Hamburg. Bei den Hamburger Privattheatertagen war eine Hölderlin-Collage vom Theater Lindenhof aus Melchingen auf der Schwäbischen Alb zu sehen.
Eine Konzeptionsprobe. Oder ein literaturwissenschaftliches Kolloquium an der Uni Tübingen. Oder eine Vorstandssitzung des schwäbischen Mittelständlers Hölderlin GmbH. Jedenfalls: Drei Männer und eine Frau sitzen beisammen und haken Tagesordnungspunkte ab. „Vorlage, Punkt vier: Entfremdung.“ Bisschen trocken. Bisschen lustig, wie so etwas mit mild allemannischem Zungenschlag angesagt wird.
Das Theater Lindenhof aus dem Albdorf Melchingen zeigt bei den Privattheatertagen seine Hölderlin-Collage „Darum wandle wehrlos fort durchs Leben, und fürchte nichts!“, eine theatrale Annäherung an den schwäbischen Dichter, der voriges Jahr seinen 250. Geburtstag gefeiert hätte. Gespielt wird freilich nicht in einem Theatergebäude, sondern im Altonaer Museum, im Galionsfigurensaal – das passt, weil gegen Ende des knapp zweistündigen Abends der Text zum Meer wird, die Albhöhen zu Wellenbergen und der Tisch, um den die Schauspieler ihre Sitzung abhalten (Bühne: Beni König und Jaqueline Weiss), zum Floß, über das man in ein Reich der Fantasie schippert.
Das Vorwärtsdrängende und Revolutionäre schlägt durch
Aber Vorsicht: Zu viel literarisches Pathos ist auch nicht gut. „Ein bisschen mehr Mensch und weniger Funktion“, wird an einer Stelle gefordert, aber Philipp Beckers freundlich-ironische Inszenierung weiß diese Forderung gleich wieder einzufangen: als Kalenderspruch, den das nüchterne Hamburg ja wohl von den pietistischen Schwaben erwarten dürfe.
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Im Grunde arbeitet Regisseur Becker ganz ähnlich wie Christoph Marthaler, dessen Hölderlin-Abend „Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten“ aktuell am Schauspielhaus zu sehen ist: Er montiert Zitate des Dichters zusammen und erhält so die Charakterisierung eines Sonderlings und Einzelgängers. Bei Marthaler aber war das Bild geprägt von traurigem Humor, hier schlägt hingegen das Vorwärtsdrängende, Revolutionäre immer wieder durch, das Hölderlin (bei aller Weltabgewandtheit) eben auch hatte.
Senior lässt sich in Hamburg mitreißen
„Wir brauchen frisches, junges, geiles Blut!“, ruft Schauspieler Franz Xaver Ott einmal aus, und dass ein älterer Herr im Publikum an dieser Stelle instinktiv die linke Faust hochreißt, zeigt, was für ein umstürzlerisches Potenzial in diesem Stück liegt.
Das freilich nicht ausgeführt wird. Einzig Susanne Hinkelbein am Monochord und Sergej Riazanov am Akkordeon dürfen ein paar schräge Töne beisteuern, dann sinkt das Stück wieder in die sanfte Melancholie der Sitzungsordnung. Höchstens mal ein Fluch kommt noch durch, aber auch der wird sofort sanktioniert. „Ich werd’ doch wohl noch Scheißdreck sagen dürfen!“, wutbürgert Bernhard Hurm, aber Martin Olbertz unterbricht ihn: „Language!“ Ein Euro ins Schimpfwortschwein.