Stellen wagt sich Strandhafer vorwitzig bis zum Weg. Ich bin froh über jeden Tupfer, der das herbstliche Bild aus Besenheide oder Krähenbeere auflockert, dankbar über jede Düne, die der Wind zu einer Gestalt verweht hat. Hier erkenne ich einen Zuckerhut, dort wähne ich einen schlafenden Riesen. Und in den Ohren rauscht das Meer. Das Meer? Plötzlich sind es zwei Meere. Nach einer Anhöhe wird die Leinwand wieder angeschaltet: Der Blick fällt von einer hohen Düne auf das Watt im Osten und auf das Meer im Westen. Und damit auch die letzten trübsinnigen Gedanken weggepustet werden, weht der Wind dort oben frisch. Es ist ein Postkartenpanorama: Hinter dem Leuchtturm von Kampen rekelt sich das mondäne Dorf in der Sonne, Meer und Himmel wetteifern um das perfekte Blau. Die Häuser gleichen eher roten und weißen Reetdachpalästen. Man kann das aus tiefstem Sozialneid ablehnen, aber schön ist es schon.
Kampen war stets ein Liebling – erst der Künstler, dann des Jetsets. Thomas Mann dichtete in Haus Kliffende: „Nicht Glück oder Unglück, der Tiefgang des Lebens ist es, worauf es ankommt. An diesem erschütternden Meere habe ich tief gelebt.“
Mich treibt es zurück zum Meer, am kleinen Leuchtturm vorbei zur Strandsauna und dem Bistro La Grande Plage. Ab Ostern kann man hier mit Blick aufs Meer schwitzen und sich dann in die eiskalten Fluten stürzen. Weniger Verwegene genießen Küche und Skihüttenambiente im Sylter Sand. Der Seewind verweht die Unterschiede der Gäste, in kurzen Hosen sehen alle gleich aus. „Bei uns treffen sich Urlauber der ganzen Insel“, sagt die Restaurantleiterin Wibke Speth. „Hier kann jeder sein, wie er ist – er muss sich nicht verstellen.“ Ist Kampen ruhiger geworden, in die Jahre gekommen? Die Sylterin Speth glaubt das nicht. „Es gibt immer noch Partys wie früher, wo der Schampus fließt. Aber Kampen bietet mehr, auch viele Oasen für Ruhesuchende.“
Dem Test auf der Whiskeymeile entziehe ich mich und halte vorbei an den Hotels auf die Düne zu, die auf den spektakulär unspektakulären Namen „Uwe“ hört. Über mehr als 100 Holzstufen geht es in die Höhe von 52,5 Metern. Bajuwaren mögen über derlei Berge lachen, das Panorama aber ist watzmannartig. In der Abendsonne liegt mir die ganze Insel zu Füßen, im Norden der Ellenbogen, im Süden reicht der Blick bis Hörnum. Die charakteristische Gestalt der Insel, die an Zehntausenden Autos klebt, macht die Uwe-Düne sichtbar.
Das Kliff – so vergänglich ist Schönheit und so schön Vergänglichkeit
Von da an ist es nur ein Katzensprung bis zu einem weiteren Charakteristikum Sylts – zum Roten Kliff. Hier trifft der Geestkern, dem die Insel ihr Sein verdankt, direkt auf die See. Hier knabbert der Blanke Hans Meter um Meter, hier spült der nordfriesische Regen Kilo um Kilo ins Meer. Das permanente Schöpfen und Vergehen macht das Kliff in der Abendsonne zu einem mystischen Ort. Einige sind auf dem Pfad, der südwärts nach Wenningstedt führt, unterwegs, und doch liegt Ruhe über der Szene. Wanderer haben Steine wie im Hochgebirge zu Haufen übereinandergestapelt, sie weisen den Weg. Die tief stehende Sonne wirft ihr weiches Licht, Wind und Meer beschränken sich in diesen Abendstunden auf ein Hintergrundrauschen. Der Weg, mal durch weichen Dünensand, dann über festen Boden, lehrt Demut. Er zeigt, wie vergänglich Schönheit ist, wie schön Vergänglichkeit. Dieses Zauberland euphorisiert, es beflügelt Kinder, versöhnt Streitende und bringt Schwätzer zum Schweigen. Wenn sich die Sonne dem Meer entgegenneigt, gibt es kaum einen schöneren Platz. Wobei die Laune der Natur Sylt wie ein Lineal nach Westen ausgerichtet hat. Sonnenuntergänge werden da überall zum großen Kino.
In Wenningstedt biege ich ab, um schneller nach Westerland zu kommen. Ein Fehler. Der erste Eindruck des Dorfes ist eine lang gestreckte Halle, der Bauhof. Danach laufe ich durch Straßen, in denen Fußballfans die Flaggen des FC Bayern und des HSV gehisst haben. Warum tun sie das? Schöner machen diese Wimpel Wenningstedt nicht – eigentlich ist es ein hübsches Dorf, kleiner als Westerland, ruhiger als Kampen. Ein paar Villen der Jahrhundertwende mischen sich unter moderne Reetdachhäuser.
Am Horizont trumpft schon Westerland auf mit seinen Hochhäusern an der Kurpromenade. Je näher man dem Hauptort kommt, umso fassungsloser machen die Bausünden, die sich immer mehr in das Meerpanorama schieben. Es sind Fingerzeige eines Zeitgeistes, der mit der Zeit auf den Geist geht. Auf halbem Weg zwischen Wenningstedt und Westerland liegt das Forschungsgelände des Umweltbundesamtes mit seiner Luftmessstation. Auf Westerland wurden die Feinstaubgrenzwerte im laufenden Jahr fast so oft überschritten wie in Hamburg – Ursache ist allerdings die Nordseeluft.
Wobei man angesichts der Automassen auch auf andere Gedanken kommen könnte. So weich kann kein Abendlicht zeichnen, um diese Sünden aus Waschbeton zu verwaschen. Walter Jens ätzte einst über „Betonsilos am Meer, geballte Hässlichkeit über einer der scheußlichsten Straßen, Friedrichstraße, einer misslungenen Mischung aus St. Pauli und Baden-Baden“.
Immerhin hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan, Westerland wird langsam schöner. Neubauten fügen sich harmonischer zu den Denkmälern der Bäderkultur. Ein besonderer Blickfänger ist noch immer das Jugendstilhotel Miramar – gigantischen Geboten in den Zeiten der Betonära hielten die Besitzer stets stand.
Knapp 60.000 Gästebetten gibt es auf der Insel, 13.000 mehr als 1992. In den vergangenen Jahren kamen mit dem Arosa in List, dem Dorfhotel in Rantum oder dem Hapimag in Hörnum große Häuser hinzu. Es gibt sie aber noch, die Familienbetriebe. Einer ist das Hotel Clausen in der Friedrichstraße. „Die Alteingessenen haben durchaus zu knapsen“, sagt Nina Michaelis, die eben noch ihren Gästen perfektes Rührei serviert und Kaffee nachgeschenkt hat. „Mit persönlichem Service und familiärem Ambiente wollen wir punkten.“ Der Strukturwandel betrifft nicht nur die Hotels, sondern auch die Ferienwohnungen. „Viel alter Wohnungsbestand wird derzeit weggekloppt, da kommen dann Ferienwohnungen hin“, beschreibt Sönke Zschage die Entwicklung. Zudem holen andere Küstenorte auf. „Man darf sich nicht auf Sylt ausruhen.“
Die Insel ist nicht mehr so mondän, man kann auch sagen: teuer, wie noch vor Jahrzehnten. Anfang der 70er-Jahre galt Sylt nach Cannes und St. Tropez als bekanntestes Ferienziel in Europa. Vor 20 Jahren kostete die Fahrt zum Ellenbogen acht Mark, heute sind es fünf Euro. Das Billett für den Strand schlug damals mit sechs Mark zu Buche, heute sind es nur 3,50 Euro. Im Rest der Republik stiegen die Preise im gleichen Zeitraum um 44 Prozent.
Der Strand kostet 3,50 Euro Eintritt. Früher war er viel teurer
Es bleibt ein seltsames Gefühl, für den Strand zu zahlen. Hinten liegt das freie Meer, vorne lauert die Mautstation. Elfriede Helmreich ist eine dieser städtisch beauftragten „Wegelagerer“, aber eine sehr charmante. „Das ist eigentlich ein Traumjob“, sagt die Mitarbeiterin des Sylter Tourismusverbandes. Zwischen halb zehn und halb sechs am Abend kassiert sie bei Erwachsenen ohne Kurkarte 3,50 Euro – eine Pause ist nicht vorgesehen, eine kleine Zwischenmahlzeit hat sie mitgebracht. „Acht Stunden komme ich hier nicht weg“, sagt sie und lacht: „Das Leben ist hart an der Küste.“ Seit 1979 lebt sie auf der Insel und schätzt besonders die – im Übrigen kostenlose – Wattseite. „Ich verstehe nicht, dass da so wenige hingehen.“
Die Westerländer Küste wirkt auf den ersten Blick weniger einladend. Die Dünen sind von einer Mauer aus Stein und Beton eingefasst, über die die Promenade führt. Der Strand, an dem die See beständig knabbert, ist schmal und fällt steil ab. Der Sand muss regelmäßig vorgespült werden, um die Stadt zu schützen. Die ganze Insel hat sich seit 1972 rund 42,7 Millionen Kubikmeter Sand aus dem Meer für rund 170 Millionen Euro geleistet. Sylt ist uns lieb. Und teuer.
Am Ende der Promenade führt der Weg auf einem Holzsteg weiter. Auf dem Geländer ist insel-sylt.de eingebrannt. Was bitte sucht man am Nordseestrand im Internet?
Am Ende des Stegs steige ich über die Dünen. Gleich dahinter schmiegt sich ein kleines Wäldchen an die Sandwälle – überraschend auf der baumarmen Insel. Hier kämpfen gebeugte Kiefern erfolgreich gegen das raue Nordseeklima. Hinter dem Südwäldchen verbirgt sich der größte der sieben Campingplätze. Der Zeltplatz ist eine Einstiegsdroge für Sylt-Süchtige. Viele der Hotelgäste von heute nächtigten einst im Zweimannzelt im Dünensand. Und verfielen der Insel, wie es Die Ärzte besangen. „Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen, Wann werd’ ich sie wiedersehen? Ich hab solche Sehnsucht, ich verlier den Verstand. Ich will wieder an die Nordsee, ich will zurück nach Westerland.“ Oder doch nach Kampen?
Der Weg südwärts führt mich entlang der Straße – kein Platz für Punkschmonzetten. Hier rauscht nur der Verkehr, das Meer verbirgt sich hinter Stacheldraht. Die Heide ist abgesperrt. Ich will zurück ins Lister Land. Wer jemals durch das Reich der Wanderdünen wanderte, dessen Reizschwelle ist dramatisch erhöht. Immerhin führt mich der Weg nach einigen Kilometern in ein weiteres Wäldchen. Sylt ist eine Insel der schnellen Wechsel. Wo eben noch Straße dominierte, herrscht schon einige Meter entfernt Frieden. Überraschend dicht, ja binnenländisch wirkt der Wald vor der Eidumer Vogelkoje. Als er mich ausspuckt, bin ich zurück in der Zivilisation. Rantum hat sich in den vergangenen Jahren gemacht. Nahmen viele Urlauber den Ort früher eher als Raststätte auf der Transitstrecke zur Sansibar wahr, ist das Dorf nun eine Reise wert. Hinter dem Zeltplatz und dem TUI-Dorfhotel liegt die Sylt-Quelle mit Meerkabarett und Kunstraum.
Fast 400 Gastronomiebetriebe wetteifern auf der Insel. Das Restaurant der Sylt-Quelle zelebriert Wasser. Eine große Zapfanlage mit einem nachempfundenen Bohrer steht in der Mitte und verdeutlicht, wo das Nass gewonnen wird. „Das Wasser stammt aus einer Süßwasserblase in den Dünen südlich von Rantum“, sagt Hamed Antonio Cabbani, der Pächter des Hauses. „Durch eine lange Pipeline wird es hierhergepumpt und kommt direkt aus der Leitung, natur, medium oder klassisch.“ Cabbani, in Beirut geboren, in Florenz aufgewachsen, auf Sylt heimisch geworden, fühlt sich mit seiner Familie längst als Insulaner. Nur im Restaurant der Sylt-Quelle setzt er ganz auf die mediterrane Küche seiner alten Heimat: „Nordsee gibt es hier ja überall.“
Auf der Wattseite gleicht Sylt einem Chamäleon, ändert mehrfach die Farbe
Hinter dem Restaurant gibt es sie in einer ganz besonderen Ausformung. Der Deich des Rantum-Beckens eröffnet spektakuläre Blicke auf eine Welt aus Watt und Wasser und auf die Insel, die mir zu Füßen liegt. Die Nationalsozialisten wollten hier ursprünglich einen Flugplatz anlegen, heute ist das Rantum-Becken ein Natur- und Vogelschutzgebiet. Gerade auf der Wattseite gleicht Sylt einem Chamäleon: Watt und Salzwiesen verändern ihre Farbe nach Sonnenstand und Tageszeit. Wer genauer hinsieht, entdeckt Strandaster und Queller. Über den Deich schlagen wir den Weg Richtung Hörnum ein. Während wir Rantum verlassen, wundern wir uns über die Einförmigkeit der Neubauten. Typ Friesenhaus unter Reetdach, heller Klinker, der so heißt wie die Insel: Sylt.
Die alte Inselbahntrasse führt nah an der Wattseite entlang. Die Nordsee hat sich zurückgezogen, das Watt ist so trocken gefallen, als könne man gleich weiter nach Föhr und Amrum wandern. Rechts von mir liegen die Dünen, kleiner und dunkler, als ich sie aus dem Norden in Erinnerung habe. Hier, südlich von Rantum, liegt die Sollbruchstelle der Insel. 500 Meter trennen die Wasser, hier könnte die Insel eines Tages zerbrechen. Von derlei Untergangsszenarien ist an diesem schönen Maitag nur nichts zu ahnen.
Herbert Seckler verrät, wie die Capri-Fischer nach Sansibar kamen
Ganz im Gegenteil: Etwas weiter südwärts, in der Sansibar, feiert sich Sylt selbst – und eine der sympathischsten Geschichten einer Verwandlung. Herbert Seckler kaufte 1977 einen abgelegenen, neun Quadratmeter kleinen Kiosk am FKK-Strand zwischen Rantum und Hörnum. Heute ist es das In- Lokal auf der Insel, für das sogar Prominente zu reimen versuchen: „Ob Kutt, ob Butt – im Sansibar geht’s allen gut! Ob Filet, ob Flunder – im Sansibar, da gibt es Wunder!“, frohlockte Wolfgang Joop. Die Sansibar ist kein Refugium der Reichen, nein, die zwei gekreuzten Seeräuberklingen gelten vielen als Symbol für Sommerfrische. Die Außenterrasse bietet einen großen Spielplatz und ist unaufgeregt gemütlich, die Holzhütte zugleich Raumwunder und Genussmaschine. Die wie geschmiert läuft. Und die verlässlich ist: Patron Seckler gehört in der Sansibar zum Inventar wie die Likörellen von Udo Lindenberg an der Wand; der gebürtige Schwabe steht aufmerksam am Tresen oder der Terrasse, immer im Blickkontakt oder Gespräch mit seinen Gästen. Und wenn die Sonne untergeht, erklingt das alte Lied von den Capri-Fischern. „Das ist seit 35 Jahren so“, verrät Seckler. Damals legte er noch selbst Musik für die Gäste auf. „Irgendwann sagte einer beim Sonnenuntergang, jetzt fehlen nur noch die Capri-Fischer.“ Der Zufall wollte es, dass er just an diesem Tag einen Sampler mit dem Schlager von Rudi Schuricke bekommen hatte. Eine Tradition war geboren. Und eine, die längst die Gäste in zweiter Generation fesselt. Eine Hütte im Niemandsland mit guter Küche und einer Weinkarte in einem Umfang, den man in der endlosen Dünenwelt als Letztes erwarten würde.
Das Meer ist nur einen Schluck entfernt, der Strand an dieser Ecke wunderschön. Ich wage mich bis zu den Knien in die Wellen und denke an Thomas Mann, der einst beim Baden in der Brandung schwärmte, er werde sich „nach deren Prankenschlägen das ganze Jahr zurücksehnen“. Um es ihm gleichzutun, fehlen der Nordsee in diesen Tagen noch acht bis zehn Grad.
Zurück Richtung Straße stoße ich auf ein Graffito, mit Schablone auf den Radweg gesprüht: „Geld mach unfrei“, steht da. Demnach muss Sylt eine verdammt unfreie Insel sein, wo nicht nur der Strandzutritt, sondern schon die Parkplätze an den Aufgängen Geld kosten. Und doch bietet die Königin der Nordsee zugleich mehr Freiheit als fast alle anderen Küstenstriche der Republik: 40 Kilometer Strand am Stück öffnen immer wieder Fenster zur Freiheit, weil die Sylter dem Blanken Hans und blanken Punks, verrückten Investoren und entrückten Gästen immer wieder getrotzt haben. Und weil die Insel fast ohne Zäune und Verbote auskommt.
Selbst der unter Hochspannung stehende Mast ist hinter einem einfachen Jägerzaun gesichert. Ich bin zurück auf der alten Inselbahntrasse. Im Süden stoßen wir auf einige Teiche in den Dünentälern, die das trockene Frühjahr überdauert haben. Im Wasser spiegelt sich das Blau des Himmels. Und spätestens bei Puan Klent drängt sich der Eindruck auf, die ganze Insel sei gespiegelt mit der Westerländer Friedrichstraße als Spiegelachse. Das Jugenderholungsheim Puan Klent ist historisch eng mit der Akademie am Meer verbunden, die Hörnumer Odde ist der Ellenbogen des Südens, die Sansibar eine Spiegelung Kampens. Die Dünenlandschaft entwickelt ihre immer neue Magie. Es ist eine meditative Wanderung, die immer wieder neue überraschende Blicke schenkt. Salzwiesen, die wie von Emil Nolde gemalt in der Sonne schimmern; heidebewachsene Dünen wie ein Gruß aus der Lüneburger Heide; und dann ein Sandstrand direkt am Watt, als weile man auf Föhr.
Als die Straße zurückkehrt, werde ich aus meinen Tagträumen gerissen, auch wenn der Verkehr hier im Süden deutlich verhaltener rauscht. Hörnum, das spätberufene Dorf, macht am Ortseingang einen wenig einladenden Eindruck. Hinter der Düne ragt ein Haus in die Höhe, das nur aus Dach zu bestehen scheint. Der Ort, bis 1945 vor allem militärisch geprägt, wuchs erst nach dem Zweiten Weltkrieg; der Tourismus erwachte, nachdem der Ort 1968 zweispurig an den Inselnorden angeschlossen worden war. Der Fremdenverkehr kommt weniger mondän daher: „Fünf- Sterne-Heim“, „Heim an der Düne“, „Jugendaufbauwerk“ klingen weniger nach Prosecco als nach rotem Tee aus Blechkannen, mehr nach Butterbrot als nach Bruschetta.
Das Dorf lässt auf sich warten, man wähnt sich auf der Einfallstraße einer Provinzkleinstadt. Die katholische Kirche ist nicht mehr Gott geweiht, sondern als Arche Wattenmeer dem Naturschutz. Einige Hundert Meter weiter stoßen wir auf die Schutzstation Wattenmeer. Die Odde ist ein ökologischer Hotspot. „Man kann nur schützen, was man kennt“, sagt Julia Schneider, die derzeit ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr in Hörnum leistet. „Wir möchten dass die Besucher diese besondere Landschaft verstehen und schätzen lernen und so das eigene ökologische Handeln hinterfragen“, ergänzt Jule Oldenburg, die im Bundesfreiwilligendienst dort arbeitet. Natur braucht Ehrenamt. Insgesamt fünf Stationen betreibt die Schutzstation Wattenmeer auf Sylt – in Hörnum steht eine selbst gemachte Schau über den Nationalpark und seine Bewohner im Mittelpunkt.
Die letzten Meter führen mich in den Ortskern von Hörnum, keine architektonische Offenbarung, eher eine ehrliche Haut. Es ist die Natur, die Gäste in den Süden Sylts zieht. Nirgendwo verändert sich die Landschaft so schnell, nirgendwo nagt die Nordsee so zerstörerisch an den Dünen, nirgendwo abseits des Ellenbogens wirkt die Landschaft so archaisch wie hier. Nirgendwo ist – im doppelten Sinn – das Ende so nah. Sylt ist eine Königin mit Stil. Sie tritt nicht ab, sie geht irgendwann unter.