Neumünster. Der Pianist Lang Lang ist in der ausverkauften Holstenhalle zu Gast, im Gepäck viel Saint-Saëns und noch mehr gute Laune.

Kaum ist Lang Lang zu sehen, lange bevor er auch nur einen Ton gespielt hat, bricht schon Jubel aus. Rund 3900 Menschen sind nach Neumünster in die Holstenhalle gekommen. Die meisten mutmaßlich seinetwegen, eher weniger wegen des Schleswig-Holstein Festival Orchestra oder der anderen Mitwirkenden oder gar um des Mehrzweckambientes willen. Den chinesischen Pianisten lieben sie, das ist vom ersten Moment an zu spüren.

Und wie das so ist mit wahrer Liebe, sie überdauert auch schlechte Zeiten. Seinen internationalen Karrieredurchbruch hatte Lang Lang als Einspringer mit zarten 17 Jahren, übrigens unter der Leitung von Festival-Urgestein Christoph Eschenbach, und häufte danach an Ruhm und Ehrungen auf, was nur ging, gerne auch in fernsehtauglichem XXL-Format. Sein Markenzeichen: die Fähigkeit, maximal viele Noten in möglichst kurzer Zeit unterzubringen, gepaart mit einem natürlichen Showtalent. Eine Sehnenscheidenentzündung zwang ihn zu einer einjährigen Pause. Er kam zurück, zunächst mit weniger voluminösem Repertoire. Bach, Mozart, solche Sachen. Seit seinem Comeback ist er vielleicht nicht mehr ganz so allgegenwärtig. Aber richtige Fans beweisen Treue.

Lang Lang beim SHMF: Der Tastenlöwe beglückt sein Publikum mit Saint-Saëns trotz Störmomenten

Lang Lang gibt ihnen an diesem Abend Zucker, na klar. Das zweite Klavierkonzert von Camille Saint-Saëns passt zu seiner Tastenlöwen-DNA: Die Solopartie ist vollgriffig und hochvirtuos, eng verwoben mit dem Orchesterpart. Man bekommt also viel Musik fürs Geld. Und immer wieder auch: Musik mit Tiefe und Nachdenklichkeit. In den ruhig fließenden, weit ausgreifenden Gesten hält Lang Lang mitunter die Zeit an. Doch dann sind da diese kleinen Störmomente. Ein Spitzenton, der etwas zu scharf heraussticht. Im Mittelsatz Allegro scherzando kontrastiert der Solist den Elfentanz des Orchesters mit einem Forte-Ausbruch. Ja, dramatische Kontraste gehören zu dem Konzert, aber dieser ist von einer klanglichen Rohheit, wie sie für die moderne Tonsprache eines Strawinsky angebracht wäre. Saint-Saëns aber war Romantiker, und er war Franzose. Da geht es nicht ohne diese grundlegende Höflichkeit jedem einzelnen Ton gegenüber.

Die Interpretation mag nicht aus einem Guss sein. Was für die Menschen zählt, ist etwas anderes: Lang Lang ist ganz da. Er wirkt authentisch, nahbar, guter Laune. Er versenkt sich in die Musik. Manchem mögen die Hände am Ende einer Passage allzu hoch in die Luft über der Tastatur fliegen, der Oberkörper allzu theatralisch nach hinten geworfen werden. Aber so kennt und liebt das Publikum seinen Lang Lang. Dafür ist es gekommen.

Ion Marins Dirigat bietet oft wenig Orientierung

Das Programm eignet sich prima als Werbung für das Album, das er im Frühjahr bei der Deutschen Grammophon herausgebracht hat – da ist nämlich ganz viel Saint-Saëns drauf. Ja, erraten, auch der unvermeidliche „Karneval der Tiere“. Und was ist wiederum die Hochburg schlechthin des Karnevals? Nein, nicht Marne in Dithmarschen, wie eine Besucherin dem SHMF-Intendanten Christian Kuhnt bei der Begrüßung auf ebendiese Frage antwortet. Sondern, wieder erraten, Venedig. Die Stadt, der das Festival seinen diesjährigen Schwerpunkt gewidmet hat. Also gibt es rund um das Klavierkonzert lauter klassische Karnevalsmusik.

Antonín Dvořáks Konzertouvertüre „Karneval“ hat die undankbare Aufgabe, den Abend zu eröffnen. Da müssen sich die Ohren erst mal schmerzlich mit der Akustik arrangieren. Das Stück scheint in dem Raum hauptsächlich aus Pauke und Kontrabässen zu bestehen, so übersteuert sind die tiefen Lagen. Von den spritzigen Passagen der hohen Streicher ist kaum etwas zu hören, und das Wenige klingt oft verwischt. Der Dirigent Ion Marin schlägt in großen, weichen Gesten, was in dem bewegten, wechselhaften musikalischen Geschehen wenig Orientierung bietet. Allzu oft fallen die Läufe der Holzbläser und die Akkorde der Blechbläser auseinander, passt das filigrane Begleitwerk der Bratschen nicht zur Melodie.

SHMF: Lang Lang ist ganz da – authentisch, nahbar, guter Laune

Nach der Pause, bei der Ouvertüre „Le Carnaval Romain“ von Hector Berlioz, haben sich die Beteiligten mehr zusammengefunden und die Ohren mehr eingewöhnt. Da bekommt man eine Ahnung von den vielen unterschiedlichen Charakteren, die Berlioz auf kleinstem Raum vorstellt, von den knackigen Saltarello-Tanzrhythmen bis zu dem sonderbar introvertierten Cameo-Auftritt des Renaissancekünstlers Benvenuto Cellini in Gestalt eines Englischhorn-Solos.

Lang Lang SHMZ
Für „Karneval der Tiere“ von Saint-Saëns kommen die Pianistin Gina Alice und der Rezitator Axel Milberg dazu. © Daniel Friedrichs | Daniel Friedrichs

Am Schluss steht natürlich, worauf alle schon den ganzen Abend gewartet haben: besagter „Karneval der Tiere“ von Saint-Saëns. Das Schleswig-Holstein Festival Orchestra ist nur noch in reduzierter Besetzung dabei, dafür übernimmt Lang Langs Frau Gina Alice das zweite Klavier. Axel Milberg rezitiert Texte von Peter Ustinov, die die musikalisch-satirischen Tierzeichnungen zu einem Erzählbogen zusammenfassen: ein Tag im Urwald, mit brüllenden Löwen und schmarotzenden Kuckucken.

Das britische Allroundtalent ist unvergessen ob seiner Bühnen- und Leinwandpräsenz und seines schrägen Witzes. Aber rund 20 Jahre nach Ustinovs Tod wirken die Texte etwas abgestanden; aus heutiger Sicht hilft der Autor den Pointen etwas zu sehr nach. Oder liegt es an Milbergs Rezitation?

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Egal. Der „Karneval der Tiere“ funktioniert von ganz allein. Da macht es nichts, dass die Klaviere nicht immer perfekt zusammen sind. Das Orchester ist sowieso unterfordert. Kurz vor Schluss spielt der junge Solocellist, begleitet von Lang Lang und Gina Alice, einen sehr innigen, klangvoll und zugleich zart gestalteten „Schwan“. Entfesselter Schlussapplaus, zwei Zugaben von Lang Lang. Und glückstrahlende Gesichter.