Hamburg. Der Pop-Visionär spannt bei seinem Konzert in der Barclays Arena einen weiten Bogen – und wird mit heftigem Jubel verabschiedet.
Draußen, an diesem sommerlichen Hamburger Abend, arbeitet sich der Mond gerade sichelförmig seinem Aufgang entgegen. Doch drinnen in der Barclays Arena, da prangt der Erdtrabant bereits riesengroß und strahlend über der Bühne. Peter Gabriel, der große Visionär, ist das erste Mal seit neun Jahren, wieder auf Europa-Tour. Und seine nahezu ausverkaufte Show in Hamburg beginnt mit einer wuchtigen und zugleich intimen Szenerie: Denn unter der beeindruckenden Mond-Projektion hockt der 73-Jährige an einer orange funkelnden und tatsächlich rauchenden Lagerfeuer-Installation und stimmt am Keyboard eine deutsche Version seines frühen Solohits „Here Comes The Flood“ an.
Bassist Tony Levin begleitet ihn bei dieser getragenen Nummer, in der Gabriel sich ausmalt, dass sich die Gedanken anderer wie Radiowellen übertragen ließen. Eine mentale Flut sozusagen. Und somit verdichten sich in dem Song zum Auftakt des Konzerts bereits die starken Leidenschaften des Künstlers. Seine Begeisterung für Technik, die sich zunehmend in multimediale Welten ausweitet. Und seine Faszination für Utopien. Dafür, Vernetzungen zu schaffen.
Wie viele Menschen der Brite mit seiner Musik seit Jahrzehnten begleitet und verbunden hat, das lässt sich beim Blick ins Publikum unschwer erkennen. Die Körper mögen mitgealtert sein und die Schläfen ergraut. Doch die Blicke sind neugierig, voller Freude und immer wieder auch ein wenig nostalgisch verklärt. Über Brust und Bauch spannt hier und da nicht nur ein Peter-Gabriel-Shirt, sondern auch Fan-Ware seiner alten und nach wie vor ikonisch verehrten Prog-Rock-Band Genesis.
Peter Gabriel verlässt sich in Hamburg nicht auf sein Greatest-Hits-Programm
Wie wegweisend und einflussreich sein Schaffen ist, zeigt sich unter anderem daran, dass bei seinem Köln-Konzert vergangenen Sonnabend niemand Geringeres als Bruce Springsteen im Publikum gesichtet wurde. Fans sind eben Fans. Ob sie nun aus New Jersey anreisen oder aus Niedersachsen.
Allerdings ist Gabriel keiner, der sich damit begnügt, mit einem Greatest-Hits-Programm die Sahne von früheren Erfolgen abzuschöpfen. Rund die Hälfte der 22 Songs in diesen fast drei Konzertstunden stammen von seinem kommenden zehnten Soloalbum „i/o“, das auch die aktuelle Tour betitelt. Und zu dem er seit Januar dieses Jahres an jedem Vollmond eine neue Single veröffentlicht. Ein Mann mit monatlichem Zyklus also. Und mit Sinn für Humor.
Auf der Bühne stehe schlichtweg ein Avatar seiner selbst, also ein virtueller Stellvertreter, erzählt Gabriel zu Anfang. Der wirkliche Peter, der faulenze gerade am Strand in der Karibik. Zuzutrauen wäre es ihm bei all seiner Liebe zu Innovation und Digitalem. Und so ist es auch nur logisch und konsequent, dass sich sein Set von der Lagerfeuer-Romantik hin zu einer vielschichtigen Oppulenz entwickelt.
Peter Gabriel – ein dynamisches Gesamtkunstwerk
Zu Beginn sitzt Gabriel mit seiner exzellent aufspielenden siebenköpfigen Band noch einträchtig im Rund und intoniert eine akustische archaisch-rhythmische Variante seiner Nummer „Growing Up“. Doch dann wird der Sound elektronischer, einnehmender, epischer. Von funky bis poppig, von rockig gewitternd bis jazzig. Immer in Spannung gehalten von Gabriels eindringlicher und wirklich kräftiger Stimme, die stets mahnend und weise klingt, tief empfunden und mitunter auch so, als singe er gerade in einem weit entfernten Universum und nicht im Altonaer Volkspark.
Mal sitzt er innerlich am Keyboard, mal läuft er raumgreifend mit ausladenden Gesten über die Bühne. Ein dynamisches Gesamtkunstwerk. Auch weil Künstler wie Ai Weiwei und Cornelia Parker Videos und Animationen zu Gabriels Show beigesteuert haben. Minimalistische Skizzen in Schwarz-Weiß erscheinen auf den Leinwänden oder auch bunte Pop-Art-Strudel. Bei dem druckvollen „Digging in the Dirt“ von 1992 verwesen Früchte im Zeitraffer. Existenz, Reife, Zerfall. Und dazwischen die Kunst. Der Sinn. Die Schönheit.
Nicht nur musikalisch, auch in seinen Ansagen spannt Gabriel den Bogen immer wieder weit: Er warnt vor Klimawandel und spricht von künstlicher Intelligenz, erinnert aber auch an seine gestorbene Mutter, der er den Song „And Still“ widmet. Nicht alle neuen und teils unbekannten Nummenr verfangen so wie die alten Hits. Mitunter lässt sich da im Publikum eher ein Hineinlauschen mit hoher Konzentration, ein Suchen und Finden feststellen bei diesen atmosphärisch dichten Kompositionen.
Hamburg verabschiedet Peter Gabriel mit heftigem Jubel
Doch wenn dann am Ende der ersten Konzerthälfte der kantige „Sledgehammer“ ertönt und zum Abschluss des zweiten Sets das euphorische „Solsbury Hill“, dann werden da im Gedächtnis des Körpers sofort schönste Erinnerungen abgerufen: Schulfeten und Partykeller, tanzen und sich zeitlos jung fühlen. „My heart going boom boom boom“, singt Gabriel mit Verve und verstärkt von der Menge.
Und das Publikum ist da längst auf den Beinen. Ein emotionaler Höhepunkt ist auch „Don’t Give Up“, bei dem Cellistin Ayanna Witter-Johnson die gesangliche Rolle von Kate Bush übernimmt. Ein zartes Ziehen, ein bewegendes Duett, das sich zum Gospel steigert. Und ganz zum Schluss gibt Gabriel als Zugabe den Protestsong „Biko“ – gewidmet dem südafrikanischen Anti-Apartheid-Aktivisten Steve Biko, der 1977 in Polizeigewahrsam ermordet wurde.
Eine starke Mahnung, dass Ungleichheit und Diskriminierung auch Jahrzehnte später noch aktuell sind. Gabriel hebt die Faust. Mit heftigem Jubel wird er in die Nacht verabschiedet. Draußen ist der Mond immer noch nicht aufgegangen. Aber das innere Leuchten hält an.