Hamburg. Das Festival macht den Wilhelmsburger Uferpark mit 23 neuen Arbeiten zu einer der größten Freiluft-Schauen im Norden.

Das „Motel“ hat dünne Wände. Die Gruppe Bassbotanik hat die Bretterbude eigentlich für das Electro-Festival „Fusion“ gebaut, mittlerweile steht sie allerdings am Wilhelmsburger Reiherstiegknie, in einer versteckten Ecke des Kunstparcours MS Artville, der am Sonnabend mit dem traditionellen „Richtfest“ eröffnet wurde. Man kann sich für jeweils eine halbe Stunde in ein Zimmer einmieten, in dem, so die Ankündigung, „alles passieren“ könne.

Im konkreten Fall passiert aber erst mal – gar nichts. Der Journalist sitzt als Be­sucher im „Spiegelzimmer“, einem winzigen, mit Glitzerfolie tapezierten Raum, in dessen Mitte ein glassargähnliches Gebilde steht. Und wartet. Aus den Nebenzimmern hört man Kreischen, Kichern, irgendetwas wummert gegen die Wände, nach einiger Zeit öffnet sich eine Durchreiche, und man wird gefragt, ob man einen Wunsch habe. Und dann bewegt sich etwas: Eine Frau kriecht durch das Objekt, gibt Zeichen, lacht. Und verschwindet wieder. Schließlich wird das „Spiegelzimmer“ eingenebelt, und der Kurzurlaub ist vorbei. Die Geister im Motel waren harmlos, zumindest diesmal.

MS Artville: Ältere Arbeiten verändern sich

Das MS Artville ist der Bildende-Kunst-Bereich des jährlichen Festivalsommers im Wilhelmsburger Uferpark, der am vorangegangenen Wochenende mit der Electro-Party Habitat begann und vom 19. bis 21. August mit dem Indiepop-Festival MS Dockville seinen Höhepunkt finden wird. Im Laufe der Jahre hat sich einiges an Kunst auf dem Gelände angesammelt. Meist popkulturnahe Exponate wie Street-Art, Skulpturen, Installationen, am Ende des aktuellen Durchgangs werden 23 neue Arbeiten dazugekommen sein – eine der größten Open-Air-Ausstellungen Norddeutschlands, die in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden will.

Bei den stündlich stattfindenden Führungen entdeckt man, wie ältere Arbeiten sich verändern, wie Witterung und Natur Einfluss auf die Kunst nehmen wie manches recy­celt wird: Bosso Fatakas Objekt „Tomorrow is broken“ wurde aus einem alten Kunstwerk gezimmert, ein riesiger Holzkopf, den Thomas Dambo vor Jahren auf eine Wiese gestellt hat, ist mittlerweile fast völlig von einem Busch überwuchert, ein Containergebäude namens „YesWeCanCan“, in dem früher eine Bar untergebracht war, ist heute ein improvisiertes
Kino, in dem die Kunst-Doku „Eiffe for President“ läuft.

MS Artville: Kunst hat an Bedeutung gewonnen

Überhaupt wirkt die diesjährige Art­ville-Ausgabe, als ob die Kunst an Bedeutung gewonnen wäre. Natürlich erinnert das Gelände mehr an einen avanciert gestalteten Abenteuerspielplatz als an eine Ausstellung, natürlich gibt es weiterhin Party-Formate, natürlich ist das Richtfest zumindest am späteren Abend mehr Fest als Ästhetik – aber alles in allem geht es hier nicht um bloßes Feiern, sondern um ernsthafte Auseinandersetzung mit Kunst. Es passt, dass die ehemalige Bar mittlerweile zum Kunstkino geworden ist, es passt auch, dass die Werke angefangen haben, miteinander in Dialog zu treten.

Auch das „Spiegel­zimmer“ im Motel von Bassbotanik ist neu auf dem Artville-Gelände zu erleben.
Auch das „Spiegel­zimmer“ im Motel von Bassbotanik ist neu auf dem Artville-Gelände zu erleben. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Unbekannt

Etwa bei Kascha Beyer, die in liebevoller Kleinarbeit das Artville-Panorama gedrechselt und so eine auch satirisch lesbare Puppenstube des Kunstparty-Kosmos gebaut hat. Oder Dennis Rudolph, der eine Bronzeskulptur namens „Techne_1“ auf eine Wiese gestellt hat, die zunächst konventionell wirkt, dann mithilfe einer Smartphone-App namens „KIKathedrale“ aber zum Leben erweckt wird und das Artville-Gelände mit algorithmisch erzeugten Schönheitsklischees flutet.

Viele Arbeiten würden öffentlich funktionieren

Kunst im öffentlichen Raum ist das nicht, zumindest nicht im eigentlichen Sinn – der Raum MS Artville ist nicht öffentlich, der Zutritt wird kontrolliert. Aber die Ausstellung übernimmt immer wieder Formen, die auch öffentlich funktionieren würden, eine gleichzeitig organisch wie künstlich wirkende Igelfigur von Simone Kesting etwa. Oder die großformatigen Wandtexte von Marion Reidt. Oder die Stencils des Wilhelmsburger Künstlers Frittenfreddie, die nach und nach das gesamte Gelände überwuchern.

Eine Kombination aus Objekt und digitaler Kunst: Mithilfe einer App verwandelt sich der Kopf auf dem Bildschirm in einen davonfliegenden Engel.
Eine Kombination aus Objekt und digitaler Kunst: Mithilfe einer App verwandelt sich der Kopf auf dem Bildschirm in einen davonfliegenden Engel. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Unbekannt

Bei anderen Arbeiten hat man das Gefühl, dass sie sich nach dem Museumsraum sehnen – Anja Scheffler-Rehses Installationen etwa, die in einem zum White-
Cube-Dorf angewachsenen Ausstellungsbereich direkt am Eingang untergebracht sind. Oder die Videoinstallation „Malt Disney World“, die in dem mobilen Ausstellungsraum „ZW°70“ präsentiert wird, der eigentlich eine improvisierte Blackbox darstellt.

Das MS Artville schillert zwischen Kunst und Party

Auf eine gewisse Weise schillert das
Artville – zwischen Kunst und Party, zwischen außen und innen, zwischen Subversion und Affirmation. Mag sein, dass die Veranstaltung ein wenig ächzt unter diesem weit gespreizten Anspruch, aber ästhetisch lässt sich dieses Ächzen durchaus gewinnbringend beobachten.

Und vielleicht bringt eine Seitenlinie des Richtfestes diesen ästhetischen Genuss auf den Punkt: Bei einer vielleicht etwas hochtrabend „Symposium“ bezeichneten Gesprächsreihe namens „The Art Of Protest“ spricht neben Diskursspezialisten wie Arne Vogelgesang und dem Zentrum für Politische Schönheit auch Wanja Neite von der Hamburger Immersionstheatergruppe SV Szlachta. Als er die Inszenierung „Das Revier“ beschreibt, die die Gruppe im Frühjahr auf dem Hansaplatz realisierte, wird klar, dass es gar nicht in erster Linie um Kunst geht, sondern um die Gestaltung von Räumen. „Wie kann man sich einen öffentlichen Raum auf immersive Weise aneignen?“, fragt Neite, „wie kann man sich da reinzecken?“

MS Artville: Arbeiten gewinnen an Bedeutung

Vielleicht ist das gar kein schlechtes Ziel für das MS Artville: Kunst zu entwickeln, die sich in den vorgegebenen Raum „Festival“ reinzeckt. Angesichts der spaßgetriebenen Festivalgesellschaft bekommen konsumkritische Arbeiten wie Simon Freunds „Supreme“ oder die subversive Merchandising-Automat „Illomat“ des Street-Art-Kollektivs Ill hier jedenfalls plötzlich eine ganz neue Bedeutung.

Auch interessant

Auch interessant

Dass man sich dabei allerdings auch dem Spaß der Ausstellung hingeben kann, dass man sich durch die fröhliche Kunstpartystimmung treiben lassen kann, dass man sich nicht zuletzt im „Motel“ kontemplativ vor Geistern (die im Zweifel gar nicht auftauchen) gruseln darf, versteht sich von selbst.

MS Artville bis 7.8., jew, Do–So, Uferpark Wilhelmsburg/Reiherstieg-Hauptdeich, diverse Programmpunkte mit unterschiedlichen Veranstaltungszeiten und Eintrittspreisen; Infos unter: www.msartville.de