Hamburg. Wird dies sein siebtes Nummer-eins-Album? Unter dem Projektnamen Schiller hat Christopher von Deylen „Summer In Berlin“ veröffentlicht.

Wer sich die komplette Super-Deluxe-Edition des neuen Schiller-Albums „Summer In Berlin“ anhört, hat nicht mehr viel vom Tag: Insgesamt acht Stunden umfasst das Material: die 14 neuen Kompositionen mit den Gästen Alphaville und Thorsten Quaeschning (Tangerine Dream) sowie ein 2019er Livemitschnitt und ein Streamingkonzert. Uff. Ein wenig Zeit blieb aber noch für ein Telefonat mit Deutschlands erfolgreichstem Ambient-Electro-Komponisten Christopher von Deylen (sechs Nummer-eins-Alben!), der sein Projekt Schiller 1998 in einer Studentenbude in Barmbek-Süd erfand, weiter nach Berlin zog und von dort aus die ganze Welt bereiste. Wohin es ihn während der Pandemie verschlagen hat? An einen Ort nicht allzu fern von Hamburg.

Hamburger Abendblatt: Als wir 2017 zuletzt gesprochen haben, lebten Sie bereits seit drei Jahren ohne festen Wohnsitz aus zwei Koffern und einer Technikkiste in Hotels, bei Freunden oder im Tourbus. Jetzt sind Sie offensichtlich wieder bei Ihrem Startpunkt, also Berlin, angekommen ...

Christopher von Deylen: Das stimmt nur zum Teil, ich wohne derzeit nach wie vor nicht in Berlin, sondern in der Gegend, wo ich aufgewachsen bin: im Dreieck zwischen Hamburg, Bremen und Hannover. Als Kleinstadtjunge hatte ich einst das Ziel, möglichst schnell die Welt zu erobern und in die große Stadt zu gehen im Glauben, dass da alles besser ist.

Ihr neues Album heißt „Summer In Berlin“. Sie hatten vor drei Jahren gesagt, dass das Thema Großstadt auserzählt ist.

Von Deylen: Vorerst, ja. Aber wenn man Großstädte eine Weile aus der Ferne betrachtet hat und kurzzeitig wieder dort war, bevor es wieder in die Natur ging, lernt man Widersprüche und Kontraste zu schätzen. Distanz schafft Nähe.

Aber ist nicht besonders Berlin als Inspiration abgefrühstückt?

Von Deylen: Das dachte ich. Sämtliche Kulturaspekte waren so omnipräsent, dass man im Prinzip der Ansicht war: Egal, was man macht, Hauptsache die Postleitzahl fängt mit 1 an. Dann kannst du Bücher schreiben, Filme machen, Bilder malen oder Musik komponieren; noch ein Foto vor dem Fernsehturm und fertig ist die große Kunst. Und das schafft dann so eine Berlinblase, zu der ich mittlerweile nicht mehr so gerne gehören möchte (lacht). Aber das gilt für jeden Ort der Welt, wenn sich ein Alltag und eine Normalität einstellen, die den Blick für die Ursprünge verstellen, für die man die Stadt wertgeschätzt hat.

Ich warte immer noch auf eine TV-Serie, die in Berlin spielt und ohne Tanz-Exzesse und Kokain auskommt. Ob „Babylon Berlin“ oder „4 Blocks“: Immer volle Dröhnung.

Von Deylen: Es wird sehr oft das Berlin von 1990 bis 1999 zitiert, aber da gibt es noch viele andere interessante Epochen und Aspekte, die diese Stadt zu bieten hat, abgesehen von Techno und Stroboskop-Licht.

Ihr Album ist zwar auch mal treibend und unruhig, aber auch schwelgerisch, verträumt, zeit- und uferlos und im positiven Sinne einsam. Eher Februar als Sommer.

Von Deylen: Mein Wunsch, musikalisch eine inhaltliche Aussage zu treffen, ist ja eher überschaubar…

Der erste Track ist 20 Minuten lang! Das ist doch nicht überschaubar, sondern ein Mini-Universum an Stimmungen und klanggemalten Bildern, die ja auch Songtitel wie „Die Nacht erwacht“ oder „Menschen im Hotel“ heraufbeschwören.

Von Deylen: Ich bin noch auf der Meta-Ebene (lacht). Ich freue mich, wenn beim Anhören wie bei einem Filmsoundtrack Bilder und Träume entstehen, aber ich habe nicht das Ziel, bestimmte Gefühle auszulösen, das ist kein Konzeptalbum. Man soll sich nicht nach Berlin oder in eine andere Stadt versetzen lassen, sondern einfach nur 20 Minuten lang dem Alltag entfliehen. Mehr Mut zum Eskapismus!

Worauf bezieht sich die Komposition „Menschen im Hotel“, auf Beobachtungen während Ihrer Wanderjahre?

Von Deylen: Es gibt einen Film aus dem Jahr 1959, der so heißt. Mit Gert Fröbe, Heinz Rühmann, O.W. Fischer und Sonja Ziemann, die Crème de la Crème des Nachkriegskinos. Ich suchte einen Titel für meinen Track, stieß auf eine Filmbeschreibung von „Menschen im Hotel“ und das passte irgendwie. Begegnungen, Geheimnisse, Einsamkeit, Warten, ein Hotel ist wie eine Großstadt. Flughafen-Hotels sind noch eine andere Geschichte, weil da niemand freiwillig ist, sondern gestrandet oder auf der Durchreise. Manchmal besuche ich Flughafenhotels einfach so, setzte mich in die Lobby und spüre diese ganz eigentümliche Atmosphäre.

Haben Sie den Film denn gesehen?

Von Deylen: Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen. Merkwürdig, oder? Aber ich habe mich noch nicht getraut, weil ich befürchte, dass es das Lied entzaubern könnte.

„Summer In Berlin“ ist auch ein Song von Alphaville, der auf ihrem Album auch zitiert wird. Zählen die Synthie-Pop-Helden neben den Elektro-Ambient-Pionieren Tangerine Dream zu Ihren großen Vorbildern?

Von Deylen: Ganz klar. Ich bin musikalisch mit diesen zwei extrem unterschiedlichen, aber doch verwandten Richtungen sozialisiert worden. Und das zieht sich nach wie vor durch mein musikalisches Empfinden. Ob als Kind oder Teenager oder jetzt, für mich ist diese Musik „Forever Young“. Und „Summer In Berlin“ hatte es mir seinerzeit besonders angetan. In der norddeutschen Provinz war Berlin schon weite Welt mit der Zonengrenze und der Transit-Autobahn. Fernweh royal. Allerdings habe ich das Lied tatsächlich irgendwann vergessen. Vergangenes Jahr suchte ich nach einem Albumtitel und da ich in das Box-Set Live-Aufnahmen aus Berlin im Sommer 2019 packen wollte, fiel es mir wieder ein: „Summer In Berlin“, da war doch was …?

Haben Sie für Ihr neues Album mit Alphaville zusammengearbeitet?

Von Deylen: Wir haben das in sehr enger Abstimmung gemacht. Ich habe einen Vorschlag gemacht, wie ich „Summer In Berlin“ heute empfinde, und wir haben uns Ideen hin- und hergeschickt. Dabei war ich wahnsinnig vorsichtig. Eine Coverversion, oder eher ein Rework, erfordert extremen Respekt, und Gottseidank war auch Alphaville am Ende nicht nur zufrieden, sondern sogar glücklich.

Was auf dem Album zu hören ist, bildet aber die Stadt oder die Welt vor 2020 ab?

Von Deylen: Sie sprechen den Grund an, warum wir gerade telefonieren müssen… Gute Frage. Ich weiß nicht, wie das Album klänge, wenn 2020 anders verlaufen wäre. Vielleicht hätte es „Summer In Berlin“ nie gegeben. Ich versuche immer, mein Gehirn an der Studiotür abzulegen, das ist nicht immer leicht, das gebe ich zu. Aber der beste Plan ist, keinen zu haben.

Wenn wir alle diese Corona-Zeit durchgestanden haben, packen Sie dann wieder Ihre Koffer? Und was wäre Ihr Sehnsuchtsort?

Von Deylen: Ich habe 2019 eine ausgedehnte Autofahrt von Irkutsk über Wladiwostok nach Tokio gemacht, das würde ich gern noch einmal erleben. Ich werde derzeit oft gefragt: „Herr Schiller, für Sie als Reisenden muss doch gerade alles ganz schwierig sein, wie machen Sie das denn?“ Aber das kommt mir überhaupt nicht in den Sinn. Der Selbsterhaltungstrieb siegt über die Sehnsucht nach Flughafenhotels. Es ist derzeit wie vor einem Open-Air-Konzert wenn es regnet. Es geht dann eben einfach nicht. Das kann man bedauern oder versuchen, mit negativer Energie zu bekämpfen. Aber der Regen lässt sich davon nicht beeindrucken.

Sie werden tatsächlich als „Schiller“ angesprochen?

Von Deylen: Es ist nur zweimal in 20 Jahren vorgekommen. Aber immerhin als: Herr Schiller.