Hamburg. Besucher schreiben persönlichen Notfall oder Sorgen auf Zettel. Musiker improvisieren dann, um zu helfen. Das setzt Gefühle frei.

Der Name passt perfekt. Orchester im Treppenhaus nennt sich ein klassisches Ensemble aus Hannover. Und genau dort beginnt im Bucerius Kunst Forum ein Abend mit Kunst und Klassik. Etwa 150 Zuhörer haben sich im Foyer und auf der Treppe zum ersten Stock versammelt, um dem Intro des Streichquartetts zu lauschen, das die Zuschauer bei ihrem Gang durch die laufende Ausstellung „Flowers Forever“ begleiten und später zu einem sogenannten Notfall-Konzert einladen wird.

Mit einer Improvisation und dem 1. Satz aus Edmund Finnis‚ 2. Streichquartett beginnt das Wandelkonzert, bevor es hinauf in die Ausstellung geht. Es hat etwas Meditatives, sich die facettenreiche Geschichte der Blumen auf Gemälden, Fotografien und Videos anzuschauen und dabei vom zarten Klang der vier Streicher begleitet zu werden.

Zuhörer schreiben persönlichen Notfall auf einen Zettel – die Musiker improvisieren

Die Ausstellung ist das Intro zum eigentlichen Event des Abends. Im Auditorium im zweiten Stock des Forums gibt das Quartett sein „Notfallkonzert“. Zehn Zuhörer schreiben ihren persönlichen Notfall oder ihre aktuelle Sorge auf einen Zettel. Das kann ein Familienkonflikt sein oder der Dauerregen in Hamburg, „aber bitte nicht Mondscheinsonate oder Chopin auf den Zettel schreiben“, ermahnt Thomas Posth die Anwesenden mit einem Lachen.

Bei den 300 „Notfallkonzerten“, die der Cellist schon gegeben hat, sind immer wieder Zettel aufgetaucht, auf denen nur Musikwünsche standen, aber keine Notfälle. Die zehn Freiwilligen nehmen einer nach dem anderen auf einem Sessel unmittelbar vor den vier Musikern Platz und die improvisieren dann, nach vorheriger kurzer Beratung, wie man das jeweilige Problem etwas mildern kann.

Improvisationen zu den Notfällen sind meist krasse Tonfolgen

Die improvisierten Teile sind meist krasse Tonfolgen, die eher aus der Neuen Musik kommen und darauf schließen lassen, dass der anonym aufgeschriebene Notfall mehr als nur ein kleines Wehwehchen ist. Im zweiten Teil dieses individuellen Notfallprogramms spielt das Quartett aus der reichhaltigen Literatur der Streichquartette etwas Aufbauendes wie den vierten Satz aus Dvořáks „Amerikanischen Streichquartett, einen Ausschnitt aus Prokofjews „Peter und der Wolf“ oder Passagen aus Werken von Mozart, Ravel und Villa Lobos. Diese intensive und persönlich zugeschnittene Musik setzt Gefühle frei, zwei der Teilnehmerinnen gehen unter Tränen zu ihrem Platz zurück, eine andere dagegen strahlt übers ganze Gesicht.

Die Zuhörer sind begeistert von dieser ungewöhnlichen Art musikalischer Interpretation. Am 11. April gibt es das nächste Wandelkonzert mit dem Orchester im Treppenhaus im Bucerius Kunst Forum. Auch im Knust gastiert das ganze Ensemble am 8. Mai bei einer spannenden Klassik-Disco. Dann nicht als Quartett, sondern in großer Besetzung.

Infos und Termine unter www.treppenhausorchester.de oder www.buceriuskunstforum.de

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