Die Ärzte gaben Dirk Rosenkranz höchstens 40 Jahre. Inzwischen ist er 46 und Vorsitzender der Deutschen Muskelschwund-Hilfe.
Mit dem Rollstuhl kam die Freiheit wieder. Viele Jahre war Dirk Rosenkranz nicht mehr draußen im Wald gewesen. Fast schon hatte er vergessen, wie sich das Knacken der Zweige anhört, wie frisches Harz riecht und wie wunderschön Spinnweben sind, in denen sich der Tau sammelt. "Es war wie eine Zeitreise in die Vergangenheit", sagt der 46-Jährige. In das Damals, als er noch mit dem Fahrrad über die Waldwege gefahren war. Und jetzt der erste Ausflug im Rollstuhl - er kam ihm wie eine Rettung vor.
Dirk Rosenkranz leidet an Muskelschwund. Seine Muskeln bilden sich unaufhörlich zurück. "Ich habe mich innerlich gegen den Rollstuhl gewehrt", sagt er. "Ich dachte, wenn es so weit kommt, dass ich ihn brauche, dann habe ich verloren und die Krankheit hat gewonnen." Was Rosenkranz lange nicht erkannte: Er war längst dabei, alles zu verlieren - ohne je in dem Ding gesessen zu haben. Er zog sich zurück. "Das hatte schon depressive Züge", sagt er. Konzerte, Weihnachtsmärkte, Treffen mit Freunden: All die Dinge, die ihm früher so viel bedeutet hatten, stellte er peu à peu ein - aus Angst. "Meine Befürchtung war, dass der Rollstuhl mich entstellt", sagt er. Wie ein Stempel mit der Aufschrift "Mängelexemplar".
Dann kam jener Nachmittag vor fünf Jahren. "Du gehst jetzt mit Gassi", sagte seine Frau Jessica. Es klang wohl mehr wie eine Anordnung. Sie schob Dirk Rosenkranz den bis dahin in der Garage verstaubenden Rollstuhl regelrecht unter den Hintern. Er wehrte sich nicht. "Vielleicht war es Gleichgültigkeit." Mit Zwergschnauzer Fritzi ging es dann in den Wald - der Moment, der alles veränderte. Heute hat Rosenkranz den Rollstuhl akzeptiert. "Man braucht viel Zeit, um mich zu überzeugen." Der 1966 in Bergedorf geborene Widder macht seinem Sternzeichen alle Ehre. Einen Dickkopf hat er nicht nur, wenn es um den Rollstuhl geht. Ärztliche Ratschläge sind ihm egal. Er will das Beste aus seinem Leben machen - trotz allem.
Rosenkranz hatte eine ebenso normale wie glückliche Kindheit. Der Vater war Ingenieur, die Mutter arbeitete im Allgemeinen Krankenhaus Bergedorf. Rosenkranz war 13 Jahre alt, als bei einem seiner Mitschüler Gelbsucht diagnostiziert wurde. Vorsichtshalber wurde ganze Klasse untersucht. Im Blut von Rosenkranz entdeckten die Ärzte auffällige Werte. Nach ein paar Tagen stand fest: Er hat Muskelschwund.
Der Junge mit der seltenen Krankheit war für die Mediziner eine kleine Sensation. Dicht an dicht standen die Doktoren und Studenten um sein Krankenbett. "Ich hab mich wie ein Versuchskaninchen gefühlt", erinnert sich Rosenkranz. Mehr als eine Diagnose konnten die Ärzte jedoch nicht leisten - keine Therapievorschläge, keine Verhaltensregeln für den Alltag mit der Krankheit. "Man hat uns alleingelassen mit der Diagnose", sagt Rosenkranz. Erst der Hausarzt gab der Familie später eine Prognose: Spätestens mit 20 würde der Sohn im Rollstuhl sitzen, die Lebenserwartung liege bei 40 Jahren. Rosenkranz ist heute 46 Jahre alt. "Ich lebe gerade mein zweites Leben", sagt der Dickkopf, der sich nicht an die Vorhersagen der Mediziner halten wollte.
Nach der Diagnose führte Rosenkranz sein Leben normal weiter. Er merkte nichts von den Symptomen, blendete die Krankheit aus. "Ich war ein Kind und fühlte mich doch gesund." Er trieb viel Sport - Rad- und Skifahren, Windsurfen. Aus Trotz. Jetzt erst recht! Mit dem Bully und Freunden fuhr er als Jugendlicher regelmäßig nach Fehmarn. Rosenkranz liebt das Wasser.
Bei den Untersuchungen im UKE war herausgekommen, dass auch die ältere Schwester Regina Muskelschwund hat. Was war in der Familie falsch gelaufen? Eine Vererbung? "Möglicherweise haben unsere Eltern untereinander geguckt, wer der Schuldige ist", sagt Rosenkranz vage zu der Situation. Er sei - auch pubertätsbedingt - nicht immer fair zu seinen Eltern gewesen. Warum habt ihr das nicht besser gemacht? Warum soll ich noch zur Schule gehen?
Rosenkranz machte trotzdem sein Abitur am Wirtschaftsgymnasium und begann eine Lehre zum Restaurantfachmann im Vier Jahreszeiten. "Das war meine Fahrkarte in die große Welt", sagt er. Der gute Ruf des Hauses sollte ihm alle Türen öffnen. Die Ärzte rieten ihm von der körperlich sehr anstrengenden Arbeit ab. "Aber da kam mein Dickkopf wieder durch." Viele Schüsseln, Gläser und Teller gingen zu Bruch, weil seine Muskeln versagten. Aber er behielt die Ursache für sich, kassierte lieber eine Standpauke, als sich mit seiner Krankheit zu entschuldigen. Nur der damalige Hoteldirektor Gert Prantner wusste davon. Er war schon damals im Vorstand der Deutschen Muskelschwund-Hilfe und drängte Rosenkranz ein ums andere Mal, deren Vorsitzenden, den inzwischen gestorbenen Joachim Friedrich, kennenzulernen. Rosenkranz aber vermutete hinter dem Verein eine Selbsthilfegruppe. "Und die waren ein totales No-go."
Während der Ausbildung lebte und arbeitete Rosenkranz für ein paar Wochen in London - und entdeckte seine Begeisterung für die Ferne. Erst in diesem Jahr war er in Amerika. Bald soll es nach Vietnam und Südafrika gehen - Reisen, die erst durch den Rollstuhl möglich wurden.
Nach der Ausbildung studierte Rosenkranz BWL. Er wollte ins Management aufsteigen. In der Examensphase bekam er die ersten Schübe. Das Treppensteigen klappte nicht mehr, er musste sich am Geländer hochziehen. Die so lange verdrängte Krankheit ließ sich nicht mehr leugnen. "Das war eine echt frustrierend Phase", sagt Rosenkranz. Er stürzte sich in die Arbeit, wurde erst mitverantwortlicher Leiter des Premiere-Callcenters, in dem er bereits als Student gejobbt hatte, und dann Personalchef für den Hamburger Standort des Bezahlsenders. Als das Unternehmen entschied, die Dependance zu schließen und alles nach München zu verlagern, begleitete Rosenkranz den Übergang, blieb aber selbst im Norden. 2006 fing er bei einer Werft in Bremerhaven an, die wenig später insolvent ging. "Ich musste wieder eine Firma abwickeln und zuletzt mich selbst entsorgen." In jener Zeit verschlechterte sich sein Zustand spürbar. Inzwischen war Rosenkranz doch mit Friedrich und der Muskelschwundhilfe bekannt geworden und beschloss, dort mitzuarbeiten. Er wurde der zweite Mann hinter Friedrich und nach dessen Tod 2011 auch sein Nachfolger. Er sagt, sein Mentor habe ihnen die Krankheit erst richtig erklärt - und ihnen geholfen, damit zu leben. Ihnen - das sind Rosenkranz und sein Frau Jessica, seine Retterin.
"Sie ist ein Teil von mir", sagt er. "Ohne sie ginge das alles nicht." 2002 haben sie sich kennengelernt. In einem Supermarkt. Er kam die Treppe hinuntergelaufen und sie wartete unten gerade auf den Aufzug - mit ihrem Freund. Den hat Rosenkranz gar nicht registriert. Er hatte nur Augen für Jessica, und die für ihn. Der Freund stieg in den Aufzug, die Tür ging zu, und die beiden standen immer noch da. "Ich kann das gar nicht beschreiben", sagt Rosenkranz. "Es hat einfach Wumm gemacht." Es folgten viele Verabredungen. Muskelschwund war nie Thema. Jessica wusste davon, aber es gab keinen Redebedarf. Im Sommer 2004 heirateten die beiden. Rosenkranz hatte sich in den Kopf gesetzt, zum Altar zu gehen. Es klappte. Der Kinderwunsch hingegen blieb unerfüllt. "Wir beide reichen uns." Wenn Rosenkranz das sagt, klingt das nicht nach Beschränkung, sondern nach Freiheit.
Die Muskelschwund-Hilfe finanziert sich und ihre Arbeit rein aus Spenden und freut sich über Unterstützung. Spendenkonto: Hamburger Sparkasse, Kontonummer 1230125005, BLZ 20050550.
Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Dirk Rosenkranz bekam den Faden von Heung Min Son und gibt ihn an Simone Young weiter.