Hamburg. Der Konzertmanager über millionenschwere Defizite und die Notwendigkeit, auf neue musikalische Formate und Inhalte zu setzen.
Er spielte Barockgeige, war Manager und Dramaturg der Akademie für Alte Musik Berlin und Mitgründer vom Radialsystem Berlin. Doch seit vielen Jahren ist Folkert Uhde Multitasker: Er leitet mehrere Festivals, darunter die Köthener Bachfesttage, und bemüht sich als Konzertdesigner um zeitgemäße Anpassungen dieses Kultur-Formats.
In Hamburg realisierte er 2016 ein Konzert vom Ensemble Resonanz in der Kunsthalle, bei dem er Barockes mit Minimal Music und Video-Installationen der Außenwelt verband. Corona hat viele Krisenthemen seiner Branche existenzvernichtend verschärft. Uhde hat ein Umdenken verlangt und einen „New Deal“ für den Klassik-Betrieb gefordert.
Hamburger Abendblatt: Zunächst einmal: Warum braucht es Konzertdesigner, warum auch noch Licht, Raum und Action? Ist die Musik per se nicht genug?
Folkert Uhde: Die an sich ist großartig, doch es geht mir darum, einen optimalen Resonanzraum zu erzeugen, weil unsere Wahrnehmung aus allen Sinnen besteht. Es ist sehr interessant, wie unterschiedlich Musik je nach Kontext wirken kann, mit welchen Vorerfahrungen und Erwartungen sie gehört wird. Wir versuchen hier in Köthen auch, viel früher als bei der Veranstaltung selbst anzufangen. Es ist ein Prozess der Entwicklung. Beim Design geht es ja nicht darum, dass am Ende nur jemand die Oberfläche poliert.
Aus Ihrer Erfahrung heraus: Ist das handelsübliche Konzertformat noch zeitgemäß oder gehört es als gutbürgerliches Erbstück aus dem 19. Jahrhundert kategorisch abgeschafft?
Uhde: Nein. Es braucht eine größere Diversifizierung. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der allergrößte Teil der Menschheit sich nicht für diese Konzerte interessiert. Man muss sich ansehen: Wo kommt diese Konzertform her, und warum hat sich nichts geändert? Im Laufe des 19. Jahrhunderts schrumpfte der Anteil frisch komponierter Musik von 80 auf 20 Prozent, später wurde es noch viel übersichtlicher, und der Eindruck des Musealen wuchs. Der ganze Betrieb ist auf Tempel ausgelegt, auf das Bewundern der Kunst.
Was muss ein Konzert zum Erlebnis machen, wie verleiht man ihm Relevanz, jenseits von: schöner Abend, ich treffe den Apotheker von gegenüber und alle anderen Abonnenten sind auch da?
Uhde: Dagegen ist gar nichts einzuwenden. Aber sollten wir nicht darüber reden, was Musik ist, die künstlerischen Anspruch hat, sollten wir unsere Begrifflichkeit von klassischer Musik nicht etwas erweitern? Ein Konzertabend muss im Innersten berühren und mich auf mich selbst zurückwerfen. Das ist für mich das Gegenteil von Unterhaltung, wo es darum geht, sich maximal ablenken zu lassen. Man kann zeitgenössische Musik natürlich integrieren, ohne dass die Leute Zahnschmerzen bekommen und weglaufen möchten.
Diejenigen Häuser oder Orchester, die sich Experimente (auch finanziell) leisten könnten und müssten, machen es eher nicht, weil sie schon zu schwerfällig und eingefahren sind – die Kleineren, deren Fall das viel eher ist, können es sich nicht leisten, wegen der roten Zahlen. Wie kommt man da wieder raus?
Uhde: Was ich gerade beobachte, ist verheerend: Die meisten Veranstalter machen sich Sorgen, ob das Publikum zurückkommt. Die Antwort beim Angebot ist ganz offensichtlich noch mehr von dem, was wir immer schon gehört haben: noch mehr Speckseite, noch mehr „Vier Jahreszeiten“, noch weniger Experiment. Noch populärer oder gar populistischer, aus lauter Angst, dass sonst gar nichts mehr passiert. Die Relevanz-Diskussion der letzten Monate wird nicht mehr verschwinden, und ich glaube nicht, dass wir uns mit mehr Vivaldi und Mozart relevanter machen.
Mozart ist aber nicht das Schlechteste. Was ist daran falsch, zu liefern, was viele Menschen gern hören wollen?
Uhde: Das muss und soll man auch machen. Aber wenn unserer Musikwelt nichts anderes als das einfällt – warum macht sie das dann eigentlich? Dann sind wir beim Thema Unterhaltung.
Ist es ein positiver Corona-Effekt, dass die Notwendigkeit des Neuerfindens das Bessere ins System zwingt?
Uhde: Ich wünsche mir das sehr. Dass es wieder mehr um Kunst geht. Die große Enttäuschung darüber, dass wir für viele wohl nicht so wichtig sind, führt hoffentlich zu einem Umdenken. Aber ich bin pessimistisch.
Elbphilharmonie-Chef Christoph Lieben-Seutter geht davon aus, „dass Konzerte nach Corona so aussehen werden wie vor der Pandemie“. Richtig? Und: Okay so?
Uhde: Das sind mehrere problematische Aussagen. Erstens: Nach Corona? Gibt’s das überhaupt? Einfach Neustart, wo wir aufgehört haben? Das wage ich zu bezweifeln. Zweitens: Die Elbphilharmonie hat wahnsinnig viel Publikum, ist wahnsinnig erfolgreich, nicht nur mit klassischer Musik. Drittens ist das der teuerste Workaround der Kulturgeschichte.
Soll heißen?
Uhde: Was überhaupt an Investitionen notwendig war, das Ding in die Welt zu bekommen. Noch nie gab es im Kulturbereich eine so teure, weltweite Marketingkampagne für ein Gebäude. Und es ist trotzdem ein subventioniertes Geschäft. Ob dieses Modell einfach weiter funktioniert, weil die Elbphilharmonie auch extrem von Städtetouristen abhängig ist? Selbst hier in Sachsen-Anhalt standen Tafeln vorm Reisebüro: Kurztrip nach Hamburg, mit Elbphilharmonie-Ticket. Und auch dort ist nicht jeder Abend gefüllt mit der allertiefsten Musik der Weltgeschichte.
Hamburg ist für Sie aber ein sehr spezieller Fall und nicht vergleichbar mit der Situation im Rest der Kulturnation Deutschland, oder?
Uhde: Überhaupt nicht. Aber man kann sich nicht hinstellen und sagen: Bei uns läuft alles super, und das pars pro toto nehmen. Das ist nicht der Fall.
Wenn nun zu Klassik-Konzerten weder die Jüngeren aus Desinteresse noch die Älteren aus Vorsicht zurückkehren, ist man von beiden Seiten gekniffen.
Uhde: Genau. Die Jungen sind aber auch vorher nicht da gewesen. Ein Grund, der sehr häufig genannt wird: Das hat nichts mit mir zu tun. Sie sind aber total ansprechbar für Neue Musik oder Ausstellungen: Das ist von jetzt, das kann etwas mit meinem Leben zu tun haben. Da muss man ansetzen: dass sich mehr Menschen gemeint fühlen. Dass sie sich dann auch wohl fühlen.
Was würden Sie für dem Spezialfall Hamburg plus Elbphilharmonie als helfendes Gegenmittel verschreiben?
Uhde: Das ist nicht mein Job. Aber mich hat, ehrlich gesagt, die Selbstverständlichkeit bestürzt, mit der das alles postuliert wird. Es ist für alle schwer, viele haben aufgegeben, das ist eine so existenzielle Krise – und dann, in einem Nebensatz, ein Defizit von rund zwölf Millionen Euro zu erwähnen und zu sagen, wir sind ja gedeckt, das zahlt alles die Stadt … Als Haltung finde ich das erstaunlich. „Die Stadt“ sind ja alle Hamburger, die das aus Steuermitteln bezahlen. Da würde ich mir schon etwas mehr Bescheidenheit, Dankbarkeit und Selbstreflexion wünschen und nicht die selbstverständliche Annahme, dass die Allgemeinheit dafür aufkommt.
Viele derjenigen, die jetzt mutige Treiber für Veränderung sein könnten, stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand oder fahren inzwischen Taxi. Und die Dickschiffe der Branche werfen irgendwann den Motor wieder an und steuern in den Stamm-Hafen. Was muss die Kulturpolitik jetzt anders machen?
Uhde: Völlig jenseits der Formate sind die großen Institutionen jetzt in großer Verantwortung – das muss auch eingefordert werden – gegenüber denen, die überhaupt nicht abgesichert sind. Wie kann man mit der Freien Szene verzahnen, helfen, unterstützen? Und: Wie können wir die anderen künstlerischen Lebensformen gemeinsam absichern? Das ist ja nicht mit dem getan, was bei uns die Künstlersozialkasse übernimmt.
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Fällt das gern verwendete Etikett „Kulturnation Deutschland“ in dieser Situation sichtbar ab?
Uhde: Das haben wir in guten Zeiten gern vor uns hergetragen, als heiliges Banner. Ich bin fern davon, Museen stürmen zu wollen. Aber nur Museum und nur Traditionspflege, das kann’s nicht sein. Dann sind wir irgendwann auch keine Kulturnation mehr.
Ein Hoffnungs-Argument: Es könnte ein Remake der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts geben, eine kreative Explosion, wie damals nach dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe, und dann ging die Post ab. Glauben Sie, dass das Sinn macht und stimmt?
Uhde: Das ist das gleiche zynische Argument und schräge Bild wie die Behauptung, Künstler müssten nur arm genug sein, dann werden sie ordentlich kreativ.