Hamburg. Von Wilhelmsburg aus betreibt Velvet Bein sein umtriebiges Plattenlabel La Pochette Surprise. Ein Hausbesuch.
„Hey, Marcelo, du fährst keinen Nightliner.“ Der Parkplatz, den der Abendblatt-Fotograf mit seinem Mini ansteuert, ist für Tourbusse reserviert und gehört zu einer Probebühne auf einem Gewerbehof in Wilhelmsburg, wo sich bereits Jan Delay, Die Toten Hosen und Deine Freunde für ihre Konzerte warmspielten. Ein paar Meter weiter in einem Raum, in den der Mini gerade noch passen würde, sind die Namen kleiner, aber die Musik ist nicht weniger laut: Swutscher, Melting Palms, Suck, Hawel/McPhail, Bikini Beach oder Die Cigaretten steht auf den Schallplattenhüllen im Regal in der Raummitte.
Drumherum: Verstärker, Kartons, Tische mit grauverschleierten Aschenbechern – und Velvet Bein, Musiker und Betreiber der Indie-Plattenfirma La Pochette Surprise Records. Willkommen in einer Wundertüte des Hamburger Rock-Untergrunds.
Erstes Album entstand in einem Bauwagen in Brunsbek
Velvet Bein, vor 32 Jahren in Wedel von seinen musikbegeisterten Eltern nach der legendären Band Velvet Underground benannt, ist seit vier Monaten dabei, sich im Lager der Veranstaltungstechnik-Firma Elbdeich 23 neu einzurichten. An der Decke hängen noch Konzertscheinwerfer, aber bald sollen hier Büro und Lager seines vor drei Jahren gegründeten Labels sowie ein mit Elbdeich 23 aufgebautes Tonstudio vereint sein.
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Er braucht schlicht mehr Platz, weil sein als Einmann-Betrieb gestartetes Label immer größer geworden ist. Zwar kommt Bein auch auf engstem Raum gut zurecht – das erste Album seiner Band Swutscher entstand in einem Bauwagen in Brunsbek –, aber La Pochette Surprise wächst und wächst nach eher zarten Anfangstagen.
Kassetten von Hand überspielen, Hüllen ausdrucken
„2013 wollte ich mit den Sick Hyenas ein Tape herausbringen, aber wir hatten keine Plattenfirma. Und es sieht ja blöd aus, wenn kein Label auf der Kassette steht. Also machten wir unser eigenes Ding. Mit der Band Dolphin Lovers entstand dann das nächste Tape. Und nach und nach fragten mehr Freunde und bekannte Bands, ob ich nicht Lust hätte, ihre Aufnahmen zu veröffentlichen. Das lief dann nebenbei, aber 2018 habe ich mir gesagt: Ich mache das jetzt mal in Vollzeit“, erzählt Velvet und lacht, wenn er an die ersten Monate zurückdenkt. „Ganz häufig kam der Gedanke: Scheiße was mach ich hier eigentlich?“
Die ersten Jahre verbrachte Velvet viel Zeit damit, in seiner Altonaer Wohnung Kassetten von Hand zu überspielen, die Hüllen auszudrucken, zu falzen und einzulegen. Wie zu seligen Punkrock-Zeiten: Leidensfähigkeit und Handarbeit. Eine Abseite im Wohnzimmer war das Vertriebslager. Mittlerweile ist La Pochette Surprise professioneller geworden, Vinyl hat die Kassetten ersetzt („CDs mag ich nicht, ich bin mit Hörspielkassetten groß geworden.“). Und natürlich erscheinen alle Veröffentlichungen auch digital auf den Streaming-Portalen: „Weil man so auch über Stadt- und Ländergrenzen hinauskommt.“
Boomender Vintage-Gedanke
Dennoch ist der seit Jahren boomende Vintage-Gedanke das Markenzeichen von La Pochette Surprise. Velvets Vater nahm ihn 2004 mit zum Konzert der Jon Spencer Blues Explosion in die Fabrik und 2005 zu Hot Hot Heat ins Molotow. „Eigentlich war mein erstes Konzert
Sasha mit meiner Mutter, aber das zählt nicht“, sagt Velvet und grinst. „Seit dem Molotow-Abend wollte ich auch Musiker werden.“
Er wurde es, spielt jetzt Gitarre bei Sick Hyenas und Swutscher und zelebriert das goldene Zeitalter analoger Musik. Surfpop, Rock ’n’ Roll, Psychedelic, Garagenkrach, Postpunk. Das ist auch das Soundumfeld, in dem sich die 30 Bands in Velvets Portfolio bewegen. Die meisten kommen aus Hamburg und dem Umland, aber mit My Friend Peter ist auch eine aus Graz dabei. „Wichtig ist für mich, dass ich mit den Bands auf der persönlichen Ebene gut klarkomme und dass sie einen eigenen Sound haben. Wer klingen möchte wie diese oder jene andere Band langweilt mich.“
Reich wird man nicht
Aber Bands, die ihn nicht langweilen, gibt es genug. „Dieses Jahr und nächstes Jahr mache ich den Deckel zu, was neue Bands angeht und nehme keine weiteren unter Vertrag. Sonst wird es echt zu viel“, sagt Velvet. Marius Lauterbach (Live-Techniker von Swutscher) ist Velvets rechte Hand in Sachen Lager, Vertrieb, Grafik, und Konzerttechnik. Teresa Köberle (Gitarristin bei Melting Palms) hat als Grafikerin das visuelle Image des Labels geprägt und ist beim Vertrieb für die Vinyl-Produktion zuständig. In der eng vernetzten Hamburger Szene lässt sich immer auf gute Kontakte, Freundinnen und Freunde zurückgreifen, um viel aus schmalen Budgets zu machen.
Reich wird man natürlich nicht bei den 500er-Auflagen von Alben wie „Transmissions From The Upper Room“ von Hawel/McPhail. Aber Velvet, der auch ein kleines Proberaumstudio in Hamm anbietet und „nebenbei“ Bands produziert, kommt immer irgendwie über die Runden. Derzeit arbeitet er viel mit Papier: Anträge auf Labelförderung der Stadt und Corona-Hilfen für seine Bands. „Und wenn mal ganz böse Flaute herrscht, ist da ja noch die Bundesagentur für Arbeit, das sichert meinen Grundbedarf.“
Grundrauschen der Musikstadt
La Pochette Surprise und die Bands gehören für Velvet „zum Grundrauschen einer Musikstadt. Die Arbeit, die wir machen, mag unsichtbar sein. Aber so werden Knotenpunkte verknüpft zwischen Künstlerinnen und Künstlern, Clubs, Verlagen und Live-Crews. Hamburg ist reich an fantastischen Musikerinnen und Musikern, und ich möchte unbedingt, dass sie gehört werden.“ Daher organisiert er am 17. und 31. Juli, sowie am 14. August den Corona-Bedingungen angepasste Eintagesfestivals mit jeweils fünf Bands im Wilhelmsburger Inselpark.
Zum Hamburger Kultursommer gehört dann auch: Velvets Underground.
La Pochette Surprise Records im Netz: www.lapochettesurprise.de