Hamburg/San Francisco. Schriftstellerin Annette Mingels lebt in den USA. Ein Gespräch über ihr Faible für Kleinstädte und das Schreiben in einem Schrank.
Vor zweieinhalb Jahren zog die Schriftstellerin Annette Mingels mit Mann und drei Kindern von Hamburg nach Kalifornien. Dort, in einem unkonventionellen Schreibzimmer nicht weit entfernt von der Golden Gate Bridge, entstand auch ihr aktueller Roman: „Dieses entsetzliche Glück“ ist ein meisterhafter Figurenreigen, der einen zeitlosen Blick auf amerikanisches Kleinstadtleben wirft. Im Interview spricht die Autorin über die Anwendbarkeit eines „amerikanischen Tonfalls“ auf Pinneberg, ihren versöhnlichsten Roman – und über die aufgeheizte Stimmung in ihrer Wahlheimat.
Sie sind von Hamburg nach San Francisco gezogen, weil Ihr Mann dort als Korrespondent für den „Spiegel“ arbeitet. Ist es bei Ihnen so, wie man es einer Schriftstellerin unterstellen würde: Können Sie im Grunde überall arbeiten?
Annette Mingels: Ja, eigentlich schon. Ich bin nicht anspruchsvoll, was meinen Arbeitsplatz angeht. Wir wohnen hier in einem schönen, 120 Jahre alten Holzhaus – und ich sitze gerade in einem Kleiderschrank.
In einem Kleiderschrank?!
Annette Mingels: Ja, mit drei Kindern braucht man so viele Räume, da war kein Zimmer für mein Büro übrig. Die amerikanischen Häuser haben aber begehbare Kleiderschränke, dieser hat sogar ein Fenster. Das reicht mir. Wo genau mein Computer steht, ist egal, das muss nicht malerisch sein.
Worauf gucken Sie denn, wenn Sie aus dem Kleiderschrank-Fenster schauen?
Annette Mingels: Ich gebe zu, das ist dann eigentlich doch sehr schön: auf eine alte Magnolie. Und auf eine Veranda. Und aus einem anderen Fenster im Haus könnte ich auch ein winziges Stück vom Meer sehen. Das ist schon ziemlich gut. Da kann man auch mal im Kleiderschrank sitzen.
Wie sieht Ihr Alltag in Kalifornien aus?
Annette Mingels: Wir wohnen in Sausalito, also direkt hinter der Golden Gate Bridge. Wir sind schon oft „drüben“ in San Francisco, aber durch die Schule der Kinder sind wir eher in unser beschaulicheres Marin County ausgerichtet. Wir haben hier, zum Beispiel im Vergleich zu Los Angeles, relativ niedrige Corona-Zahlen. Von März an hatten wir dennoch einen krassen Lockdown, bis September waren die Kinder komplett zu Hause. Sechs Monate am Stück. Ich hatte das Glück, dass mein Buch schon fertig war und beim Verlag lag. Dadurch konnte ich die Kinder unterrichten, während mein Mann hier als Journalist plötzlich noch mehr zu tun hatte als sonst. Danach hat die Schule die kalifornischen Temperaturen genutzt und den Unterricht nach draußen verlegt, inzwischen ist mein Alltag darum eigentlich wie vorher: Während die Kinder in der Schule sind, habe ich etwa fünf Stunden zum Schreiben.
Sind Sie in Kalifornien Teil eines Literaturbetriebs oder einer Ex-Pat-Community?
Annette Mingels: Ich bin gar nicht gern Teil von einer Literaturszene, das war schon in Hamburg so und in Zürich, wo wir auch eine Zeit lang gelebt haben. Ich bin vielleicht nicht so szenetauglich? Ich sehne mich jedenfalls nicht danach. Meine Texte liest mein Agent, meine Lektorin oder dann und wann mein Mann – wenn wir darüber nicht in Streit geraten, was leider öfters passiert... (lacht)
„Dieses entsetzliche Glück“ ist im Herbstprogramm erschienen, also mitten in der Pandemie. Wie ist es, in dieser Zeit einen Roman herauszubringen?
Annette Mingels: Dass keine Lesereise stattfinden konnte, fand ich schon schade. Aber wenn ich nach Deutschland geflogen wäre, was geplant war, hätte ich womöglich nicht mehr in die USA einreisen dürfen – so musste ich zum Beispiel meinen Abend im Hamburger Literaturhaus schweren Herzens absagen. Und es gab ein, zwei Reaktionen auf mein Buch, die bemängelt haben, dass ja gar nichts über Corona drin steht. Da war ich verblüfft, was die Leute sich vorstellen, wie schnell ein Roman entsteht. Natürlich hinterlässt so eine Zeit Spuren. Vielleicht schlägt sich das also im nächsten Buch nieder. Vielleicht nicht. Aber eine Analyse Amerikas will ich auch mit diesem Roman nicht liefern, auch wenn Politik - oder eher: Gesellschaft - natürlich die Geschichten beeinflusst.
Sie porträtieren amerikanisches Kleinstadtleben anhand verschiedener Protagonisten, die nicht unglücklich sind, aber doch auf die eine oder andere Art an der Glückssuche scheitern...
Annette Mingels: Ich finde, es ist eigentlich mein wärmstes Buch, mein versöhnlichstes. Fast jede der Figuren hat ja ein gewisses Glücksempfinden – es ist nur immer ein Glück, das sich seiner eigenen Vergänglichkeit sehr bewusst ist. Die Menschen in diesen Short Stories haben universelle Probleme, die überall auf der Welt passieren können.
Und doch haben Sie sich für einen Ort irgendwo in Virginia entschieden. Es wäre nicht das gleiche, würde man es nach Pinneberg oder Delmenhorst transferieren, oder?
Annette Mingels: Ich habe ja viele amerikanische Freunde, an denen die Figuren orientiert sind, und auch Familie in Amerika. Und wenn ich mir deren Herausforderungen im Leben so anschaue, dann sind die doch ziemlich ähnlich zu meinen, ob ich Deutsche bin oder nicht. Außerdem mag ich amerikanische Kleinstädte; ich habe hier immer in solchen gelebt und finde sie schon sehr symptomatisch für Amerika. Es wird versucht, in diesen Kleinstädten so eine Art heile Welt zu erschaffen, schon rein architektonisch. Man kopiert den Stil der vergangenen Jahrhunderte, mit den Holzhäusern, den schmiedeeisernen Laternen samt überquellenden Blumenkörben, den kleinen Geschäften und spielzeughaften Feuerwehrautos. In einer relativ schnelllebigen Gesellschaft schafft man damit eine Art Heimatgefühl. Mir gefällt das – auch wenn diese Orte bei näherem Hinsehen durchaus etwas Fassadenhaftes, Brüchiges an sich haben.
Sie haben eben den Begriff „Short Stories“ benutzt - das trifft die Erzählform Ihres Episodenromans sehr gut. Nicht nur Figuren und Schauplatz sind amerikanisch, sondern auch die Art wie Sie erzählen, oder?
Annette Mingels: Das habe ich schon öfter gehört. Ich habe tatsächlich schon immer gern amerikanische oder kanadische Autorinnen und Autoren gelesen, das ist mein Referenzrahmen: Alice Munro, Margaret Atwood, Richard Ford ... Ob dieselbe Erzählweise noch amerikanisch wirken würde, wenn das Buch in einem deutschen Ort spielen würde? Keine Ahnung. Müsste ich mal ausprobieren, vielleicht ja mit Blankenese. Da wohnten wir, bevor wir in die USA zogen. Mondän, wie es von Blankenese manchmal behauptet wird, fand ich es da überhaupt nicht, es hatte vielmehr einen dörflichen Touch, den ich sehr gern mochte.
Sie haben schon vor Ihrer Hamburger Zeit zeitweise in den USA gelebt und sind jetzt unter Trump nach Kalifornien gezogen. Hat das Ihre Liebe zum Land beeinflusst?
Annette Mingels: Es war tatsächlich ziemlich anders, in den USA zu leben, als Obama Präsident war - er war eine Vorbildfigur mit seiner Klugheit und Integrität. Den Riss durch die Gesellschaft, von dem heute alle sprechen, gab es aber damals natürlich auch schon. Man kann das ganz gut ausblenden, wenn man von Ähnlichdenkenden umgeben ist – aber schon eine Fahrt in die nächste Kleinstadt, ganz zu schweigen vom Landesinneren, präsentiert dann ein ganz anderes Amerika. Was ich damals im Gegensatz zu heute nicht erlebte, ist, dass der Riss durch Familien geht: ich kenne allein zwei Familien, in denen Eltern und erwachsene Kinder nicht mehr miteinander sprechen.
Vor wenigen Tagen erst haben wir entsetzt den Sturm auf das Kapitol verfolgt – wie haben Sie das erlebt?
Annette Mingels: In gewisser Weise hatte jeder damit gerechnet, dass etwas passieren würde: ein vom Präsidenten höchstselbst angestiftetes Chaos, ein Überkochen der aufgeheizten Stimmung. Die Menschen hier sind im Innersten getroffen, angesichts der manipulativen Macht, die ein offensichtlich unzurechnungsfähiger Präsident auszuüben vermag hinsichtlich Ethik, Moral und Vernunft. Und jeder weiß: Wenn der Mob aus Afroamerikanern bestanden hätte, hätte die Polizei ganz anders durchgegriffen.