Vor 25 Jahren löste Peter Zadeks “Lulu“ Empörung in der ganzen Stadt aus. Aber nicht die nackten Brüste auf der Bühne waren der Grund, sondern das Plakat, das für die Tragödie warb, erinnert sich Monika Nellissen
Die einen schüttelten nur fassungslos den Kopf, andere schimpften über die "Riesensauerei" oder wandten sich schamvoll ab, manche staunten, wie sich jemand traute, eine solch "schweinische Peepshow" in aller Öffentlichkeit zu präsentieren: Das waren Reaktionen von Hamburger Bürgern, die sich vor 25 Jahren plötzlich mit dem Poster an Litfasssäulen und Plakatwänden in der Stadt konfrontiert sahen.
10.000 Exemplare dieses Theaterplakats waren über ganz Hamburg verteilt worden. Und nicht nur Menschen auf der Straße entrüsteten sich, auch Hamburgs damalige Frauenbeauftragte des Senats, Eva Rühmkorf, protestierte beim Anblick des Ärgernisses: Ihrer Meinung nach war die Grenze der Kunst überschritten, das Plakat sei eindeutig frauendiskriminierend. Ingo von Münch, frisch inthronisierter Kultursenator, schloss sich ihr an: "Ich finde das Plakat frauenfeindlich." Und Peter Zadek, damals noch Intendant des Schauspielhauses, war zufrieden. Als furchtloser Regie-Zampano dafür bekannt, keinem Skandal aus dem Wege zu gehen, hatte er sein Ziel erreicht: Seine Inszenierung von Frank Wedekinds "Lulu", die wenige Tage später im Haus an der Kirchenallee stattfinden sollte, war bereits vor der Premiere in aller Munde.
Er hatte das Plakat beim österreichischen Illustrator Gottfried Helnwein in Auftrag gegeben. Die Aufführung selbst, in der die junge, hinreißende Susanne Lothar mit viel nackter Haut und der Unschuld eines Kindes auf der unbefriedigten Suche nach Liebeserfüllung diversen Herren aller Alterskategorien und Provenienzen sowie einer Dame zu Diensten ist, geriet nicht zum Skandalon. Ihr wurde begeistert applaudiert. Die Hamburger Theatergänger waren schließlich nackte Bühnentatsachen gewohnt. Hatte doch schon 1972 die 17-jährige Eva Mattes hüllenlos als tumbe Beppi in "Stallerhof" von Franz Xaver Kroetz im Malersaal des Schauspielhauses für Aufsehen gesorgt. Und im Folgenden ging es wahrlich nicht prüde zu an Hamburgs Bühnen. Die bildliche Darstellung einer Szene war es, wie sie auch auf der Bühne zu sehen war, die die Entrüstung auslöste: Susanne Lothar als "Lulu" steht mit entblößter Scham vor dem auf Zwergengröße geschrumpften Heinz Schubert als Gauner Schigolch, dessen Augen in die Tabuzone stieren.
Auf die Frage, warum sie den auf krassen Voyeurismus zielenden Werbe-Gag überhaupt mitgemacht habe, antwortete die Schauspielerin, sie habe nicht geahnt, dass dieses Plakat eine solche Welle der Empörung auslösen würde, schließlich treffe es die Aussage des Stücks auf den Punkt: "Da finde ich es nicht schlimm, wenn man mit grellen Mitteln für eine Aufführung wirbt. Es geht ja wirklich nicht zu wie im Kindergarten. Selbst wenn die Zuschauer empfinden, dass diese Inszenierung nichts Pornografisches hat, ist Lulu trotzdem eine Frau, die sich durch sieben Männer schläft und die tötet, bevor sie selbst umgebracht wird. Ihre einzige Kommunikation ist doch oft nur die sexuelle."
So viel Unvoreingenommenheit mochte die Vereinigung deutschsprachiger Bürgerinitiativen zum Schutz der Menschenwürde allerdings nicht gelten lassen. Sie hielt das Plakat für Pornografie und erstattete bei der Staatsanwaltschaft Hamburg Strafanzeige gegen Intendant Peter Zadek und Gottfried Helnwein. Auch Ernst Schönfelder, Direktor des Philharmonischen Staatsorchesters, fiel in den Kreis der Protestanten ein und urteilte unfreiwillig zweideutig, so ein Plakat könne einem "den Appetit verderben", wohingegen die Leiterin des Kulturhauses, Petra von der Osten-Sacken, ausrief, dazu falle ihr nur Alice Schwarzer ein.
Und eben diese, Feministin und "Emma"-Chefin, nahm während einer Diskussion in Stuttgart das Plakat vor dem Anwurf des Pornografischen in Schutz: "Nein, das ist keine Pornografie, auch nicht sexistisch. Hier ist doch eine starke, kräftige Lulu dargestellt, der die Nuttenstrapse etwas verlegen auf den stämmigen Oberschenkeln hängen. Der alte Mann, der ihr auf die Scham guckt, ertrinkt fast in seinem übergroßen Mantel. Nein, das ist keine verführerische Pose, sondern der Künstler entlarvt hier ganz klar die Fantasie des Mannes."
So hat es Helnwein erklärtermaßen nicht betrachtet, der sein Werk selbst als Motiv "reduziert", ja "bieder" empfand, allerdings in der "unbestreitbar legitimen Absicht, das Publikumsaugenmerk auf ein Thema zu richten".
In München übrigens, wo die Aufführung als Sondergastspiel des Schauspielhauses mit 2000 Plakaten beworben wurde, mussten auf Geheiß der Städte-Reklame die Blößen von Lulu mit Aufklebern bedeckt und so entschärft werden. Auch in Wien, wo Plakat und Vorstellung ebenfalls zu sehen waren, gab es, wie in Hamburg, Proteste, aber keine Zensur. Das auf Sweatshirts gedruckte Motiv war sogar für 50 Mark zu kaufen, ohne dass deren Träger tätlich angegriffen worden wären.
Das war vor einem Vierteljahrhundert. Eine Reaktion auf das Plakat wäre heute wieder, im Zeichen einer wütenden Sexismus-Debatte, interessant. Ein älterer Herr in exponierter Stellung hatte sie durch seinen plumpanerkennenden Hinweis auf das propre Dirndl-Dekolleté seiner Gesprächspartnerin ausgelöst.
Auch Alice Schwarzer hat sich natürlich wieder zum Frauen-Diskriminierungscasus zu Wort gemeldet. Nur eine "nicht hierarchische, sondern einvernehmliche Sexualität, eine Erotik auf Augenhöhe" müsse gelten, fordert sie. Das Plakat als Anschauungsmaterial kann sie kaum gemeint haben.