Takis Würger schreibt in„Noah. Von einem, der überlebte“ von der Shoah. Ein wichtiges Buch: Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen.
Die Geschichte ist so gut, sie muss erzählt werden. Sie ist so wichtig und essenziell, so niederschmetternd und, das notwendigerweise, lehrreich. Für immer und ewig. Deshalb erzählte Noah Klieger, der ehemalige israelische Sportreporter, sie wieder und wieder, sehr oft vor Schulkassen. Wie er, der in Straßburg geborene Junge in Belgien dabei half, jüdische Kinder vor den Nazis zu retten. Wie er dann selbst den Mördern ins Netz ging, nach Auschwitz kam, dort als Nichtboxer Mitglied der Boxstaffel wurde und Josef Mengele traf. An der Rampe, jenem Kristallisationspunkt deutscher Schande.
Mengele wollte den jungen Noah schon in den Tod sortieren. Aber weil der zähe Teenager nicht ins Gas gehen wollte, sprach er den „Todesengel von Auschwitz“, der so zynisch und bestialisch medizinische Experimente mit Todgeweihten durchführte, mit dem Mut der Verzweiflung an.
Takis Würger: „Noah. Von einem, der überlebte“
„Herr Oberstabsarzt, ich kann noch hart arbeiten. Ich bitte darum, dass ich noch ein wenig im Lager leben darf“, sagte Noah Klieger also in Richtung des Monsters. Und fügte an, dass sein Vater ein berühmter Autor aus Straßburg sei; dabei hatte dieser Vater in Wirklichkeit lediglich eine Novelle geschrieben. „Ein nackter Junge ohne Haare, 42 Kilogramm schwer, stand vor einem Oberstabsarzt der Waffen-SS und verhandelte sein Leben“, schreibt Takis Würger in seinem neuen Buch „Noah. Von einem, der überlebte“.
Das ist allerbeste Reportagen-Nachdrücklichkeit, das ist dramatisch und die ultimative erzählerische Zuspitzung. Weil es in der Wirklichkeit die ultimative existenzielle Zuspitzung war.
Noah Klieger an Bord der „Exodus“
Was für eine Szene! Man liest sie gebannt, so wie anschließend dann auch die nächsten Kapitel im hochtourigen, immer gefährdeten Leben des Noah Klieger. Nach den Lagern und dem Todesmarsch war er an Bord der „Exodus“, dem berühmten Auswandererschiff, das 1947 illegalerweise auf dem Weg nach Palästina war und von britischen Soldaten eingenommen wurde. Einmal landete er auf dieser Überfahrt nach einem Sprung im Meer. Auch das überlebte Noah Klieger.
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Seine Geschichte ist eine Heldengeschichte, so unwahrscheinlich, wie die meisten Geschichten von Überlebenden es waren, als Hitler-Deutschland all jene Menschen umbringen wollte, die es es als nichtlebenswert klassifiziert hatte. Ende 2018 starb Noah Klieger, und nun erscheint dieses Buch, das sein Vermächtnis ist. Aber wer hat es denn nun geschrieben? Auf dem Einband ist Takis Würger, der Schriftsteller („Der Club“, „Stella“) und „Spiegel“-Journalist, als Autor vermerkt, aber schon auf der ersten Seite im Buch steht über seinem Namen noch der von Klieger.
Klieger erzählte Würger Tel Aviv seine Geschichte
Des Rätsels Lösung wird im Nachwort verraten. Zweieinhalb Monate traf Würger, der 35 Jahre alt ist, auf den 1925 geborenen Klieger im Frühjahr 2018 in Tel Aviv. Der erzählte dem jungen Deutschen seine Geschichte, worauf dieser sie in einem knapp 150 Seiten langen Text als spannende Überlebensgeschichte arrangierte. Sie kommt daher als dramatischer Bericht mit viel Dialog und wenig Bewertung: Der Erzähler tritt meist ganz hinter das Geschehen zurück. Es könnte sein, dass Klieger manchmal von seinem Leben so ähnlich selbst erzählt hat.
Als Roman ist dieses Buch nicht ausgewiesen. Es ist ein Fall von Oral History. Ein Zeitzeuge erzählt, wie es gewesen ist. Auffällig ist, wie akkurat Würger („Dieses Buch ist Noahs Buch. Dies ist Noahs Geschichte. Er war dabei. Er hat mich gebeten, das Zeugnis seines Lebens festzuhalten. Seine Erinnerung. Das habe ich versucht“) sein Projekt in einen gesellschaftlichen und historischen Diskurs einzubetten sucht.
Romanhafte Momente in Zeitzeugenbericht
Auf sein Nachwort folgen die Einlassungen von Kliegers Nichte und die einer Historikerin, die einigermaßen hölzern, weil wissenschaftlich über die Shoah-Erinnerungskultur schreibt. Dabei benennt sie den wichtigen Impuls, den persönliche Geschichten wie diejenige Kliegers ausüben – sie führen „den Holocaust aus dem Reich des Mythischen in die Realität“.
Takis Würger selbst weist auf das Romanhafte hin, das ein Überlebender wie Noah Klieger möglicherweise seinen Erlebnissen gab. Kann es wirklich sein, dass er in Auschwitz auf Mengele traf? Ist das eigentlich wichtig?
Kritik an Würgers letztem Buch
Man ist auch jenseits solcher Fragen – Würger vertraute, wie er schreibt, im Übrigen auf Kliegers Gedächtnis, es sei „klar und scharf“ gewesen – geneigt zu glauben, dass der Anhang des Erzählwerks dafür da ist, den Autor diesmal vor Unheil zu bewahren. Soll bloß niemand annehmen, Würger habe eine Lebensgeschichte ausgeschlachtet, um einen Bestseller zu schreiben!
Das letzte Buch Würgers war genau dies, ein ziemlicher Publikumserfolg: „Stella“ erzählte die Geschichte der jüdischen Nazi-Kollaborateurin Stella Goldschlag. Für dieses unverdrossen und geschmeidig erzählte Buch bekam Würger aber auch die Hucke voll. Vielen schmeckte die Aura des Unterhaltsamen nicht. Dabei gilt für „Stella“ das, was für „Noah“ noch ungleich mehr gilt.
„Noah. Von einem, der überlebte“ – eine Mahnung
In beiden Büchern werden nicht allein Geschichten, es wird auch Geschichte erzählt. Selbst wenn es ästhetische Mängel gibt, heiligt der Zweck in diesem Fall durchaus die Mittel. Mit „Noah“ erreicht man die jungen Leserinnen und Leser, die Primo Levi oder Imre Kertész unter Umständen eben nicht lesen.
Noah Klieger („Ich will, dass Menschen hören oder lesen, was passiert ist“) war einer der letzten Zeitzeugen, die ihre Geschichten noch erzählen konnten. Allein deswegen ist „Noah. Von einem, der überlebte“ ein wichtiges Buch. Es füllt künftig eine Leerstelle, es hält das Entsetzliche lebendig. Es ist eine Mahnung.